SADDHARMAPUNDARIKASÜTRA, KAP. IV.
Ein kulturübergreifendes Erzählmotiv
Von Peter Kwella, Bochum
Das Kapitel IV des Saddharmapundarlkasütras (Saddh. ), Adhimuktipari-
varta (A. ), enthält das bekannte Gleichnis vom armen Sohn des reichen Man¬
nes, dessen Ähnlichkeit mit dem Gleichnis vom "Verlorenen Sohn" des Neuen
Testamentes (NT), Lukas 15,11-32, seit langem bemerkt worden ist (l).
Richard Garbe hat das Kapitel herangezogen, um auf die Möglichkeit einer
Abhängigkeit buddhistischer Erzählmotive von christlichen Quellen hinzuwei¬
sen, womit er gegen R. Seydels Unterstellung polemisierte, derartige Ent¬
lehnungen seien aus chronologischen Gründen, wie auch infolge der buddhisti¬
schen Glaubensverhältnisse unmöglich (2).
Entschieden gegen eine Abhängigkeit vor allem des Christentums von bud¬
dhistischen Vorstellungen sprach sich H.W. Schomerus aus (3). In seiner Un¬
tersuchung, ob die Bibel von Indien abhängig sei, führte er gleichwohl eine
Paraphrase des A. unter dem Titel "Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn"
an (4).
Die unverkennbare Ähnlichkeit der Hauptmotive beider Texte ist es sicher
auch gewesen, die A.L. Basham bewog, gerade den A. in das populäre Lese¬
buch zur indischen Religionsgeschichte "Sourees of Indian Tradition" aufzu¬
nehmen. In seinen einleitenden Worten zu der verkürzten Ubersetzung lehnt
er allerdings die Möglichkeit einer Abhängigkeit der Texte voneinander ab.
Hauptgründe sind hierbei die jeweils recht unterschiedlichen Gestaltungen
und Ziele der Erzählungen, sowie die große kulturelle Distanz der Bereiche,
wo sie begegnen. So wird ihm die starke Ähnlichkeit der Motive geradezu "a
case of religious minds of two widely separated cultures thinking along similar
lines, as a result of similar, though not identical , religious experience" (s).
Nun beziehen sich diese Äußerungen auf die Problematik einer direkten Ab¬
hängigkeit der beiden Weltreligionen voneinander. Besonders in früheren Jahr¬
zehnten wurde diese Problematik unter dem Aspekt, das Christentum könne
einer - wenn auch noch so hochstehenden - "heidnischen" Religion etwas
schulden, nicht ohne Emotionen untersucht; zumal - und dies gilt bis in die
Gegenwart hinein - gerade die Gleichnisse im NT dem christlichen Theologen
"im Sinne des Wortes als christologische Selbstzeugnisse Jesu" gelten, wobei
es "vor allem um die Begegnung mit dem 'historischen' Jesus in seiner Ver¬
kündigung" gehe (6).
Es soll hier keinesfalls einer direkten Abhängigkeit des A. von Luk. 15,11-
32 - oder umgekehrt - das Wort geredet werden; es geht mir auch nicht um
eine Originalitätspolemik christlicher oder buddhistischer Texte. Apologetik
dieser Art zu treiben, scheint mir müßig. Indessen scheint doch die Möglich¬
keit zu bestehen, durch die Aufhellung einer mit hoher Wahrscheinlichkeit
existierenden - wenn auch nicht ganz unmittelbaren - Verbindung der bei¬
den Texte dieselben besser verstehen zu können.
K.H. Rengstorf sind einige Besonderheiten an dem Lukas-Text aufgefallen,
die in diesem Zusammenhang weiterführen können (7).
Zunächst handelt es sich bei Luk. 15,11-32 um sog. Sondergut, d.h. einen
der wenigen Texte, die in den Evangelien der Synoptiker (Matthäus, Markus
und Lukas, welche im allgemeinen weitgehend gleiche Inhalte bieten) nur bei
Lukas begegnet. Des weitern fällt der Text dadurch auf, daß er im Gegensatz
zu den meisten Gleichnissen im NT keine "Nutzanwendung" bietet, sondern
sich als einfache, in sich geschlossene Erzählung präsentiert (8). Dies aber
ist selbst im Sondergut des Lukas etwas Außergewöhnliches (9).
Rengstorf hat nun im Zuge einer genaueren Interpretation des Lukas-Textes
ermittelt, daß dieser einen zur Zeit Jesu in Palästina üblichen Rechtsbrauch
(nämlich die Ausstoßung - "Abschneidung" - eines rechtsfähigen Mannes
aus dem Familienverband aufgrund sippenschädigender Delikte und dessen Um¬
kehrung) reflektiere. Dies braucht im einzelnen hier nicht zu interessieren.
