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Der Text unserer Natur Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

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Academic year: 2022

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ROMANICA

MONACENSIA

Der Text

unserer Natur

Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

von

Florian Mehltretter

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Der Text unserer Natur

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ROMANICA MONACENSIA

herausgegeben von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Wolf-Dieter Stempel und Rainer Warning

Band 77 · 2009

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Florian Mehltretter

Der Text unserer Natur

Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Gunter Narr Verlag Tübingen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de>

abrufbar.

Gedruckt mit Unterstützung des Departments II – Griechische und Lateinische, Romanische, Italienische und Slavische Philologie, Sprachen und Kommunikation der Ludwig-Maximilians-Universität München.

© 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verla- ges unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier.

Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0178-1294 ISBN 978-3-8233-6479-5

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„Wen sollte nicht verlangen zu wissen, auf welchem

Pfeiler und Grundveste der Gewißheit diese Lehre […] beruhe;

ob auf einer bis diese Stunde esoterisch zu erweisenden Überlieferung, oder auf dem Glauben an eine für einzig wahr gehaltene Erklärung der Mosaischen Archäologie; oder weil man sich überzeugt fühlt, der Text unserer Natur fodere diesen ebenso treffenden als

ausschließend nothwendigen hermeneutischen Schlüssel zur ganzen Fülle und Wahrheit seines ursprünglichen Sinns.“

Johann Friedrich Kleuker, Magikon (1784), S. 317

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Vorbemerkung

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner romanistischen Habilitationsschrift, die 2003 von der philosophischen Fakultät der Univer- sität zu Köln angenommen wurde.

Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Andreas Kablitz, Köln, der die Ar- beit angeregt und kritisch begleitet hat. Die Gutachten von Prof. Dr. Wolf- ram Nitsch, Köln, und Prof. Dr. Rainer Zaiser, Kiel, waren bei der Pointie- rung offener Probleme hilfreich. Für guten Rat bei mancher philosophi- scher und theologischer Frage danke ich Dr. Florian Mayr, München. Ohne die kundige Beratung durch die Bibliothekare der Bibliothèque Nationale de France wären mir einige der hier behandelten Texte nicht zugänglich gewesen. Auch ihnen gilt mein Dank.

Die Überarbeitung dieser Schrift profitierte in besonderem Maße von dem anregenden Diskussionsumfeld im Münchener Sonderforschungsbe- reich 573 „Pluralisierung und Autorität“. Dass sie in dieser Form erschei- nen konnte, ist nicht zuletzt meinem Münchener Lehrer Prof. Dr. Gerhard Regn zu danken, sowie den übrigen Herausgebern der Romanica Monacen- sia, denen ich für ihre Bereitschaft dankbar bin, die Studie in ihre Reihe aufzunehmen.

Für ihre große Hilfe in allen formalen und technischen Belangen bin ich Catharina Busjan, M.A. mult. sehr verpflichtet; außerdem danke ich Frau Christina Esser vom Verlag Narr· Francke· Attempto für das aufmerksame Lektorat.

München, im Juli 2008 F.M.

(8)

Vorbemerkung ... 6

EINLEITUNG ...13

1. Lumières und Illuminismus...13

2. Interessen und Fragen ... 14

2.1. Das Interesse an der Epoche ... 14

2.1.1. Annäherungen an Foucaults Diskurs-Archäologie ... 16

2.1.2. Foucaults Polemik gegen die Geisteswissenschaften ... 20

2.1.3. Fragen an Foucault... 24

2.2. Das Interesse am Einzeltext ... 33

2.2.1. Die Archäologie und der Einzeltext ... 34

2.2.2. Sprechende Überreste ... 36

3. Aufklärung und Illuminismus: Die Gesprächspartner und ihr Gespräch ... 38

3.1. Erster Umriss der beiden Parteien im Spiegel der Forschung ... 38

3.1.1. Der Zeitrahmen und die darin betrachteten Teilnehmergruppen ... 38

3.1.2. Esoterik und Illuminismus als Diskurse ... 41

3.2. Die Interaktion zwischen Aufklärern und Illuministen 56 3.2.1. Die Polemik um den Philosophenbegriff ... 56

3.2.2. Ausschlussversuche: Polemik und Parodie ... 63

3.2.3. Saint-Martins Teilnahme an der Diskussion seiner Zeit 66 3.2.4. Diderot und die Theosophen... 69

4. Zum Aufbau der Untersuchung... 71

ERSTER TEIL:DER ILLUMINISMUS INNERHALB EINES SYNCHRONISCHEN EPOCHENBILDES... 73

Kapitel I: Tableaux. Die Rede des Menschen als Repräsentation 75 1. Das Repräsentationsmodell des Zeichens... 75

1.1. Das Repräsentationsmodell und das ‘klassische’ Wissen nach Foucault ... 79

1.1.1. Varianten und Konsequenz von Foucaults Repräsentationsbegriff ... 80

1.1.2. Die Ordnungswissenschaft und die Marginalisierung der Ähnlichkeit ... 90

1.1.3. Die Dimensionen des sprachlichen Zeichens im Repräsentationsmodell ... 95

1.1.4. Die vier Sprachfunktionen und die vier Formen der Sprachkritik ...100

(9)

1.1.5. Foucaults Modell als Strukturhypothese für den

Dialog von Aufklärung und Illuminismus ...102

1.2. Idee und Repräsentation in Saint-Martins Crocodile...103

1.3. Die Klassifikation der Geister: Martinistische Pneumatologie ...109

2. Die Dimension der Linearität...112

2.1. Sprache als Analyse und Genese ...113

2.1.1. Der Satz als Analyse der Wahrnehmung ...113

2.1.2. Ideenketten: Die nominalistische Tendenz der Schule Condillacs ...120

2.1.3. Die Liaison als Universalprinzip von Topik und Analytik ...125

2.1.4. Condillacs algebraischer Nominalismus und seine illuministischen Gegenentwürfe...128

2.2. Das Analyse-Genese-Modell als Denkfigur der ‘Klassik’...154

2.2.1. Genese von Begriffssystemen und Metaphysik-Kritik.155 2.2.2. Sprachgeschichte als Genese ...157

2.2.3. Linearität und Universalität ...185

2.3. Das Narrative als ausgegrenztes Anderes der Genese.193 2.3.1. Der Roman der Metaphysik und die idéologie als Erzählform...195

2.3.2. Der Roman der Erdgeschichte...197

2.3.3. Erzählung als Reduktion und Reduktion von Erzählungen: Die Archäologie der Mythen ...208

2.4. Der Mythos als Gegenentwurf zur Genese: Martines de Pasqually ...235

2.4.1. Der Traité sur la réintégration als Midrasch und Erzählung ...236

2.4.2. Emanation und Fall der Geistwesen ...239

2.4.3. Diabolus und mythische Theodizee ...242

2.4.4. Die Erschaffung des Kosmos und des Menschen ...245

2.4.5. Der beinahe gerechtfertigte Teufel: Cazotte und Montfaucon de Villars ...249

2.4.6. Adams Fall in die Materie...253

2.4.7. Reintegration...260

2.5. Die Emanzipation der Geschichte von der Genese...262

2.5.1. Condillac, Rousseau und die philosophes...263

2.5.2. Das Ringen um die Freiheit der Geschichtssubjekte bei Martines de Pasqually ...271

2.5.3. Das Böse als Modus der Selbstzerstörung bei Fournié und Saint-Martin ...289

(10)

2.5.4. Die Revolution und die Freiheit des Erkennens in

Saint-Martins Crocodile...290

3. Die Dimension der Referenz...300

3.1. Sensualismus und Gewissheit...301

3.1.1. Condillacs Lehre vom Urteil...301

3.1.2. Die messianische Natur...314

3.1.3. Erkenntnismechanismus und Willensenergie bei Condillac ...323

3.1.4. Die Antworten der idéologues und ihr Verhältnis zu illuministischen Positionen...327

3.2. Schleier, Täuschungen und lumière astrale im Illuminismus ...335

3.3. Energie, Wille und Erkenntnis: inquiétude...343

3.3.1. Inquiétude und die Fortüne des Pascalschen Augustinismus...345

3.3.2. Die Gegendarstellung der philosophes...349

3.3.3. Inquiétude außerhalb des Horizonts christlicher Apologetik...350

3.3.4. L’Homme de désir...353

4. Zusammenfassung I...357

Kapitel II: Ruinen. Die Rede Gottes als Repräsentation...361

1. Die illuministische Pansemiotik und das Repräsentationsmodell...361

2. Mikrokosmos und Makrokosmos...364

3. Der Mensch als Interpretant der Natur...367

3.1. „Expliquer les choses par l’homme“ ...367

3.2. ‘Der schönste Buchstabe Gottes’ ...368

3.3. Das Christusereignis als Wiederherstellung eines Zeichenbezugs ...370

3.4. Der Mensch als Blaupause der Kreaturen bei Robinet...372

3.5. Die Ruinen der Welt und ihr menschlicher Schlüssel ..375

3.5.1. Cœuilhe: vanitas und Naturgeschichte...375

3.5.2. Volney: Die Befreiung von den Ruinen ...378

4. Die Natur als Interpretant des Menschen...384

4.1. Delisle de Sales und die Illuministen ...385

4.2. Das Pathos des Sublimen: Senancours Naturmeditationen ...386

(11)

