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Beschäftigungsboom – Grund zur Freude? | Die Volkswirtschaft - Plattform für Wirtschaftspolitik

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FOKUS

Die Volkswirtschaft  3 / 2017 35 che der Bevölkerung gegenüber der Gesundheits- versorgung. Je grösser der Wohlstand ist, umso stärker orientieren sich viele Menschen an einem umfassenden Gesundheitsbegriff, unter dem weniger die blosse Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen als vielmehr ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozia- len Wohlergehens verstanden wird.1

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich die Schweiz eine im internationalen Vergleich hochwertige, aber auch kostenintensi- ve Gesundheitsversorgung leistet. Die kaufkraft- bereinigten Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesund- heit sind innerhalb der OECD nur gerade in den USA und in Luxemburg höher als in der Schweiz.2 Dies schlägt sich auch in den Beschäftigtenzahlen

W

irtschaftliche Prosperität und Gesund- heit stehen in einer wechselseitigen Be- ziehung: Einerseits ist die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft vom Gesundheitszustand der Bevölkerung abhängig. Anderseits steigen mit zunehmendem Wohlstand auch die Ansprü-

Beschäftigungsboom: Grund zur Freude?

Mehr als eine halbe Million Menschen arbeiten im schweizerischen Gesundheitswesen – Tendenz steigend. In dieser aus arbeitsmarktorientierter Perspektive erfreulichen Ent- wicklung spiegeln sich aber auch Schwächen des Gesundheitssystems.   Katharina Degen, Dominik Hauri

Abstract    Das Gesundheitswesen ist einer der wichtigsten Beschäftigungsmo- toren in der Schweiz. Die Zahl der Stellen im Gesundheitswesen ist seit dem Jahr 2001 um beinahe die Hälfte gestiegen. Der Beschäftigungsboom reflektiert die steigende volkswirtschaftliche Bedeutung dieses Sektors – das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Angesichts der steigenden finanziellen Belastung der Haushaltsbudgets und der öffentlichen Hand wird künftig auch im Gesundheits- wesen verstärkt die Suche nach Effizienzpotenzialen im Zentrum stehen müssen.

Hierfür die richtigen Anreize zu setzen, ist eine gesundheitspolitische Herausfor- derung.

1 WHO (2014).

2 OECD (2016).

KEYSTONE

Die demografische Alterung erhöht die Nachfrage nach Pflegefachkräften.

Spitex im Emmental.

(2)

GESUNDHEITSWESEN

36 Die Volkswirtschaft  3 / 2017

nieder. So arbeiten in der Schweiz über eine hal- be Million Menschen im Gesundheitswesen (ein- schliesslich Heime), was knapp 12 Prozent aller Beschäftigten entspricht.3 Zum Vergleich: Im Fi- nanz- und Versicherungssektor oder im Gastge- werbe und in der Hotellerie beträgt der Beschäf- tigungsanteil lediglich je rund 5 Prozent.

Das Gesundheitswesen ist in den letzten 15 Jahren zu einem richtiggehenden Beschäfti- gungsmotor geworden; seit der Jahrtausendwen- de ist die Beschäftigung um rund die Hälfte an- gestiegen (siehe Abbildung 1). Vergleichbar hoch war der Beschäftigungsanstieg mit 38 Prozent zwischen 2001 und 2016 nur bei den «übrigen staatsnahen Dienstleistungen», das heisst in der Bildung, im Sozialwesen und in der öffentlichen Verwaltung. Demgegenüber wuchs beispielswei- se der Industriesektor im selben Zeitraum ledig- lich um 4 Prozent.

Die Kehrseite der Medaille

Aus einer arbeitsmarktorientierten Betrach- tung lässt sich der Beschäftigungsdynamik im Gesundheitswesen Positives abgewinnen: Der Gesundheitssektor bietet einer grossen Zahl von Arbeitskräften mit ganz unterschiedlichen Qua-

lifikationsniveaus intakte und stabile Beschäf- tigungsmöglichkeiten. Dabei gibt es durchaus nachvollziehbare Gründe für das Wachstum. Die demografische Alterung etwa führt im Zusam- menhang mit einer steigenden Zahl von chro- nischen Erkrankungen unweigerlich zu einem höheren Bedarf an Pflegefachkräften. Ausserdem umfasst das Gesundheitswesen viele personal- intensive Leistungen, die sich – bisher – in der Regel eher schwer automatisieren liessen. Des- halb ist es für sich genommen nicht besorgnis- erregend, wenn die Beschäftigung im Gesund- heitswesen stärker steigt als in anderen Sektoren.