Von Wichtigkeit aber ist, daß die Anweisungen, die der Vater im Lukas-Text
ergehen läßt, um die Begrüßung des heimgekehrten Sohnes zu feiern, Symbole
enthalten, deren Zusammenhang auf Rituale altorientalischer Herrscherin¬
vestitur verweist. Rengstorf ist auch diesem genauer nachgegangen (lO) und
wurde dabei insbesondere durch die Symbolik des Gewandes, welches dem
heimkehrenden Sohn übergeben wird (Luk. 15,22: "Bringet schnell das beste
Kleid [= stolen ten proten] herbei ... "), auf einen außerevangelischen Text
geführt, den er als Quelle des lukanischen Gleichnisses wahrscheinlich ma¬
chen konnte. Es handelt sich um das in den apokryphen syrischen Thomas¬
akten (ll) enthaltene "Lied von der Perle", einen Hymnus, welcher einen
gnostischen Erlösungsmythos gestaltet (l2).
Den Zusammenhang dieses Perlenliedes (P.) mit Luk. 15,11-32 hat zuerst
Alfred Adam bemerkt (l3). Eine Gegenüberstellung des Hymnus' mit dem A.
des Saddh., welche sich aufgrund der bemerkten Vergleichbarkeit des bud¬
dhistischen mit dem christlichen Text anbietet, ist bislang nicht erfolgt. Sie
ergibt in der Tat eine Reihe gemeinsamer Züge auch des P. mit dem A., wel¬
che eine Abhängigkeitsdiskussion auch dieser beiden Texte voneinander min¬
destens ebenso nahelegt, wie im Falle von A. und Luk. 15.
Vergegenwärtigen wir und kurz die Inhalte der drei Texte:
a) Luk. 15,11-32
Der jüngere von zwei Söhnen eines wohlhabenden Mannes verlangt die
Auszahlung seines Erbteils, verläßt kurz darauf sein Vaterhaus, bringt
sein Erbe durch und verarmt. Als eine allgemeine Hungersnot über das
ferne Land kommt, wo er sich aufhält, verdingt er sich als Schweine¬
hirt, leidet aber dennoch Hunger, da er nicht einmal zu dem Schweine¬
futter Zugang erhält, obgleich seine Mangelsituation den Ekel verdrängt
hätte. Er entschließt sich, in sein Vaterhaus zurückzukehren, um sich
als Tagelöhner zu verdingen. Sein Vater bemerkt seine Rückkehr von
ferne, eilt ihm entgegen und bereitet ihm einen überaus herzlichen Emp¬
fang (Der Sohn erhält das beste Gewand, Schuhe, einen Ring; ein Mast¬
kalb wird geschlachtet ). Einsprüche des älteren der beiden-Söhne
wegen der Bevorzugung des jüngeren werden mit dem Hinweis quittiert,
es sei Grund genug zur Freude, daß der verlorengeglaubte Sohn zurück¬
gekehrt sei.
b) Perlenlied
Ein Knabe, älterer von zwei Königssöhnen, wird von seinem königlichen
Elternhaus "im Osten" nach "Ägypten" entsandt, wo sich "mitten im
Meere, nahe bei dem fauchenden Drachen" eine kostbare Perle befindet;
er soll diese Perle gewinnen und ins Vaterhaus bringen, um nach dieser
Leistung sein prächtiges Gewand (welches er hatte ablegen müssen),
Symbol seiner Thronfolger schaff, wieder anlegen zu dürfen und das Reich
seiner Eltern zu erben. Der Jugendliche Held wird für diese Aufgabe aus
der Schatzkammer der Eltern reich ausgestattet. Er gelangt in das Land
seiner Bestimmung, vergißt aber im Kontakt mit den "Ägyptern" seinen
Auftrag und sinkt "infolge der Beschwerung durch deren Speisen" in festen Schlaf.
Seine Eltern sind innerlich mit ihm verbunden, fühlen sein Versagen und
beschließen im Rat mit den Mächtigen ihres Reiches, den sie an den To¬
ren ihres Palastes zusammengerufen haben, ihrem Sohn einen Brief zu
senden, der ihn an seine Aufgabe erinnere. Der Brief erreicht den Kö¬
nigssohn, der nun wirklich die Perle gewinnt und sich heimwärts wen¬
det. Die Eltern senden ihm sein prächtiges Gewand entgegen, welches
er anlegt, um mit ihm geschmückt heimzukehren und von seinem Vater
feierlich in sein Erbe eingesetzt zu werden. Am Tore der Satrapen
mischt er sich unter seines Vaters Edelleute; der Vater läßt bekannt¬
machen, daß er ihn am Tore des Königs der Könige empfangen wolle
... (14).