5. Mensch und Welt als einander deutende Ruinen:

Les nuits élyséennes von Jean Antoine Gleizes...393

5.1. Esoterische Naturreligion ...395

5.2. Der Lebensweg als erzieherische Ruinenlektüre...401

6. Zusammenfassung II...416

ZWEITER TEIL:DER ILLUMINISMUS ALS STRANG EINER DIACHRONIE...419

Kapitel III: Leben. Die Sprache Gottes als Energie...421

1. Organisation und Energie...421

1.1. Das Hervortreten des Energiebegriffs...426

1.1.1. Tradition ...427

1.1.2. Die Entfesselung der Energie im Zeitalter der lumières...428

1.2. Ein ‘Herold der Energie’: Diderot...430

2. Wege zur Energie im strategischen Geschehen der Diskurse...435

2.1. Zielsetzungen...435

2.1.1. Aufwertung der Sinnlichkeit und Anticartesianismus 435 2.1.2. Der Gott der Fernwirkung ...437

2.2. Regionaldiskurse der Energie ...437

2.2.1. Rückführung der newtonschen Physik auf die Hermetik im Magnetismus ...438

2.2.2. Eine Brücke zwischen Taxonomie und Energie: Die Kette der Wesen ...451

3. Der herabfließende Logos bei Saint-Martin und Martines de Pasqually...474

3.1. Die martinistische Schöpfungslehre...474

3.1.1. Emanation und Geistschöpfung ...475

3.1.2. Verdichtung der Geistschöpfung: Die Sekundär ursachen und die ungefallene Welt...479

3.1.3. Der Kosmos oberhalb und unterhalb der Zentralfeuerachse ...482

3.1.4. Essenzen ...489

3.1.5. Formen ...491

3.1.6. Martinistische Naturphilosophie und Alchemie...492

3.1.7. Reintegration der Schöpfung...494

3.1.8. Verdichtung der Materie: Fall ...495

3.2. Saint-Martin: Die materielle Welt als Wunde ...497

4. Zusammenfassung III...502

(12)

Kapitel IV: Logos. Die Sprache des Menschen als Energie...505

1. Der Widerspruch zwischen Pansemiotik und Panenergetik bei Saint-Martin...505

1.1. Wiederaufnahme der Analyse der Zeichentheorie Saint- Martins ...505

1.1.1. Logos und Gottesnamen ...507

1.1.2. Adam, Sophia und die Spiegel...510

1.1.3. Edenische Sprache...515

1.1.4. Die irdische Sprache ...518

1.2. Das Gefängnis aus Zeichen und der Fluss des Logos...522

2. Der Wechsel des Hintergrundmythos von Martines zu Böhme...524

2.1. Böhmes Genesis-Mythos ...524

2.2. Der Mensch als sensorium Dei und Gottes Saitenspiel bei Böhme ...530

3. Die Sprache und die Sendung des Geistmenschen beim späten Saint-Martin...536

3.1. Der Mensch als Spiegel...537

3.1.1. Der Spiegel der Sophia und der ‘Spiegel der Natur’ ....537

3.1.2. Das Urteil als Begehren ...545

3.1.3. Spiegel und Archiv ...552

3.2. „Phanor, poème sur la poésie“: Der Dichter als Erlöser ...555

3.2.1. Saint-Martin, Chateaubriand und die christliche Poesie ...557

3.2.2. Poetik der Kühnheit und das Sublime ...559

3.2.3. Kreative Imagination? ...565

3.2.4. Die Dichtung als Auflösung der Sprache ...568

4. Zusammenfassung IV...572

SCHLUSS...574

BIBLIOGRAPHIE...579

Texte 1700-1804 (Entstehungsdaten)...579

Texte vor 1700...585

Texte nach 1804...587

(13)
(14)

E

INLEITUNG

1. Lumières und Illuminismus

Das siècle des lumières ist, wie Roland Mortier bemerkt, das erste Jahrhun- dert, das sich selbst als spezifisches Zeitalter definiert hat.1 In dieser Selbst- stilisierung spielt die Opposition von lumières und ténèbres ebenso eine Rolle wie die Betonung eines bestimmten Lichts gegenüber anderen – des lumen naturale nämlich, also jener Vernunft, die dem Menschen zur Er- kenntnis der Naturdinge gegeben ist, im Gegensatz zum Licht der Religi- on.2 Diese beiden Abgrenzungen suggerieren zudem als dritte mitschwin- gende Aussage eine Äquivalenz zwischen den beiden abgewerteten Ter- mini, dem übernatürlichen Licht der Offenbarung und jener Finsternis, von der sich die eigene lumière abhebt. Und so erscheinen just jene, die sich selbst als Erleuchtete verstehen, in der Optik der lumières als Kinder der Finsternis. In Frankreich sind dies nicht nur die Apologeten des Katholi- zismus, sondern auch die illuminés oder Illuministen, die im eingebürger- ten Sprachgebrauch ebenfalls das Licht in ihrer Bezeichnung führen (und die wir3 zunächst einmal lose als ‘Esoteriker’ fassen wollen). Sie gehen trotz ihrer Berufung auf solches Licht in den negativen Term jener Opposition von ‘Aufklärung versus Obskurantismus’ ein, die im Selbstverständnis der Aufklärung eine fundierende Rolle spielt.

Diese Opposition zwischen ‘aufklärerischem Denken’ und ‘illuministi- scher Esoterik’ (Begriffe, die wir noch klären müssen) zu hinterfragen und dabei die durch den Obskurantismus-Vorwurf verdunkelten Texte der Illuministen zu erhellen, ist das doppelte Ziel dieser Arbeit. Unser Interesse

1 Mortier 1969, S. 13. Vgl. zu dieser Konstellation auch Amadou 1989, S. 9.

2 Wir folgen hier der Untersuchung Mortiers über „‘Lumière’ et ‘lumières’. Histoire d’une idée“ in: Mortier 1969. Das seit Patristik und Scholastik begegnende lumen na- turale wird vor allem von Descartes aufgewertet. Pierre Bayle folgert aus seiner zeitli- chen Vorordnung vor der Schriftoffenbarung, dass auch die Bibel nichts enthalten könne, was der natürlichen Vernunft widerspreche. Mit Condorcet und vor allem mit der Encyclopédie ist der Anspruch, die eigene Vernunftform konstituiere ein Zeitalter des Lichts, vollends integrierender Bestandteil aufklärerischen Selbstverständnisses geworden (Mortier 1969, S. 16-29).

3 Das hier verwendete Wir begreift sich nicht als majestätisches, sondern als dialogi- sches und führt insofern einen unausgesprochenen Appell an den Leser zum Nach- vollzug mit. Dagegen wird in Beispielargumentationen gelegentlich ein hypotheti- sches allgemeines Ich auftreten, sowie (bei der Nachzeichnung anthropologischer Gedankengänge) ein anthropologisches Wir. Die Leserin wird diese Verwendungen anhand des Kontexts leicht zu unterscheiden wissen.

(15)

zielt damit sowohl auf ein Allgemeines, auf eine generelle Aussage über etwas, das wir zunächst unpräzise ein ‘Zeitalter’ nennen wollen, als auch auf ein Besonderes, auf eine partikuläre Nutzbarmachung von einzelnen Texten. Beiden Interessen dient eine Erschließung der literarischen Ver- nünftigkeit, der Strukturiertheit von Texten und Textgruppen. Die vorlie- gende Arbeit will diese Strukturen literaturwissenschaftlich herausarbei- ten, nicht die Thesen der Texte philosophisch würdigen oder gar über- prüfen. Die beiden genannten Interessensaspekte bezüglich des epochalen Allgemeinen und des Textbesonderen sind aufeinander bezogen: Der ein- zelne Text erhält seine Kontur erst vor einem allgemeinen Hintergrund;

und der Gesamtkontext kann nur durch Erschließung möglichst vieler seiner einzelnen Bestandteile (die außerdem noch per se ein je besonderes Interesse verdienen) konstruiert werden.

Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst klingen mag, und bedarf der Präzision, die wir in zwei Schritten durchführen werden: Zu- nächst soll unser allgemeines Interesse näher ausgeführt und um eine zu seiner Verfolgung geeignete Strategie ergänzt werden. Dann soll die Per- spektive auf den einzelnen Text und deren Berechtigung diskutiert wer- den. Nach dieser Klärung von Blickrichtung und Vorgehen müssen ab- schließend die beiden Gegenstände, um deren Verhältnis es uns hier geht, in ersten Umrissen im Lichte bisheriger Forschung identifizierbar gemacht werden.

2. Interessen und Fragen

2.1. Das Interesse an der Epoche

Wir haben gesehen, dass sich schon in den Bezeichnungen, unter denen ein Großteil des Schrifttums des achtzehnten Jahrhunderts verhandelt wird, eine Opposition zwischen zwei Anprüchen auf Helligkeit, wenn man so will: von Vernunft, artikuliert, aus der sich die Fragestellung unserer Un- tersuchung entwickeln lässt. Der im Gattungshorizont der vorliegenden Arbeit als einer wissenschaftlichen implizite Erschließungsstandpunkt tendiert jedoch zu einer bestimmten Gewichtung der beiden in Rede ste- henden Vernunftformen: Man ist versucht, diejenige von ihnen, die wir (zunächst ohne genauere Definition) in einem ersten Vorgriff als ‘aufkläre- risch’ bezeichnet haben, als die eigene, die andere als die fremde anzuse- hen, und sitzt damit auch schon der oben angesprochenen Selbststilisie- rung eines Teils der hier behandelten Schriftsteller auf. Sieht man sich in diesem Sinne als Erbe des ‘Siegerdiskurses’, so muss das Verhältnis zwi- schen ‘Aufklärern’ und ‘Illuministen’ als dasjenige zwischen dem Eigenen und dem Fremden erscheinen. Antoine Faivre hat beklagt, dass im deut- schen Sprachraum (im Unterschied zu Frankreich und den angelsächsi-

(16)

schen Ländern) der Esoterik im zwanzigsten Jahrhundert im Gegensatz zu früheren Zeiten insgesamt wenig Aufmerksamkeit galt, wohl um zu allem vermeintlich Irrationalen auf Distanz zu gehen.4 Diese Nichtachtung (die gleichwohl nicht so ausgeprägt ist, wie Faivre behauptet5), mag mit dieser Situation zusammenhängen.

Will man dem entkommen, so muss man also eine Betrachtungsweise wählen, die die zu hinterfragende Opposition allenfalls instrumentell (etwa zur Erhellung von gattungs- und traditionsbedingten Implikaten von Tex- ten), nicht aber ontologisch gelten lässt. Dies führt zu zwei Strategien: Die Opposition zwischen Aufklärung und Esoterik muss zum einen abgetragen werden, indem nach Gemeinsamkeiten zwischen beiden Reden gesucht wird. Zum anderen müssen die beiden Diskurse als gleichermaßen fremde und gemäß ihrem jeweiligen Anspruch auch gleichermaßen (aber nicht unbedingt: in gleicher Weise) vernünftige betrachtet werden. Dies hätte den zusätzlichen Vorteil, dass man das Eigene in dieser Perspektive als Frem- des distanzierend neu bewerten könnte und damit mit Hilfe eines histori- schen Umweges ein Stück in Richtung auf eine „kritische Hermeneutik“

gehen könnte, welche den eigenen Standpunkt an einem anderen dialo- gisch überprüfte. Hans Herbert Kögler hat in abwägendem Durchgang durch die Entwürfe von Fremdverstehen solch verschiedener Autoren wie Gadamer, Foucault, Habermas und Rorty eine solche Hinterfragung des eigenen Horizonts geradezu an das Starkmachen des anderen Standpunk- tes gebunden; denn aufgrund der Unhintergehbarkeit der eigenen sprach- lichen Welterschließung ist eine erprobende Aneignung im Dialog er- schließbarer fremder Vernünftigkeit der einzige Weg, eine andere als die eigene Perspektive auf sich selbst überhaupt zu erlangen.6

So weit kann und will freilich die vorliegende Arbeit als eine literatur- wissenschaftliche nicht vorstoßen. Gelänge es ihr jedoch, die aufklärerische Vernunft in die Ferne der Fremdheit zu rücken und zugleich die illumi- nistische zu stärken, so könnte sie eine der möglichen Vorarbeiten zu ei- nem solchen Projekt darstellen.

Die zwei damit avisierten Strategien, nämlich erstens die Erschließung eines gemeinsamen Hintergrundes für die beiden Glieder der zu untersu- chenden Opposition und zweitens der Entwurf des achtzehnten Jahrhun- derts als eines fremden Zeitalters (durch historische Distanzierung aufklä- rerischer Rationalität bei gleichzeitiger Stärkung illuministischer Geltungs- ansprüche), erfordern eine Konstruktion ‘epochenspezifischen’ Denkens,

4 Faivre 1986, S. 8

5 Es sei schon hier stellvertretend auf die großen Arbeiten von Jonas (die ursprüngliche Fassung seines Gnosis-Buches entstand noch in Deutschland), Peuckert, Benz, Frick und (zeitlich nach Faivres Äußerung:) die vorzügliche Untersuchung zu Böhme von Bonheim, sowie die umfassende und grundlegende Darstellung der Philosophia peren- nis von Schmidt-Biggemann verwiesen.

6 Dies ist in groben Zügen die Argumentation von Kögler 1991.

(17)

welche die Möglichkeit schafft, einerseits scheinbar Konträres in einem gemeinsamen Rahmen von genügender Allgemeinheit erscheinen zu las- sen, und andererseits diesen Rahmen so zu entwerfen, dass er das histo- risch Ferne konturiert zu definieren vermag. Beides ist in den Sechzigerjah- ren des zwanzigsten Jahrhunderts von Michel Foucault mit großer Wir- kung unternommen worden: Er hat mit seinen epistemologischen Analy- sen allgemeine Formationen den scheinbaren Oppositionen an der Oberfläche der Äußerungen vorgeordnet und sie doch so spezifisch ge- fasst, dass die untersuchten Epochen sich dadurch scharf von einander und vor allem von der Gegenwart abheben. Es liegt daher nahe, sich einiger der Errungenschaften Foucaults zu bedienen, und zwar sowohl was seine Me- thode als auch was sein Ergebnis, seine historischen Thesen also, angeht.

Zu diesem Zweck soll im folgenden Kapitel Foucaults Ansatz kurz umris- sen und seine Anwendbarkeit auf unser Vorhaben – nicht ohne eine ge- bührende Würdigung der Unterschiede in Ausrichtung und Hintergrün- den – diskutiert werden. Zugleich werden sich aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung auch einige Fragen an Foucault ergeben.

2.1.1. Annäherungen an Foucaults Diskurs-Archäologie

Nicht so sehr aufgrund ihrer Bekanntheit (und – ausgerechnet, wie wir se- hen werden – in den ‘Geisteswissenschaften’ beinahe unhinterfragten Be- liebtheit) soll also Foucaults Diskurs-Archäologie hier Verwendung finden, sondern weil sie die zwei Bedingungen, die wir oben für eine unserem Vorhaben dienliche Methodik gestellt haben, genau erfüllt.

Um Foucaults Entwurf würdigen zu können, muss allerdings zunächst klargestellt werden, dass seine Zielrichtung weniger auf die Alterität des Geschichtlichen als auf die Historisierung des Gegenwärtigen geht. Seine Geschichtsschreibung schließt an die Vorstellung einer Genealogie im Sin- ne Nietzsches an: Sie will das scheinbar fraglos Vorhandene als historisch Gewordenes darstellen und damit alle scheinbaren Selbstverständlichkei- ten, die aus diesem Gewordenen abgeleitet zu werden pflegen, in emanzi- patorischer Absicht hinterfragen. Dabei schreibt Foucault jedoch nicht wie Nietzsche eine Genealogie der Meinungen und Positionen selbst, sondern eine Archäologie der Grundformen von Wissen, der Macht- und Vorent- wurfs-Spiele, in denen sich solche Positionen überhaupt erst artikulieren.