Aufhorchen lässt allerdings, dass die Be- schäftigungsdynamik des schweizerischen Ge- sundheitswesens jene von anderen Ländern mit einer vergleichbaren Ausgangslage deutlich übertrifft (siehe Abbildung 2). Zwar sehen sich auch die meisten westeuropäischen Staaten mit einem überdurchschnittlichen Beschäftigungs- wachstum im Gesundheitssektor konfrontiert.

Allerdings fiel das Wachstum im EU-15-Durch- schnitt seit 2009 um 8 Prozentpunkte tiefer aus als in der Schweiz. Aktuell ist der Anteil der im Gesundheitswesen Beschäftigten in der Schweiz um 2,2 Prozentpunkte höher als in diesen Ver- gleichsländern.

KEYSTONE

3 BFS/BESTA.

E-Health als Chance:

Die Telemedizin hilft den Patienten, einzu- schätzen, ob ein Arzt- besuch nötig ist.

(3)

FOKUS

Die Volkswirtschaft  3 / 2017 37 Diese Unterschiede führen zur Frage: Wie

effizient ist unser Gesundheitswesen? Da der vielschichtige Output des Gesundheitssystems schwer zu messen ist, gibt es keine abschlies- sende Antwort. Orientiert man sich an einem klassischen Indikator wie der Lebenserwartung bei Geburt, steht dem hohen Ressourcenein- satz auch ein beachtlicher Output gegenüber. So beträgt die Lebenserwartung für ein Neugebore- nes in der Schweiz 83 Jahre, was im internationa- len Vergleich ein sehr hoher Wert ist.4

Auf der anderen Seite finden internationale Vergleichsstudien immer wieder Indizien dafür, dass das heutige Versorgungsniveau auch mit einem tieferen Ressourceneinsatz zu errei- chen wäre.5 Beispielsweise belegt die Schweiz im jüngsten «Healthcare Efficiency Index» von Bloomberg lediglich Rang 14, einen Rang hin- ter Griechenland und einen vor Frankreich. In den vergangenen Jahren hat die Schweiz einige Ränge verloren, was vor allem den überdurch- schnittlichen Kostenanstieg reflektiert. Gleich- zeitig ist die Lebenserwartung zum Beispiel in Italien und in Spanien etwa gleich hoch wie in der Schweiz, obwohl deren Gesundheitsausga- ben relativ zum BIP mit je 9,1 Prozent deutlich geringer sind als jene der Schweiz (11,4%).6

Auf Expansion ausgerichtete Anreize

Die Steigerung der Effizienz steht direkt oder indirekt im Zentrum von mehreren Zielen und Massnahmen der Reformagenda des Bundes,

«Gesundheit 2020». Zu denken ist dabei an die Qualitätsstrategie, die Reduktion von nicht wirk- samen Leistungen, Verfahren und Medikamen- ten oder den Bereich der elektronischen Gesund- heitsdienste (E-Health).

Eine zentrale und teilweise unterschätzte Rolle spielen die Anreize. Das Gesundheitswe- sen ist ein regulierter Markt, in dem sowohl Angebot als auch Nachfrage durch vielfältige staatliche Eingriffe beeinflusst werden. Alloka- tive und produktive Effizienz des Gesundheits- systems hängen folglich in hohem Masse von den institutionellen Rahmenbedingungen ab.

Das mittlerweile 20 Jahre alte Krankenversiche- rungsgesetz (KVG) garantiert zwar eine hohe Versorgungsqualität und den Zugang zu Ge-

Abb. 1: Beschäftigungsentwicklung in ausgewählten Branchen (2001–2016)

sundheitsleistungen für alle. Trotz anhaltender Bemühungen ist es bisher aber nicht gelungen, das Gesundheitswesen aus der Kostenspirale zu befreien.