c) Adhimuktiparivarta
Ein reicher Mann verliert seinen Sohn in Jugendlichem Alter, und da er
ihn auch im Verlauf vieler Jahre nicht wiederfinden kann, zieht er an
einen anderen Ort. Der Sohn kommt zufällig vor das Tor des väterli¬
chen Anwesens, doch wie er sieht, daß der überaus wohlhabende Vater
auf dem Löwenlager (simhäsana) sitzt und alle Brahmanen, ksatriya und
grhapati zu seiner Rechten und Linken stehen, und wie majestätisch und
über alle erhaben er ist, da meint er, das sei kein Ort, an dem er zum
Dienst zu gebrauchen wäre, und will in der Straße der Armen Speise und
Kleidung suchen. Der Vater aber hat immer bedauert, daß, wenn kein
Erbe da ist, seine noch so gefüllten Speicher von den Behörden eingezo¬
gen oder verstreut werden. Da nun der Sohn, der dies erben soll, vor
dem Tore erschienen ist, freut sich der Vater sehr und schickt sofort
einen der ihm Nahestehenden, damit er ihn festhalte. Der Sohn versteht
die Absicht des Vaters, den er nicht erkennt, nicht und fällt vor Angst,
vielleicht unschuldig von diesem Mächtigen bestraft oder gar getötet zu
werden, in Ohnmacht. Ein Guß Wassers bringt den Armen wieder zur Be¬
sinnung und man läßt ihn zunächst laufen. Der Vater sendet nun zwei we¬
nig ehrfurchtgebietend aussehende Leute aus, um den Sohn anzulocken
und bei sich in Dienst zu nehmen. Für den doppelten Lohn läßt er ihn Un¬
rat entfernen und sorgt dafür, daß er nicht fortgeht. Später, als der
Reiche seinen Sohn von Ferne aus dem Fenster blickend sieht, wie er
mager und schwach ist und der Unrat seinen Körper beschmutzt, da
zieht er selbst seine feinen Kleider aus und grobe, zerrissene und be¬
schmierte Kleider an, nimmt das Gerät zum Entfernen des Unrats und
nähert sich seinem Sohn. "Geh nicht fort von hier", sagte er, "ichwerde
deinen Lohn verdoppeln und dir die nötige Kleidung und Nahrung geben.
Erweiche dein Herz, ich bin deinem Vater gleich". Allmählich kommen
I A
sich Vater und Sohn näher, aber der Sohn beschäftigt sich weiter mit
dem Entfernen von Unrat. Da dann aber der Reiche Zusehens in die Zeit
des Alterns kommt, läßt er die Schätze seiner Speicher sämtlich vom
Sohn verwalten und überläßt die Ausgaben und Einnahmen an Geld dessen
Leitung, wobei er ihm sogar erlaubt, frei darüber zu verfügen; aber der
Sohn denkt auch bei der Befolgung dieses Befehls nicht daran, die Schät¬
ze in seinem eigenen Interesse zu verwenden. So wird der Sohn mit dem
Anhang des Reichen völlig vertraut, auch die Ansichten von Vater und
Sohn kommen zunehmend zur Übereinstimmung, und als der Vater spürt,
daß seine Todesstunde naht, befiehlt er seinem Sohn, die Verwandten,
den König und die hohen Beamten, die kgatriya und grhapati zu versam¬
meln und verkündet: "Dieser ist wirklich mein Sohn, und ich bin wirk¬
lich sein Vater. Seit dem Verschwinden meines Sohnes habe ich ihn viele
Jahre unter Mühen gesucht, aber da ich meinen Sohn jetzt zum Glück er¬
langt habe, sollen alle meine Schätze ihm gehören". Als der Sohn diese
Worte des Vaters hört, freut er sich sehr und tritt das Erbe des Vaters
an (15).
Eine gewisse Ähnlichkeit auch des Perlenliedes mit A. läßt sich nicht leug¬
nen. Geht man in Details des Vergleiches der drei Texte (der hier aus Zeit¬
gründen leider nur angedeutet werden kann), so fällt zunächst auf, daß der
Grund, warum der Sohn jeweils das Vaterhaus verläßt, jedesmal ein anderer
ist. Genaugenommen wird nur im P. ein mit dem Fortgang der Geschichte
deutlich verbundener Grund genannt, nämlich die Aufgabe, die Perle zu finden
und zu gewinnen. Im Lukas-Text läßt sich der Sohn aus unerfindlichen Grün¬
den sein Erbteil auszahlen und verschwindet damit in ferne Lande, im A. ver¬
liert der Vater ebenfalls den Sohn "einfach so", d.h. der Sohn zieht ohne er¬
wähnten Grund davon. Im P. ergibt sich aus der gestellten Aufgabe die Reise
in ein fernes Land (Ägypten), welche sich bei Lukas scheinbar zufällig ergibt;
im A. vermißt man diesen Zug der Schilderung nahezu völlig. Der Grund hier¬
für ergäbe sich - vorausgesetzt, wir haben es wirklich mit irgendwie ver¬
wandten Texten zu tun, was diesen Erklärungsversuch überhaupt nur rechtfer¬
tigte - aus der generellen Tendenz des Saddh. im allgemeinen und des A. im
besonderen, die pädagogische Geschicklichkeit des Buddha bei der Vermitt¬
lung des Dharma (upäya kausalya) zu illustrieren. Zugunsten der reichen und
eingängigen Schilderung dieser pädagogischen Maßnahmen (wobei Vater = Buddha),
welcher im P. die Sendung des Briefes an den Königssohn, im Lukas-Text nichts
anderes entspräche als die Tatsache, daß der Vater den heimkehrenden Sohn von
ferne erblickt und ihm freudig entgegenkommt, ist der Gestaltung einer den gan¬
zen Vorgang begründenden Aufgabe in dem buddhistischen, wie in dem christ¬
lichen Text keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Differenz soll nicht un¬
erwähnt bleiben.