Kennzeichnend für diese Zielrichtung ist Foucaults polemischer Gebrauch des Begriffs der ‘Positivität’ (hierin begegnet er sich mit der Kritischen Theorie):

(18)

[…] sur le fond de quel a priori historique et dans l’élément de quelle positivité des idées ont pu apparaître […]7

Die wahre Positivität besteht darin, dass es ‘positives’ Wissen nicht voraus- setzungslos gibt, sondern dass es sich immer in einer diskursiven Form bildet und zeigt. Was als ‘Positivität’ erkennbar ist, wird so von einem jeweils epochen- und kulturspezifischen Sprachspiel vorgegeben, dessen Möglichkeiten und dessen blinde Flecken dem jeweiligen Individuum seine diskursiven Spielräume allererst eröffnen und diese zugleich begren- zen. Damit ist nicht gesagt, dass sich das Unerhörte nicht denken lässt, sondern nur dass dieses, wenn es formal außerhalb des herrschenden Spie- les liegt, schwerer zu denken und fast unmöglich zu verstehen ist, dass es überwiegend als Randdiskurs, Poesie oder Wahnsinn auftritt. Die ‘Macht’, die für Foucault kein homogener Block, sondern eine komplexe Konfigura- tion verschieden gerichteter Vektoren von Interessen und Einflussnahmen ist, bestimmt unter anderem diese Form des Wissens als Positivität: Positi- vität zum einen, weil eben die Möglichkeiten positiv vorgegeben sind – nicht nur in der kruden Negativität von Ausschluss und Zensur, in welcher Macht immer sofort erkennbar ist; zum anderen, weil das ‘Positive’, also das scheinbar sich unmittelbar der Erkenntnis und Formulierung Anbie- tende, in Wahrheit Produkt eines immer schon ablaufenden Spiels, einer spezifischen Praxis ist, die die wahre Positivität darstellt. Insbesondere sich zwangsläufig aus dem herrschenden Spiel ergebende scheinbar ahistorisch gültige Annahmen, die dazu führen, dass bestimmte Lebensführungsopti- onen gegen mögliche Alternativen verabsolutiert werden, kann Foucault so als Effekte einer freizulegenden kontingenten und zeitgebundenen Struk- tur decouvrieren. Das ethische Interesse Foucaults, das sich hierin zeigt, liegt als persönliche Entscheidung seiner ‘Archäologie’ voraus; es motiviert als selbst nicht begründete Ausgangsposition sein historisches und philo- sophisches Interesse.8

Foucaults Interesse gilt also den Regelstrukturen hinter diskursiven Einzelereignissen. Diese Formationen, die die einzelnen Spielzüge ermögli- chen, sind nun in verschiedene Ebenen zu gliedern. Das einzelne énoncé9

7 Foucault 1966, S. 13. Zur ZITIERWEISE ist generell anzumerken: Wir geben jedes Zitat in der Schreibung der verwendeten Quelle wieder. Da wir über weite Strecken oft zwischen Quellen springen müssen, sind die Quellenangaben zur Entlastung des Haupttextes grundsätzlich in die Fußnoten verlegt, und auch dort erscheinen sie nur in der (auf die Bibliographie im Anhang verweisenden) Kombination von Autor und Jahreszahl. Diese gibt, wo möglich und sinnvoll, das Jahr der Erstpublikation oder Abfassung an, sonst das Erscheinungsjahr der tatsächlich verwendeten Ausgabe, ist also in erster Linie ein Ordnungsmerkmal, das jedoch oft auch eine historische Orien- tierung leisten kann.

8 Vgl. auch Frank 1983, S. 237f.

9 Der Begriff des énoncé ist bei Foucault äußerst unscharf. Er liegt irgendwo zwischen einer Proposition (oder gar einer propositionalen Einstellung) und einem konkreten

(19)

gehört für Foucault zunächst einem Diskurs an; in unserem Interessenge- biet wären die Allgemeine Grammatik und die Naturgeschichte solche historischen Diskurse.

Die entscheidenden Regeln und Vorgaben, die verschiedenen histori- schen Diskursen gemeinsam sein können und von denen alle anderen Re- geln abhängen, bestimmen eine für eine ‘Epoche’ gültige épistémè,10 die man als eine allgemeine Form der Hervorbringung von Diskursen bezeich- nen kann, mit ihren spielkonstitutiven ontologischen Annahmen und den spezifischen Praxen der Produktion, Rezeption und Bewertung von Aussa- gen.11

Das Interessante hieran für die Beschreibung der Austäusche zwischen Diskursen, denen konträre ontologische Annahmen zu Grunde liegen (wie ja bei ‘aufklärerischer’ vs. ‘esoterischer’ Rede zu vermuten steht), ist nun die Tatsache, dass Foucault offenbar zwischen ontologischen Annahmen allgemeiner Art und solchen, die für eine épistémè konstitutiv sind, unter- scheidet, denn er leugnet, dass die „énoncés recteurs“, die alles andere bestimmen, im Sinne von Axiomen zu verstehen sind.12 Deshalb können in Les mots et les choses ohne besondere Unterscheidung im Rahmen des ‘klas- sischen'13 Repräsentationsmodells etwa Autoren, die von der Existenz einer Außenwelt ausgehen (wie Condillac und Destutt de Tracy) neben solchen auftreten, die diese in Frage stellen (Malebranche und Berkeley). Offen- sichtlich gehört diese (vom normalen philosophiegeschichtlichen Stand- punkt aus betrachtet: erste) Grundentscheidung gerade nicht zu den kon- stitutiven ontologischen Grundannahmen des Repräsentationsmodells im Sinne Foucaults. Es ist klar, dass ein solches Modell unsere erste Forde-

parole-Akt. Wir wollen ihn als eine Aussage verstehen, die irgendwo an der Textober- fläche erscheinen muss (und also wörtlich zitierbar, nicht nur rekonstruierbar, ist), zugleich jedoch Teil einer zwischen langue und parole liegenden propositionalen Tie- fenstruktur ist. Das heißt: nicht jede Äußerung innerhalb eines Diskurses ist eine sol- che Aussage, sondern nur diejenigen, deren häufige Wiederkehr und gewisse Allge- meinheit sie als Bestandteil einer Grundstruktur ausweisen.

10 Wir bevorzugen eine zitierende Wiedergabe der französischen Schreibweise, um Foucaults Begriff von klassisch-antiken und neuzeitlich-deutschen (idealistischen u.ä.) Fassungen des Episteme-Begriffs abzuheben.

11 Wir werden gleich noch sehen, dass Foucault mit der Einführung des Archivbegriffs von dem der épistémè auch schon wieder Abschied nimmt. Wir werden ihn jedoch beibehalten und auf eine je spezifische Grundstruktur eines historischen Archivs be- ziehen, deren Erfassung Foucault weiterhin zumindest als Möglichkeit in Betracht zu ziehen scheint.

12 Foucault 1969, S. 192-193

13 Der Begriff klassisch wird in dieser Studie als reines Zitat der Begrifflichkeit Foucaults verstanden. Mit seiner Verwendung soll keineswegs ein Beitrag zum Umgang mit

„dem (aporetischen) Spannungsverhältnis zwischen Normativität und Historizität von Klassiken“ (Voßkamp 1993, S. 5) geleistet werden – klassisch ist für uns vielmehr ein bloßer Name für einen Großteil des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts

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rung, die nach der Möglichkeit, etwa einen Geisterseher und einen Ratio- nalisten in einem gemeinsamen Spiel zu zeigen, erfüllen kann. Deren un- vereinbare Grundannahmen erscheinen in ihm als gegensätzliche Spielzü- ge in einem gleichwohl übergeordneten Spiel. Illuministen und Aufklärer, katholische Apologeten und Deisten müssen nicht schon aufgrund der Blickrichtung des Interpreten als quasi in verschiedenen Epochen lebend dargestellt werden – wenn auch so etwas als Ergebnis immer möglich bleibt.