So ist es aus der Sicht des Einzelnen ange- sichts der steigenden Krankenkassenprämien rational, die Nachfrage nach Gesundheitsleis- tungen auszudehnen, um für die wachsenden Beiträge einen Gegenwert zu erhalten. Gleich- zeitig sind die Vergütungssysteme mehrheitlich

  Industrie         Private Dienstleistungen         Gesundheitswesen und Heime         Übrige staatsnahe Dienstleistungen

BFS, BESTA / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

160 Index (2001 1. Quartal=100)

150

130

100 140

110 120

90

2001 20022003 2004 20052006 2007 20082009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

4 OECD (2016).

5 Für Überblick siehe Kirchgässner und Ger- ritzen (2011).

6 OECD (2016).

Abb. 2: Beschäftigungswachstum Gesundheitswesen und Total (EU-15 und Schweiz; 2009–2016, in % des BIP)

2. Quartal 2009 bis 2. Quartal 2016.

EUROSTAT / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

-5 -2,5 0 2,5 5 7,5 10 12,5 15 17,5 20 22,5 25

Total (exkl. Gesundheitswesen und Heime) Schweiz

Deutschland Österreich

Vereinigtes Königreich EU-15

Frankreich Italien

Dänemark

Schweden

Gesundheitswesen und Heime

25

20

15

10

5

0

-5

Niederlande

(4)

GESUNDHEITSWESEN

38 Die Volkswirtschaft  3 / 2017

Literatur

OECD (2016). Health Statistics 2016, Oecd.org, Oktober 2016.

Gebhard Kirchgässner und Berit Gerritzen (2011). Leistungsfähigkeit und Effizienz von Gesundheitssystemen: Die Schweiz im interna- tionalen Vergleich, Gutachten zuhanden des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).

WHO (2014). Constitution of the World Health Organization, Genf.

Katharina Degen Wissenschaftliche Mitar- beiterin, Ressort Arbeits- marktanalyse und Sozial- politik, Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern

Dominik Hauri

Wissenschaftlicher Mitar- beiter, Ressort Arbeits- marktanalyse und Sozial- politik, Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern

so ausgestaltet, dass die Leistungserbringer kei- ne Anreize haben, die Nachfrageausweitung zu bremsen, sondern von dieser vielmehr finan- ziell profitieren. Der Effekt dieser institutionel- len Anreizmechanismen auf die Expansion des Gesundheitswesens darf neben den oben er- wähnten strukturellen Erklärungsfaktoren nicht unterschätzt werden.

Unerwünschte Nebenwirkungen vermeiden        

Aus volkswirtschaftlicher Perspektive ist die Entwicklung des Gesundheitssektors deshalb bei allen positiven Beschäftigungswirkungen auch mit einem kritischen Auge zu betrachten. Zwei- felsohne stiftet das Gesundheitswesen einen hohen Nutzen. Gleichzeitig belasten die Expan- sion des Gesundheitssektors und insbesonde- re die nicht ausgeschöpften Effizienzpotenziale die Haushaltsbudgets und die öffentliche Hand zunehmend und teilweise ohne entsprechen- den Gegenwert. Angesichts der im KVG veran- kerten Anreize zur Mengenausweitung ist die Gefahr, dass der volkswirtschaftliche Punkt des «optimalen Nutzens» überschritten wird, ernst zu nehmen.

Die gesundheitspolitische Herausforderung besteht folglich darin, die Rahmenbedingun-

gen so anzupassen, dass die Akteure – sowohl Leistungserbringer als auch Patienten – der Kos- tenkontrolle mehr Beachtung schenken. Das «Re- zept» hierfür umfasst auch politisch unpopuläre Massnahmen wie die Entschlackung des Grund- leistungskatalogs, die Aufhebung des Kontrahie- rungszwangs zwischen Versicherern und Leis- tungserbringern und die weitere Förderung des Wettbewerbs im stationären Sektor.

Referenzen

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