Ein weiterer Unterschied liegt in der Tatsache, daß sich die Geschichte in A.
(wie rein äußerlich betrachtet auch bei Lukas) in "großbürgerlicher" Atmo¬
sphäreabspielt; denn der Reiche des A. hat seinen Besitz durch Geldverleih,
Handel und landwirtschaftliche Großunternehmungen zusammengebracht. Dem¬
gegenüber ist im Perlenlied kein Zweifel daran gelassen, daß es sich um herr¬
scherliches Milieu handelt.
War es nun für Rengstorf gerade das Durchschimmern dieses herrscherli¬
chen Milieus in dem Lukas-Text, welches ihn auf die Verbindung des neutesta-
mentlichen Gleichnisses mit dem P. brachte (l6), so könnte eben hierin auch
ein vergleichbarer Hinweis bezüglich des A. liegen. Denn obschon der Reiche
in dem buddhistischen Text ganz eindeutig kein Herrscher ist (in seiner Todes¬
stunde gehört ja der König zu seinen Besuchern) so ist die Art, wie er sein
Haus führt, doch in einer Weise geschildert, die sehr nahe an königliche Hof¬
haltung herankommt (l7). Man erinnere sich nur an die farbenfrohe Ausma¬
lung des Besitzes des Reichen (l7a).
Läßt man sich durch diesen Hinweis auf königliches oder dem Hof nahestehen¬
des Milieu leiten und unterstellt nun ein möglicherweise gemeinsames Vorbild
von A. und P., in welchem eben dieses königliche Milieu gestaltet wäre, so
erklärt sich u.a., warum der Reiche bei der im buddhistischen Text doch ganz
zufälligen Rückkehr seines Sohnes ebenso zufällig gerade umgeben von einem
wahren Hofstaat am Tore seines Anwesens auf dem Simhäsana sitzt, sowie
ebendort nach Abschluß des pädagogischen Vorgangs an seinem Lebensende
eine große Versammlung einberuft, zu der selbst der König kommt — (18).
Es lassen sich hierin sowohl die Ratsversammlung vor der Versendung des
Briefes an den Königssohn als auch die Versammlung der Mächtigen des Rei¬
ches anläßlich der Investitur des Thronfolgers im P. erkennen. Sie finden je¬
weils an bestimmten Toren statt. Eine weitere Aufzählung paralleler Züge
(wie das Speisemotiv, das Taglöhnermotiv, das Motiv der Freude über die
Rückkehr etc. ) und ihr Verfolgen muß ich mir hier leider versagen. Es muß
das soweit Angezogene genügen, um folgende Arbeitshypothesen zu formulieren :
1) Lukas 15,11-32, das gnostische Perlenlied und der Adhimuktiparivarta
enthalten und gestalten ein gemeinsames Hauptmotiv, welches man inso¬
fern als kulturübergreifend bezeichnen kann, als es in unterschiedlichen
kulturellen und religionsgeschichtlichen Bereichen auftritt und diesen je¬
weils entsprechend umgestaltet ist.
2) Infolge größerer Folgerichtigkeit der einzelnen Erzählschritte auseinan¬
der scheint das Perlenlied einer möglichen gemeinsamen Vorlage der
drei Texte am nächsten zu stehen.
Bei dem Versuch, diese aus inneren Kriterien der Texte gewonnenen Hypothesen
von außen zu stützen, helfen u.a. Geo Widengrens Untersuchungen über die
iranisch-semitische Kulturbegegnung in parthischer Zeit weiter (l9).
Alfred Adam hatte als Verfasser des P. tentativ einen Syrer angesetzt, "der
sowohl mit der spätjüdischen als auch mit der parthischen Geisteswelt ver¬
traut gewesen ist" und vor Beginn der Sassaniden-Dynastie gearbeitet haben
muß (20); er hatte auf die inhaltliche Nähe des in den Thomasakten als ma¬
gisch wirkende Formel verwendeten Hymnus' zu parthischen Totenritualen hin¬
gewiesen, sov/ie als ungefähre Lokalisierung das Edessa des 1. nachchristli¬
chen Jahrhunderts vorgeschlagen (2l). Widengren konnte ganz allgemein darauf
verweisen, daß Edessa, die "Tochter der Parther", zusammen mit dem öst¬
lich vom oberen Tigris gelegenen Adiabene unter parthischer Herrschaft (also
von 150 V. Chr. - Mithridates I. - an) sich zu einem Zentrum "regen Kultur¬
austausches zwischen Iraniern und Semiten" entwickelte, noch nachhaltiger als
dies schon unter den Achämeniden der Fall gewesen war (22). Die eingehende
sprachliche Analyse des P., das Widengren als einzigartiges Dokument parthi¬
scher Gnosis ansieht, zeigt nicht nur eine ungewöhnliche Menge iranischer
Lehnwörter und Lehnübersetzungen (23), sondern auch eine ganze Reihe Ter¬
mini aus dem Bereich der Regierung und königlichen Administration rein irani-
scher Prägung. Dies fördert den Eindruck eines starken iranischen Einflusses im "pathischen Vasallenkönigtum Edessa" (24).