Wir können nun unsere diesbezügliche Fragestellung folgendermaßen präzisieren: Sind énoncés ‘illuministischer’ und ‘aufklärerischer’ Diskurs- teilnehmer gegensätzliche Züge innerhalb eines jeweils einzigen diskursi- ven Spiels (wie etwa der Allgemeinen Grammatik)? Oder gehören sie even- tuell je spezifischen Diskursen an? – Es ist ja denkbar, dass es spezifisch aufklärerische Regionaldiskurse gibt (etwa den Metadiskurs über die Auf- klärung selbst, dem die anfangs referierte Selbststilisierung der lumières entstammt), und wir müssen davon ausgehen, dass es auch einen spezi- fisch illuministischen Diskurs gibt (dessen wichtigste Praxis, die Deutung aller vorfindlichen Phänomene auf den Hintergrund eines ‘Falls’ hin, zwei- fellos weder in der ‘Naturgeschichte’ noch in der ‘Allgemeinen Gramma- tik’ noch in der ‘Analyse der Reichtümer’ einen Platz haben kann). In die- sem Fall wäre zu fragen, wie sich diese Regionaldiskurse zu einer mögli- cherweise übergeordneten épistémè verhalten, sowie, ob sie sich in interes- santer Weise mit allgemeinen Diskursen kreuzen: Kann eine Äußerung über die Sprache nach dem Sündenfall sich am Kreuzungspunkt zwischen einem illuministischen Regionaldiskurs und der Allgemeinen Grammatik situieren – und ergeben sich dort eventuell Interaktionen?

Was nun die zweite unserer oben erhobenen Forderungen betrifft, die- jenige nach der distanzierenden Vorführung der aufklärerischen Vernunft, so wird sie schon dadurch erfüllt, dass die je historische Denkform, wie klar geworden sein dürfte, bei Foucault in besonders scharfer Kontur er- scheint und dadurch von der eigenen streng abgesetzt ist. Die berühmte Einleitung zu Les mots et les choses entwickelt den dort verfolgten Ansatz aus einer Konfrontation mit dem unerreichbar fremden Denken einer fikti- onalen ‘chinesischen’ Klassifikation; in L’archéologie du savoir leuchtet die Vorstellung einer Begegnung mit dem Archiv einer Epoche als Fremder- fahrung auch theoretisch kurz auf.14 Darüber hinaus wirkt aber auch der Stil Foucaults hieran mit. Wolfgang Welsch hat Foucaults Schreiben eine Dialektik von „Präzision und Suggestion“15 bescheinigt. In beiden Aspek- ten wirkt etwas, das wir hier als einen ‘poetischen’ Umgang mit philoso- phischer Sprache bezeichnen wollen. Wie jeder Foucault-Leser zu seinem Leidwesen erfahren muss, versucht Foucault, in seiner Sprache das Fremde

14 Foucault 1969, S. 172

15 Dies ist Titel und These von Welsch 1991.

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als Fremdes einzuholen und zugleich zu distanzieren. Dazu bedient er sich einer (im Vergleich etwa zum Vokabular der analytischen oder pragmati- schen Philosophie) ‘poetischen’ und gelegentlich auch obskuren Formulie- rungskunst. Wir werden am Beispiel des Repräsentationsbegriffs sehen, wie er sein Vokabular eng an dem der analysierten Texte selbst ausrichtet, deren Horizont jedoch zugleich in einer Art poetischem Verfahren ab- und überschreitet. Seine Sprache zeigt also das Innen und das Außen der Gren- zen und Konturen jener Formen, die er in den Blick nimmt. Er versucht, das Fremde zu denken, poetisch einzuholen und zugleich zu verfremden.

Damit wäre skizziert, was uns an Foucaults Modell nützen kann. Es enthält jedoch auch Widerstände gegen eine allzu einfache Dienstbarma- chung, die sich teils an Foucaults Polemik gegen die Ideengeschichte und ganz allgemein die Geisteswissenschaften dingfest machen lassen.

2.1.2. Foucaults Polemik gegen die Geisteswissenschaften

Foucault will sein Projekt scharf von dem der Ideengeschichte geschieden wissen, und zwar nicht nur, um seinen Innovationsanspruch aufrechterhal- ten zu können, sondern vor allem, weil er die Geisteswissenschaften allge- mein in eine seiner Ansicht nach überwundene Subjektphilosophie ver- strickt sieht. Überhaupt verdanken sich die Geisteswissenschaften in seiner Optik einer Art Geschichtsunfall, einer in sich problematischen épistémè, die sich an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert ergeben hat und von der er hofft, dass sie bald ganz verschwunden sein wird. Dies können wir hier nicht weiter verfolgen. Stattdessen müssen wir die konkreten Vorwür- fe Foucaults an die Ideengeschichte kurz beleuchten, da sie methodologi- sche Konsequenzen haben.

Die Figur der Verdoppelung, die nach Foucault seit Kant in der Vorstel- lung eines sich „gleichzeitig als Subjekt und Objekt, zugleich als Vorstel- lendes und Vorgestelltes“ setzenden selbstreflexiven Subjekts liegt, führt für Foucault, wie Habermas pointiert zusammenfasst, zu der Aporie, „daß sich das erkennende Subjekt aus den Trümmern der Metaphysik erhebt, um im Bewußtsein seiner endlichen Kräfte eine Aufgabe zu lösen, die un- endliche Kraft erfordert.“16 Das Hin und her zwischen den beiden Bestand- teilen seiner Doppelgestalt und der Versuch, daraus auszubrechen, „macht sich dann als der unbändige Wille zum Wissen und zu immer mehr Wissen bemerkbar.“17 Dies bringt nach Foucault die Ideengeschichte zu dem Ver- such ständiger Kohärenzstiftung, die die Alterität und Brüchigkeit fremder Diskurse und Perioden übertüncht und damit auch die Wissensform, der die Subjektphilosophie selbst angehört, monologisch und ahistorisch abso- lut setzt.

16 Habermas 1985, S. 306

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Dies ist einer der umstrittensten Punkte18 sowohl in Foucaults theoreti- scher Grundlegung seiner Herangehensweise als auch in der Geschichtsdi- agnose, die daraus erwächst (und auch wieder zu ihr führt – in dieser Doppelung spiegelt sich quasi ironisch die Aporie, um die es hier geht).

Uns interessiert daran hauptsächlich die Kritik an der Kohärenzstiftung durch Interpretation und den Aufweis von Kausalitäten, Einflüssen und Widersprüchen.19 Zu Foucaults Zurückweisung der Interpretation sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass Interpretation seiner Ansicht nach eine unnötige Verdoppelung des Textes auf der Suche nach einem verborgenen, aber illusorischen Sinn ist; wir werden darauf weiter unten noch näher eingehen. Kausalitäten und Einflüsse oder ähnliche Vorstellungen von Informationstransfer sind für seine Archäologie uninteressant, weil sie die Einebnung von Brüchen, die die von der Einheit des Subjekts her entwor- fene Interpretation leistet, in die diachronische Ebene der Historie fortsetzt.

Selbst noch der Aufweis von Widersprüchen etwa in einer Motivtradition macht nach Foucault als in der Tiefe liegendes Organisationsprinzip die Diskontinuität der Oberfläche wieder zur Kontinuität.

Um aber mit seiner Vorstellung einer epochenspezifischen épistémè nicht selbst als Kohärenzen stiftender Geisteswissenschaftler zu erscheinen, gibt Foucault in L’archéologie du savoir diesen Begriff preis. Die Gesamtheit der énoncés einer Epoche bildet in der Begrifflichkeit der Archéologie du savoir nun ein Archiv, also etwas, das nicht mehr so leicht als tief liegende Geisteshaltung interpretierbar ist. Foucault bezieht in einem Wortspiel auch seinen Begriff der ‘Archäologie’ auf diese Vorstellung eines Archivs:

Die archéologie ist demnach der Logos vom Archiv. Charakteristisch ist jedoch, dass dieses Archiv nicht als bloße Kumulation von Aussagen aufge- fasst wird, sondern gewissermaßen als Institution. Nicht einfach die Ge- samtheit der Notizen bestimmt die Hintergrundbildlichkeit des ‘Archivs’, sondern mindestens ebenso die Form, Größe und Verteilung der Karteikar- ten, Kästen und Ordner, die Gestalt des Raumes, die Regeln des Archivie- rens: „l’archive, c’est d’abord la loi de ce qui peut être dit“, das Archiv definiert ein System von „énonciabilité“ und „fonctionnement“ auf der Ebene zwischen dem Corpus der Texte und Reden und dem Code der langue; es ist die „pratique qui fait surgir une multiplicité d’énoncés comme autant d’événements réguliers“, es ist „le système de la formation et de la transformation des énoncés.“20 Unser eigenes Archiv, das auch unsere Be- schreibung eines fremden Archivs ermöglicht und bestimmt, können wir nie ganz explizieren, da wir nicht außerhalb desselben sprechen können.

Dennoch ist seine möglichst vollkommene kritische Freilegung der (durch den Umweg über ein historisch fernes Archiv erleichterte) utopische Hori-

18 Vgl. hierzu vor allem die kritische Lektüre von Frank 1983, S. 174ff.

19 Vgl. Foucault 1969, S. 196-197 und S. 211

20 Foucault 1969, S. 170-171

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zont der Archäologie Foucaults,21 – und wir können schon hier sagen, dass die Diskursarchäologie (ohne dass Foucault selbst sie eigentlich so konzi- piert hätte) gerade durch diese Möglichkeit eine Reflexion auf das Eigene im Durchgang durch das Fremde begünstigt.