Im Rahmen der Durchprüfung der mitteliranischen Weisheitsliteratur und
ihrer Ursprünge, die gleichermaßen in der zervanistischen Religion des alten
Mediens wie in den kriegerischen Anschauungen der Parther zu liegen schei¬
nen (25), verweist Widengren auf ein " p a r t h i s c h e s Vorbild des syri¬
schen Liedes von der Perle" (26).
Durch diese Einbettung des P. in den synkretistischen Kulturbereich des
Partherreiches um die Zeitenwende geraten wir nun in unmittelbare geogra¬
phische und chronologische Nähe des Entstehungsbereiches des Saddh.
Hatte Garbe noch eine Beeinflussung des christlichen NT durch das Saddh.
ausgeschlossen, da er als Entstehungszeit des Saddh. "nicht vor 200 n.Chr."
ansetzte (27), so ist es K. Fuse inzwischen in seiner großen Entstehungsge¬
schichte des Saddh. (28) gelungen, eine dreifache Schichtung des Sütras zu
zeigen, wobei er die Redaktion des ersten und zweiten Stadiums der Entsteh¬
ung in das erste Jh. n. Chr., die eines dritten Stadiums in die erste Hälfte
des 2. Jh. n. Chr., die Ausbildung des dem ersten Stadium zugrunde liegen¬
den Lehrsystems mindestens ins erste Jh. vor Chr. verlegt (29). Dies be¬
deutet: es kann damit gerechnet werden, daß Lehreigentümlichkeiten des Saddh.
sich vor der Zeitenwende ausgebildet haben, und daß ein erster Text des Saddh.
im 1. Jh. nach Chr. vorlag.
Was den Entstehungs r au m des Sütras angeht, so hat C. Ikeda durch die
Analyse der im A. gestalteten gesellschaftlichen Verhältnisse auf ein vom Zen¬
trum Indiens weit entferntes Gebiet verwiesen (30) und sich, dies präzisierend,
der Ansicht des japanischen Kunsthistorikers Ono Gemmyo angeschlossen, der
die Entstehung der Mahäyäna-Sütren auf das Gebiet von Gandhära zurück¬
führt (3l). Hierüber ist vielleicht das letzte Wort noch nicht gesprochen. Im
Zusammenhang mit unserer Untersuchung stimmt es angesichts dieser Auf¬
fassung allerdings nachdenklich, daß im Perlenlied das Kusan-Reich, und in
seiner unmittelbaren literarischen Umgebung gerade jener iranische Herr¬
scher Gondophares (Vindapharna) erwähnt wird (32), ehemaliger Vasall des
Arsakiden Artabanos III., welcher um das Jahr 25 v. Chr. nach einem Sieg
über den Saka-Fürsten AzesII., Taxila (den Sitz der bedeutendsten buddhisti¬
schen Universität des Altertums neben Nälandä) zur Hauptstadt seines Reiches
machte, welches zur Zeit seiner größten Ausdehnung Seistan, Sindh, Cutch,
Käthiawär, Arachosien, die Paropamisaden, Gandhära, sowie das Panjab bis
zum Ravi umfaßte (33).
Wir sind damit in ein Gebiet des farbenreichsten geistesgeschichtlichen Syn¬
kretismus' des Altertums gelangt, in dessen Atmosphäre die Einflußnahme
von Vorstellungen aus dem Bereich der vitalen parthischen Gnosis (34) auf das
im Entstehen begriffene Mahäyäna nicht ausgeschlossen werden kann. Kehren
wir, diese Verhältnisse im Gedächtnis behaltend, noch einmal kurz zur Be¬
trachtung unserer Texte zurück:
Das Perlenlied gestaltet den gnostischen Erlösermythos, den Schneemelcher
mit folgenden Worten charakterisiert:
"Der vom Himmel ausgesandte Erlöser legt die himmliche Herrlichkeit
ab; verkleidet in irdisch-menschliche Gestalt erscheint er den Mächten,
die ihn nicht erkennen und nur seine Stimme hören, verfolgt, bekämpft
und besiegt sie. Die Gläubigen, fremd auf der Erde, aber dem himmli¬
schen Erlöser bzw. seinem Doppelgänger, dem Apostel, vertraut, werden
von dem Erlöser aus dem Hades, d.h. zugleich aus dem Bereich des
Körperlich-Materiellen befreit. Der Erlöser ist ihr Wegbereiter und
Geleiter, Arzt, Lebensbringer Er offenbart den Gläubigen
die himmlischen Mysterien, gibt sich ihnen zu erkennen und lehrt sie
damit sich selbst erkennen. So verhilft er ihnen zu einer ungehinderten
Himmelfahrt durch das Reich der Mächte" (35).
Auf die Verwandtschaft dieses Mythos' mit dem parthischen Mythos vom
"Aufstieg der Seele" wurde schon hingewiesen (36). An anderer Stelle konnte
durch die Analyse des Osadhiparivarta, also des V. Kapitels des Saddh., ge¬
zeigt werden, daß mit hintergründigem Sinn der Parabeln des Saddh. zu rech¬
nen ist, welcher über die Illustration von upäya-kausalya des Buddha hinaus¬
geht und als esoterisch bezeichnet werden muß (37).
Sollte hinter der Tatsache, daß im A. der Vater seine feinen Gewänder ab¬
legt und sich in schmutzige Lumpen hüllt ... , um auf diese Weise mit seinem
Sohn eine gemeinsame Verständigungsebene zu erreichen und ihn zur Reife für
sein Erbteil zu führen, eine Vorstellung stehen, die dem gnostischen
E r 1 ö s e r m y t h o s aufs nächste verwandt ist und dem in esoterische
Kunstsprache eingeweihten Gnostiker wie dem Buddhisten um die Zeitenwende
gleichermaßen verständlich sein mußte ? Unter Voraussetzung der Richtig¬
keit dieser Annahme wäre mit wesentlich weitergehenden gnostisch-buddhisti-
schen Berührungspunkten und Befruchtungen zu rechnen, als bislang ange¬
nommen werden konnte (38).
Anmerkungen
1. Erstmalig bei P.E. Foucaux, Parabole de 1' enfant egare, Paris 1854
(Franz. Übersetzung aus dem tib. Kanjur).
2. R. Garbe, Indien und das Christentum, Tübingen 1914, Abs. 1, Kap. 1
(Buddhistische Einflüsse auf das Neue Testament), S. 46 ff. Garbe trägt
hier zahlreiche Parallelen neutestamentlicher mit buddhistischen Texten
zusammen. Hinsichtlich Luk. 15, 11-32 und A. erkennt er nur einen ge¬
meinsamen Zug.
3. H.W. Schomerus, 1st die Bibel von Indien abhängig, München 1932, passim.
4. Schomerus, op.cit., Anhang.
5. A.L. Basham, The Lost Son, in: Sourees of Indian Tradition, ed. by Theo¬
dore de Bary a.o., New York 1958, cap. VII ( Mahäyäna-Buddhism ), p.
165-169.
6. K.H. Rengstorf, Die Re-Investitur des Verlorenen Sohnes in der Gleich¬
niserzählung Jesu, Luk. 15,11-32, Köln und Opladen 1967, S. 14 ff.
Rengstorf folgt hier der Auffassung von J. Jeremias, Die Gleichnisse
Jesu, Göttingen ^1962, bes. S. 227, aber auch des öftern.
7. Rengstorf, op.cit.
8. Rengstorf, op.cit., S. 53.
9. Rengstorf, op.cit., S. 62.
10. Rengstorf, op.cit., S. 14 ff.
11. E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung,
hrsg. von W. Schneemelcher, Tübingen ^1964, Bd. II, S. 297 ff.
12. A. Adam, Die Psalmen des Thomas und das Perlenlied als Zeugnisse vor¬
christlicher Gnosis, Berlin 1959, S. 48 ff. (Ubersetzung ins Deutsche,
Interpretation und Literaturangaben) .
13. A. Adam, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 213, 1960, S. 136 (Be¬
sprechung von A. Vööbus, History of Ascetism in the Syrian Orient 1,
Louvain 19 58).
14. Vgl. die Ubersetzung von Adam, Die Psalmen S. 54.
15. Nach C. Ikeda, Hokke-kyö chöja güji no hiyu ni tsuite ( = Zum Gleichnis
vom armen Sohn des reichen Mannes im Lotus-Sütra) , in: Melanges Ui,
hrsg. V. S. Miyamoto u.a., Tokyo 1951, S. 1-13; ins Deutsche über¬
setzt von Andree Belleville (Ubs. als Manuskript beim Verf. ).