An die Stelle einer möglicherweise kohärenzstiftenden Erzählung vom Umgang mit tief liegenden Widersprüchen will Foucault nun eine Vorstel- lung von Alternativen innerhalb einer Archivstruktur setzen, die er offen- bar nicht als Phänomen der Tiefe gedeutet wissen will. Er unterscheidet hier drei logische Möglichkeiten:

Zunächst gibt es die Widersprüche, die nur „au seul plan des propositi- ons ou des assertions“ als Spielzüge in einem übergeordneten Spiel er- scheinen, „sans affecter en rien le régime énonciatif qui les a rendues pos- sibles […] ces sont des contradictions qui sont archéologiquement dérivées, et qui constituent un état terminal.“22 Diesen Fall haben wir oben schon anhand von Berkeley und Condillac angedeutet; seine Erfassung ist eine der attraktivsten Möglichkeiten von Foucaults Modell. Das, was oben als nicht diskurskonstitutive ontologische Grundannahme angesehen wurde, kehrt hier also als Oberflächenwiderspruch zwischen einzelnen Äußerun- gen und Gruppen von Äußerungen wieder. Man beachte übrigens, wie die Rede vom „plan des propositions“ (die in unserer Interpretation soeben zur Begrifflichkeit der Oberfläche führte) Foucaults Vorhaben, die Vorstel- lung von Tiefe aus seiner Konzeption herauszuhalten, vereitelt: Auch die Archäologie hat es mit Tiefenstrukturen und ihren Produktionen zu tun, denn plans sind nun einmal gestaffelte Ebenen.

Das andere Extrem sind Widersprüche zwischen Aussagen, die ver- schiedenen Diskursen angehören; sie „enjambent les limites d’une forma- tion discursive, et elles opposent des thèses qui ne relèvent pas des mêmes conditions d’énonciation […] ce sont là des contradictions extrinsèques qui renvoient à l’opposition entre des formations discursives distinctes.“23 Eine Aussage innerhalb einer darwinistischen Biologie mag einer solchen inner- halb einer klassifikatorischen Naturgeschichte im Sinne Linnés widerspre- chen, aber das liegt eben daran, dass sie von verschiedenen Regelsystemen hervorgebracht werden und als einzelne Aussagen daher kaum vergleich- bar sind.

Dazwischen gibt es einen besonders interessanten dritten Fall, den nämlich eines intrinsischen Widerspruchs innerhalb einer diskursiven For- mation, der jedoch mehr als ein Oberflächenphänomen ist. Er führt zur Ausbildung von Subsystemen, die wiederum auf die archäologische

21 Vgl. Foucault 1969, S. 171-173.

22 Foucault 1969, S. 200. Hervorhebung original. Da in dieser Untersuchung keine vom Vf. hinzugefügten Hervorhebungen in Originalzitaten vorkommen, werden wir dies künftig nicht mehr vermerken.

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Grundstruktur bezogen werden können. Hier muss man differenzierende Oppositionen (die lediglich unproblematische neue Subsysteme herausbil- den) von kritischen Oppositionen unterscheiden, die die Form in Frage stellen, in der sie auftreten. Dies werden wir im zweiten Teil dieser Arbeit, insbesondere in Kapitel III, aufgreifen.

Man sieht an diesen Formulierungen – oder doch zumindest in dem in- terpretierenden Referat, das wir davon gaben –, dass sich die Beschreibung von Widersprüchen und Differenzierungen im Sinne von Foucaults Ar- chäologie durchaus auch für die Erfassung von Wandel eignet. Nur die möglichen Gründe für solchen Wandel will Foucault nicht entwerfen, und daher tritt dieser bei ihm auch immer als Bruch, als Diskontinuität auf.

Dabei ist klar, dass die Analyse sich immer auf die Form diskursiver Praxis zwischen zwei solchen Brüchen konzentrieren muss, da ja die Brü- che als solche nur aufgewiesen, aber nicht durch Kausalerzählungen plau- sibel gemacht werden können. Foucaults Untersuchung ist deshalb haupt- sächlich eine synchronische, die in ihrer formalen Beschreibung von dis- kursiven Praxen dem Vorgehen der synchronischen Sprachwissenschaft nahe steht. Damit ist sie natürlich doch wieder an einer Form von Kontinu- ität interessiert, denn eine synchronische Systembeschreibung, die zeitlich auseinanderliegende énoncés als Fälle derselben Praxis ausweisen will, muss die Gültigkeit dieses Systems mindestens über den die herangezoge- nen Fälle trennenden Zeitraum behaupten. Aber auch hier ist eine Qualifi- kation anzubringen. Nicht nur, dass Foucault solche Kontinuitäten zu- nächst nicht (und auch bei übergreifenden Beschreibungen, wie in Les mots et les choses, nur im Ergebnis) als Totalitäten im Sinne einer Kultur- oder Mentalitätsgeschichte verstehen will, er will überhaupt jede „synchronie massive“ unter Verdacht stellen: Diskurse können sich auch historisch überlappen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist ebenso möglich wie das unvermittelte Nebeneinanderlaufen von nicht widersprüchlichen, aber auch nicht vergleichbaren Diskursen.24 Alle (insbesondere kausalen) Figuren der Verbindung des Disparaten machen Geschichte nach Foucault dem Sinnentwurf des Subjekts gefügig und verkennen dabei die Diskonti- nuitäten und Brüche, die die Archäologie im Gegenzug privilegieren will.

In diesem Zusammenhang denunziert Foucault auch die Artikulation der Diskurse in die Reden von Autoren, ja sogar in Bücher, als unzulässige Kohärenzstiftungen.

Die Abwertung von Kausalerzählungen, von Beschreibungen von In- formationstransfers, der Konzepte des Buchs und des Autors und vor al- lem von Interpretation sind also die wesentlichen Widerstände, die Fou- caults Ansatz seiner Dienstbarmachung für eine Literaturgeschichtsschrei- bung traditionelleren Zuschnitts entgegensetzt. Wir müssen uns daher überlegen, wie wir damit umgehen wollen (und das heißt auch: in wel-

24 Foucault 1969, S. 194

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chem Maße diese Untersuchung im Rahmen solch traditioneller Ge- schichtsschreibung verbleiben darf), und werden in diesem Zusammen- hang unsererseits einige Fragen an Foucault stellen.

2.1.3. Fragen an Foucault

Die vorliegende Arbeit wird mit Methoden der Interpretation arbeiten (und hat dies schon bis zu diesem Punkt getan), sie wird Plausibilitäten des Informationstransfers etwa im Sinne von ‘Traditionen’ und Intertextualität abwägen (wenn auch in geringerem Maße), sie nennt und behandelt Buch- titel und Autoren und sie hat ein Interesse an Kausalverknüpfungen.

Um mit der Intertextualität anzufangen: Sie ist keineswegs ein anekdo- tischer Aspekt von Autorbiographien oder ein Mittel zur harmonisieren- den Konstruktion von Kontinuitäten, sondern sie ist ein Aspekt der Refe- rentialität von Texten: Texte beziehen sich auf andere Texte oder auf Grup- pen von solchen, oft auch auf tradierte Diskurse (ohne dass sie ihnen selbst angehören müssen).

Gegenüber dem bei Foucault mit solchen Interessen assoziierten stän- digen ‘Subjekt-Verdacht’ ist anzumerken, dass erzählerische oder semanti- sche bzw. logische Bezüge einfach nützliche Werkzeuge zur Anfertigung einer plausiblen Geschichte sind, manchmal vielleicht sogar nur mnemo- technische Hilfen, benutzerfreundliche Etikettierungen (etwa Autorenna- men), manchmal Strukturierungen, die althergebrachte Anordnungen ablösen und neue, zustimmungsfähige Orientierungen vorschlagen kön- nen. Diese Strategien müssen nicht auf ein monologisches Subjekt bezogen sein, sondern sie können im Rahmen einer ‘kommunikativen Vernunft’

etwa im Sinne von Habermas25 verwendet werden. Die widersprüchliche Position des ebenso innerweltlich-empirischen wie transzendentalen Ich entfällt in einer solchen Vorstellung von interaktivem Verständigungshan- deln, denn in ihr „steht das Ego in einer interpersonalen Beziehung, die es ihm erlaubt, sich aus der Perspektive von Alter auf sich als Teilnehmer an einer Interaktion zu beziehen,“26 statt sich immer nur monologisch selbstre- flexiv hinterfragen zu müssen. Seine Entwürfe von möglichen Kontinuitä- ten und Zusammenhängen sind so Vorschläge, auf die man sich verständi- gen kann oder nicht, und deren Zustimmungsfähigkeit von ihrer Ver- wendbarkeit abhängt – und also durchaus von den Interessen der Kom- munikationsteilnehmer.

Einen anderen Anspruch kann Foucault auch für seine Archäologie nicht erheben. Die Interessensverflechtung, der Missbrauch, der mit sol- chen Entwürfen getrieben werden kann, bleibt bei allen Verfahren der gleiche (und kann im Gespräch als Interessensverflechtung thematisiert, als

25 Vgl. Habermas 1985, S. 344ff.

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Missbrauch erwiesen werden). Denn auch die archäologische Methode ist nicht genügend formalisiert, um sich als nicht interpretative Wissenschaft von den Geisteswissenschaften absetzen und so die Möglichkeit einer Dienstbarmachung ihrer Erzählungen für ein festlegendes oder reaktionä- res Interesse von vornherein auszuschließen. Foucault gelingt es nämlich nicht (und kann es nicht gelingen), eine „hermeneutische Außenperspekti- ve“ (Kögler27) zu definieren, die unsere erste Frage positiv zu beantworten vermöchte:

a) Ist Archäologie ohne Hermeneutik möglich?

Foucault rühmt seine Archäologie gegenüber einer im Paradigma der In- terpretation und Hermeneutik verfangenen Ideengeschichte:

Elle ne traite pas le discours comme document, comme signe d’autre chose, comme élément qui devrait être transparent mais dont il faut souvent traverser l’opacité importune pour rejoindre enfin, là où elle est tenue en réserve, la pro- fondeur de l’essentiel […] ce n’est pas une discipline interprétative: elle ne cher- che pas un „autre discours“ mieux caché. Elle se refuse à être „allégorique“.28 Würde Foucault tatsächlich nur so etwas wie die Anordnung von Schrift- zeichen auf Dokumenten beschreiben und dabei etwa Rekurrenzen und Rhythmen erfassen, so wäre diese Distanzierung plausibel. So bald es aber auch nur darum geht, einen Satz und seine Inversion als äquivalent zu setzen (von einer Aussage über den Inhalt des Satzes noch gar nicht zu reden), hat bereits Interpretation stattgefunden. Angesichts von Foucaults Praxis in Les mots et les choses, Sätze, ja sogar zusammenfassend referierte Positionen als Beispiele für eine bestimmte Anschauung von der Sprache, vom Zeichen oder vom Urteil anzuführen, muss der Versuch, das Element der Interpretation aus dem eigenen Vorgehen zu bannen, illusorisch er- scheinen. Foucault scheint sich auch immer nur theoretisch, nie praktisch dieser Illusion hinzugeben.

Darüber hinaus ist die oben zitierte polemische Zuspitzung dessen, was Interpretation sein soll, auch eine vollkommen inadäquate Beschreibung des Gegenstandes, auf den sie sich bezieht. Schon die Vorstellung, Sinn sei als etwas immer schon im Verborgenen Wartendes beschreibbar, als illuso- rische Substanz (und die Hoffnung, die Suche danach wäre mit diesem Argument zu kritisieren), werden nicht viele Leser Foucaults teilen. Sieht man Interpretation hingegen als notwendigen Akt auf eine kommunikative Verständigung hin, als Spielzug im gemeinsamen Entwerfen von Kon- strukten, die sich auf bereits gemachte Äußerungen beziehen, so wird man nicht umhin können, sie in jeder sprachlichen Aktivität zu vermuten.

27 Vgl. Kögler 1992, S. 151ff.

28 Foucault 1969, S. 182

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Auch die Archäologie ist demnach eine „discipline interprétative“, auch wenn sie die Erhellung von Texten nicht zu ihrem Zweck, sondern nur zum Mittel hat. Wir werden freilich sehen, dass unser noch zu verteidigen- des Interesse am Einzeltext hier noch etwas weiter gehen muss als eine solchermaßen korrigierte Archäologie.

Gerade die Einsicht in die Notwendigkeit von Interpretation eröffnet die Chance, diese nicht zum unreflektierten Hintergrundgeschehen zu machen, sondern das eigene Vorverständnis am fremden Standpunkt zu überprüfen. Allzu weit kann eine Untersuchung wie die vorliegende zwar auf diesem Weg nicht voranschreiten, aber eine Vorarbeit dazu ist möglich:

Die fremden Konstrukte (vor allem der Illuministen) müssen mit ‘frommer Phantasie’ (Schmidt-Biggemann29) stark gemacht und dabei möglichst wenig der eigenen Rationalität angepasst werden; gerade das Mythische oder scheinbar Phantastische darf nicht kassiert werden. Dabei muss je- doch der Geltungsanspruch der fremden Rede besonders berücksichtigt werden. Die in Frage stehenden Reden sollen nicht dekonstruiert, sondern konstruiert werden. Auch Kritik kann in diesem Zusammenhang nur als Instrument der Beleuchtung von Argumentationsstrukturen Verwendung finden. Eine wirkliche Kritik im Sinne der etwa von Kögler vorgestellten Kritischen Hermeneutik, die die eigenen Ausgangspositionen bereits am rekonstruierten fremden Standpunkt überprüft hätte und von hier wieder auf das Gegenüber zurück käme, wäre jenseits des Horizonts dieser Arbeit.

b) Welche Festigkeit impliziert der Begriff des Archivs?

– So lautet unsere zweite Frage. Das Archiv wurde als loi oder formation beschrieben, wobei jedoch die Hintergrundbildlichkeit dieses metaphori- schen Begriffs auf eine Institution, eine Einrichtung hinweist. Dies lässt die Frage nach dem ontologischen Status dieser loi virulent werden.

Die Gefahr dieser Bildlichkeit des Archivs ist offensichtlich die, dass tendenziell der Institutions- und Gegenstandscharakter eines Archivs auf die idealen Gegenstände der Formation, der Spielregel oder des Horizonts übertragen wird, mit der Folge einer Hypostasierung von Praxen zu sub- stanzhaften Entitäten, die dann zu zwei Problemen führt, welche schon Durkheims Begriff des fait social kennzeichneten: Sie tendiert dazu, diesem substanzhaften Wesen ein Dasein außerhalb der Sprecher bzw. Handeln- den zuzuschreiben, und die Veränderung und Adaptabilität eines solchen Wesens ist aufgrund dieser Selbständigkeit nur schwer zu beschreiben.

Wenn die Gesamtheit der institutionalisierten Vorgriffe und Produktions- regeln eine Form konstituiert, die außerhalb und überhalb der einzelnen

29 Eine solche Phantasie gegenüber dem fremden Mythos und seinem Geltungsan- spruch ist Bestandteil der Methodik von Schmidt-Biggemanns 1998 großer Untersu-

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énoncés liegt, wie kann dann ein Handeln, das nur in enoncés besteht, diese Form überhaupt verändern?

Foucault braucht jedoch genau diese Vorstellung, um die seiner Ansicht nach immer nur subjektphilosophisch zu denkende Tätigkeit des Indivi- duums möglichst zu marginalisieren. Die Archive sind sozusagen als au- tomatische Produktionssysteme gedacht, die nur Fließbandarbeiter, aber keine Ingenieure brauchen. Foucaults Fassung der Diskursproduktion als Spielgeschehen im starken Sinne kann und will aus Furcht vor einer An- nahme eines autonomen Subjekts den Beitrag des Einzelnen nicht erklären und kann damit auch nicht zeigen, wie ein solches Spiel verfehlt, subver- tiert oder verändert werden kann.30 Dies ist unpraktisch, zumal dann, wenn – wie es bei unserer Untersuchung der Fall sein wird – das Phäno- men des Wandels eine Rolle spielen soll.

Deshalb soll als erste Korrektur an Foucaults Vorstellung vom Archiv hier die Vorstellung eines Spielgeschehens in einem schwachen Sinn einge- führt werden (und so erschließt sich, warum wir entgegen Foucaults eige- nem Gebrauch in die Referate seiner Positionen oben bereits den Spielbeg- riff eingeschmuggelt haben): Damit ist ein Spiel gemeint, das nicht als blin- de Automatik abläuft, sondern nur in der Teilnahme, nur im Spielen seine Realität hat. Das Spiel existiert nur, insofern es gespielt wird, und die Re- geln sind dieser Praxis implizit – darum aber nicht weniger Vor- bedingungen des sie zugleich immer neu konstituierenden Spielverhaltens.