16. Rengstorf, op.cit., S. 51 ff.
17. Vgl. hierzu die Untersuchung des sresthin in dem erwähnten Artikel von
C. Ikeda (Anm. 15); im Anhalt an R. Fick, Die sociale Gliederung im
nördlichen Indien zu Buddhas Zeit, S. 162 ff., konnte Ikeda in der Ge¬
stalt des Vaters im A. einen hohen Staatsbeamten identifizieren. Ich zi¬
tiere nach meinem Ms. S. 3: "Ein Wort, das ursprünglich die gleiche
Bedeutung wie vesa hat und eine bestimmte Volksgruppe bezeichnet, ist
"gahapati". Das ist ein durch Abstammung oder Besitz sich von den an¬
deren unterscheidender Grundbesitzer oder Handelsherr. Allerdings gibt
es auch unter den ksatriya diese Art von Leuten, aber es ist zweifellos
richtig zu denken, daß die gahapati am Hof, auch wenn es vorkam, daß
sie sich nächst den hohen Beamten und Brahmanen in die Nähe der Kö¬
nigs aufhielten, keine Könige oder Beamten waren. Der König benötigte
für die Überwachung der Staatsfinanzen, die Bezahlung der Dienste der
Militärs und Beamten, für Bauunternehmungen und die Eröffnung von
Kriegen und dgl. Finanzleute. Dann war er auch für die Vertretung der
Interessen des Hofes, für die Gesetzgebung und die Verwaltung von den
Kaufleuten abhängig. Wer den obigen Zielen diente, war der "Reiche";
er war Jemand, auf den der König nicht verzichten konnte." ( =Japan.
Text in Melanges Ui S. 36 f. ).
17a Tasya ca sa pitä ' nyatamamjanapadam prakräntah syäd bahudhanadhän-
yahiranyakosakosthägäras ca bhaved bahusuvarnarüpyamanimuktävaidür-
yasahkhasiläpravädajätarüparajatasamanvägatas ca bhaved bahuhastyasva-
rathagav'edakasamanvägatas ca bhavet / atha khalu bhagavän sa
tasya daridrapurusasya pitä svake nivesanadväre mahatyä brähmana-
ksatriyavit-chüdra-parisadä parivrtah puraskrto mahäsimh'äsane sapä-
dapTthe suvarna-rüpya-pratimandita upavisto hiranya-koti satasahasrair
vyavahäram kurvan väla-vyajanena vljyamäno vitata-vitäne prthivl-pra-
dese muktakusumäbhiklrne ratnadämäbhipralambite mahatyarddhyopa-
vistah syät / (Saddharmapundarika-Sütram, Romanized and
Revised Text of the Bibliotheca Buddhica Publication by consulting a
Sanskrit MS. and Tibetan and Chinese Translations, by U. Wogihara and
C. Tsuchida, Tokyo 1958, S. 96 und 97).
18. Vgl. ed. Wogihara-Tsuchida, S. 101.
19. G. Widengren, Iranisch-semitische Kulturbegegnung in parthischer Zeit,
Köln 1960, S. 162.
20. A. Adam, Die Psalmen ... , S. 59. Der Terminus ad quem ergibt sich
aus der Erwähnung des arsakidischen Herrschertitels "König der Könige",
der nach der Thronbesteigung von Ardaschir im Jahre 224 n.Chr. nicht
mehr im Profanbereich ausgesprochen werden durfte; vgl. Adam, op.cit.,
S. 60 mit Anm. 58.
21. Adam, op.cit., S. 60 f.
22. Widengren, op.cit., S. 5.
23. Widengren, op.cit., S. 30.
24. Widengren, op.cit., S. 31.
25. Vgl. Nyberg, Die Religionen des alten Iran, S. 388 f., sowie Widengren,
op.cit. , S. 38 ff.
26. Widengren, op.cit., S. 40.
27. R. Garbe, Indien und das Christentum, S. 46.
28. K. Fuse, Hokkekyö seiritsu shi, Tokyo 1934.
29. Vgl. Bibliographie Bouddhique, Vol. VII-VIII (1934-36), S. 93 ff., wo
Fuses Werk besprochen und seine wichtigsten Ergebnisse kurz dargestellt
sind.
30. C. Ikeda, op.cit., S. 44 ( = MS. S. lO).
31. Vgl. C. Ikeda, op.cit., S. 41 ( = MS. S. 7).
32. Adam, op.cit., S. 60 f.
33. E. Lamotte, Histoire du Bouddhisme Indien, Louvain 1958, S. 511 f.
34. In der iranisch-semitischen Kulturbegegnung, bes. im Bereich der Li¬
teratur, scheint jedenfalls eindeutig das parthische Element zu dominie¬
ren; vgl. Widengren, op.cit., S. 35 u.ö.
35. Hennecke-Schneemelcher , op.cit., S. 300.
36. Oben S. 898; vgl. Adam, op.cit., S. 60 f.
37. P. Kwella, Osadhiparivarta. A Critieal Analysis, in: Panjab University
Research Bulletin (Arts), Chandigarh, Okt. 1973, S. 71-85.