Mit einer solchen dialektischen Auffassung (die in der historischen Sprachwissenschaft Coseriu (1969) als Alternative zu Durkheim versucht hat) macht man Foucaults Beschreibung von Diskurspraxis als Praxis stark, entgeht der versteckten Tendenz zur Hypostasierung von Formationen und kann nun die Teilnahme des Einzelnen als korrekten, subversiven, chaotischen, ungültigen oder spielverändernden Spielzug beschreiben.

Dadurch wird der Einzelne auch nicht zum autonomen Subjekt, das aus einer dem Spiel äußerlichen Position dieses bestimmen würde: Seine Spiel- gestaltung und seine strategischen Entscheidungen können selbst Teil des Spiels sein, Missverständnis des Spiels, Machteffekt; für diejenigen, die diesen Begriff interessant finden, auch: ‘Zufall.’ Der Einzelne muss in die- sem Sinne nicht mehr sein als ein Punkt des Zusammenwirkens unüber- sichtlicher Abläufe. Aber er kann, aus welchem Grunde auch immer, po- tentiell spielverändernde Züge vorschlagen, die von anderen aufgenom- men werden oder aber im Sande verlaufen. Dies mag dann wiederum von Problemen der ‘Formation’ abhängen, die vielleicht gerade virulent wer- den, aber natürlich nicht selbst zu ihrer Lösung drängen, sondern von Teil- nehmern erkannt oder missverstanden werden, zu (aus wessen Perspektive auch immer) sinnvollen oder sinnlosen Gegenaktionen motivieren, gelöst oder auch einfach vergessen werden können. Im Zusammenhang einer

30 Vgl. hierzu Frank 1983, S. 213.

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Rekonstruktion solcher chaotischer Spielzüge und ihrer Beziehungen un- tereinander werden dann auch Fragen nach Informationstransfer und In- tertextualität aktuell, denn sie gehen ja auf das Verhältnis zwischen einzel- nen Spielzügen. In diesem Zusammenhang erweist sich auch ein anderer Vorzug des Spielbegriffs gegenüber dem der Formation oder des Archivs:

Foucaults Begrifflichkeit suggeriert zu sehr ein monologisches Vor-Sich- Hin-Murmeln der Diskurse; dagegen impliziert der Spielbegriff einen Dia- log, der wiederum nicht in dem Sinne beschrieben werden muss, dass ein Subjekt versteht, was das jeweils andere ‘gemeint’ hat, sondern schon an den einzelnen énoncés als Bezugnahme aufgewiesen werden kann.

Es ist klar, dass diese Vorstellung von Spiel einen gewissen Systemcha- rakter einschließt. Wir müssen diesbezüglich gewisse Anleihen bei den Systemtheorien machen, etwa was systemkonstitutive Vorgänge und Funk- tionen, Differenzierungen, Selektion und Umorganisation betrifft. Ein Ge- danke wie der, sich ausdifferenzierende Mannigfaltigkeit biete Auswahl- möglichkeiten für neue Systematisierungen, wäre beispielsweise in der evolutionären Variante der Systemtheorie bei Niklas Luhmann zu finden.31 Unser systemtheoretisches Gepäck soll jedoch möglichst leicht geschnürt werden, und zwar aus zwei Gründen: Eine Übertragbarkeit der zunächst einmal für lebende Systeme aufgestellten Konzeption des autopoietischen Systems im Sinne der Evolutionstheorie auf diskursive Spiele ist zum einen keineswegs ausgemacht; es kann nützlich sein, so etwas zu versuchen, aber es besteht immer die Gefahr, dass das Modell eine nur belastende Meta- pher bleibt. Zum anderen tendiert eine Auffassung von Spielgeschehen als von einem sich selbst reproduzierenden System wiederum zu einer Verfes- tigung und Substantialisierung desselben, die belastende Implikate hat:

Kann man etwa vom Tod eines Systems sprechen, wenn irgendwann nie- mand mehr Allgemeine Grammatik betreibt? Sind die historischen Gren- zen zwischen einem Spiel und seinem Nachfolger scharf genug, um von zwei verschiedenen Wesen zu sprechen, oder handelt es sich um das glei- che System, das sich neu angepasst hat – und ist es dann unter dem glei- chen Namen oder unter einem anderen zu führen? Dies sind keineswegs unlösbare Probleme, aber ihre Lösung würde unsere Arbeit mehr belasten als befördern, und deshalb wollen wir sie einfach beiseite lassen.

Die zuletzt gestellte Frage wollen wir einfach so beantworten: Ändert das Spiel hinreichend seinen Charakter, dass der oder die es aus histori- scher Ferne Beschreibende es nützlich findet, nun von einem anderen, neu- en Spiel zu sprechen, dann könnte man von einem Epochenwechsel spre- chen. Dies führt uns zu der zweiten Hypostasierungs-Gefahr, die in Fou- caults Modell lauert.

31 Vgl. etwa Luhmann 1985, wo wertvolle systemtheoretische Überlegungen zum Epo-

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c) Welchen Status haben ‘Epoche’ und épistémè?

Foucault steht in einem Widerspruch zwischen einer Neigung zur Hypos- tasierung von Epochen – in Les mots et les choses – und deren Leugnung bzw. Denunziation als Konstrukten einer kohärenzstiftenden Subjektivität – in L’archéologie du savoir. Im letztgenannten Text wird der Begriff der épistémè deshalb preisgegeben, wenn er auch noch in den Grundstrukturen des Archivs implizit zu sein scheint. Durch den Begriff des Archivs wird zugleich wieder die Hypostasierungsgefahr verstärkt, da die Vorstellung fester Archive und konstanter Regeln die Epochen und Subepochen oder doch zumindest die historischen Diskursformationen mit einer gewissen Substantialität ausstattet.

Nun ist aber gerade diese Vorstellung einer Grundformation auf relativ (aber nicht übertrieben) hohem Abstraktionsniveau,32 in der sich verschie- dene Diskurse zusammen denken lassen, dasjenige, was uns an Foucault besonders interessiert (und was auch wesentlich zu seinem Erfolg beige- tragen hat). Wir wollen daher Foucault gegen Foucault folgen und uns um eine möglichst nominalistische und instrumentelle Verwendung des Epo- chen- und épistémè-Begriffs bemühen. Dieser soll den Status einer vorläufi- gen und stets zu überprüfenden Orientierungserzählung haben. Mit épistémè wollen wir Folgendes meinen: Verschiedene Diskurse (etwa die in Les mots et les choses behandelten, andere vielleicht nicht) können sich in gemeinsamen Verfahren und Annahmen kreuzen, etwa deshalb, weil sie – im Falle der ‘klassischen’ épistémè – in bestimmter Weise die Sprache zum Referenzmodell nehmen; daher kann Foucault von Zügen der Allgemeinen Grammatik her auch andere Diskurse (die Analyse der Reichtümer und die Naturgeschichte) beleuchten. Die gewisse Einheitlichkeit der sich dadurch zeigenden épistémè ist eine These über eine historische Besonderheit, keine Erfassung einer globalen Denkweise oder Mentalität. Freilich stellt Fou- cault auch für die Renaissance und das neunzehnte Jahrhundert solche Thesen auf, wenn auch mit geringerem Erfolg: Sie sind (etwa von Otto (1992) für die Renaissance und Frank (1983) für das neunzehnte Jahrhun- dert) nachdrücklicher relativiert worden als diejenigen zum ‘klassischen’

Zeitalter. Die Tatsache, dass eine solche globale Epochenanalyse nicht in allen Fällen gleich gut glückt, spricht also für die Vorsicht der Archéologie du savoir gegenüber solchen Totalisierungen. Den Begriff der ‘Epoche’

werden wir dementsprechend verwenden: Wenn in einem ersten hypothe- tischen Vorgriff isolierte Diskurse sich zwischen zwei Diskontinuitäten über eine gewisse Strecke in nützlicher Weise als relativ konstante Systeme beschreiben lassen, dann kann man für den entsprechenden Diskurs eine

32 Es ist klar, dass die Anhebung des Abstraktionsniveaus bei solchen Untersuchungen immer auch die Verflachung der Befunde mit sich bringt. Es wäre beispielsweise ba- nal, Aufklärer und Illuministen darin verbunden zu sehen, dass sie das Eine und das Mannigfaltige in Beziehung setzen wollen o.ä.

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