38. Auf die Ähnlichkeit der gnostischen und buddhistischen Anschauungen hat
zuerst Chr. Lassen, Indische Altertumskunde, Bd. III, 1858, S. 379 ff.
hingewiesen. Seine Vergleiche beziehen sich vor allem auf die Lehre von
der Wertlosigkeit der weltlichen Dinge, den Gegensatz Geist - Materie,
die Darstellung der Weltschöpfung als Emanation, sowie die hohe Bedeu¬
tung der "Gerechtigkeit" bei Buddhisten und Gnostikern; ein Vergleich
auch der Einteilung der Menschen in drei Klassen bei den Gnostikern mit
der triguna-Lehre des Sämkhya. Direkte Textvergleiche hat Lassen nicht
unternommen.
Danksagung
An dieser Stelle will ich es nicht versäumen, Herrn Prof. Watanabe für die
Beschaffung, besonders aber Fr. A. Belleville für die Ubersetzung des o.e.
Artikels von C. Ikeda aus dem Japanischen, das ich leider nicht beherrsche,
ganz herzlich zu danken.
Besonders hilfreich war mir auch die "Bibliography of the Sanskrit Texts of
the SaddharmapundarTka-Sütra" von A. Yuyama (Canberra 1970; Oriental
Monograph Series No. 5), welche mir der Autor dankenswerterweise für
einige Zeit zur Verfügung stellte.
Eine Reihe nützlicher Hinweise verdanke ich Herrn Dr. F. Böhl, Freiburg
(Judaistik), sowie Herrn Prof. Dr. J.F. Sprockhoff.
ZUR GEGENWÄRTIGEN SITUATION INDISCHER LITERATUREN Von Lothar Lutze, Heidelberg
Im folgenden handelt es sich um den Versuch einer Beschreibung literari¬
schen Wandels aus strukturalistischer Sicht. Dabei sind Beobachtungen zu¬
sammengefaßt, die sich auf eigene Feldforschungen im Bereich der Hindi-,
Bengali- und Kannadaliteratur und Einsichten in andere indische Regional-
litaraturen stützen, die vor allem in den alljährlichen Interregionalen Semi¬
naren am Südasien-Institut der Universität Heidelberg gewonnen wurden.
Literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit einem Text - man kann es
in diesem Kreis nicht oft genug betonen - , das kann doch nur heißen, ihn
als das anzugehen, als was er in der Regel von einem Autor konzipiert und
von einer Mehrzahl von Hörern oder Lesern rezipiert ist: als ein Stück Sprach-
Kunst. Angesichts des umfaingreichen und vielseitigen methodischen Instumen-
tariums, das andere, sich weniger exotisch gebende Literaturwissenschaften
inszwischen bereitgestellt haben, ist es an der Zeit, daß auch die orientalisti¬
sche Literaturwissenschaft aus der naiven Referierhaltung heraustritt, die vie¬
le ihrer Publikationen immer noch kennzeichnet, und sich dieses Instumenta-
riums, wählerisch wohl, bedient, um es eines Tages ihrerseits zu bereichern.
Nicht unterschätzt werden sollen dabei Schwierigkeiten, denen sich der
interkulturell arbeitende Orientalist ausgesetzt sieht: besondere kommunika¬
tive Hemmnisse, die man gern mit dem informationstheoretischen Terminus
'cultural noise' (kulturelles Rauschen) bezeichnet. Es geht, etwas weniger
modisch-technologisch formuliert, um die Gefahr des Mißverstehens beim Hin
und Her zwischen zwei Kulturen. Ihr zu erliegen, führt nicht selten dazu, daß
man externe, importierte Kategorien über Erzeugnisse der anderen Kultur
stülpt und diese dadurch verfälscht.
Eine denkbare Antwort auf diese Schwierigkeiten wäre die Behandlung indi¬
scher Gegenwartsliteratur anhand von Kriterien traditioneller indischer Litera¬
turtheorie. Doch das würde für uns, die bei aller Akribie und Einfühlung Außen¬
stehenden, zum erkenntnistheoretischen Problem; für den indischen Literatur¬
wissenschaftler und -kritiker ergäben sich Probleme vor allem aus der norma¬
tiven Handhabung solcher Kriterien, wie der Versuch Dr. Nagendras zeigt, die
Rasa-Theorie für die literarische Moderne zu reaktivieren.
Eine andere Möglichkeit, analog zur Bemühung um linguistische Universalien,
wäre die um literatur- und kunstwissenschaftliche Universalien, mit dem Ziel,
eine interkulturell anwendbare methodische Grundlage zu gewinnen. Dazu könn¬
te, ja müßte auf längere Sicht auch die indische Literaturtheorie und Ästhetik
Wesentliches beitragen. Inzwischen erscheinen uns für ein solches Vorhaben
die Arbeiten des sowjetischen Strukturalismus - wie schon die seiner Vor¬
gängerin, der russischen formalistischen Schule - besonders ergiebig, sind
sie doch von Hause aus stark (l) kulturtypologisch und (2) volksliterarisch
orientiert. Beide Aspekte sind für den orientalistischen Literaturwissenschaft¬
ler, dessen Forschungsgegenstand (l) interkulturell, wenigstens im moder-