Seite eins
A
ktivitäten des Junior-Part- ners der Bonner Regie- rungskoalition, der FDP, und der Zwischenbericht zu ei- nem vom Bundesgesundheitsmini- sterium vor Jahresfrist in Auftrag gegebenen Gutachten des Sach- verständigenrates für die Konzer- tierte Aktion im Gesundheitswe- sen lockten den sozialpolitischen Experten der SPD-Bundestags- fraktion, Rudolf Dreßler MdB, zugleich stellvertretender Vorsit- zender seiner Fraktion, aus der Reserve: Bei einem Expertenfo- rum der SPD-nahen Friedrich- Ebert-Stiftung in Bonn, wandte er sich gegen angebliche Pläne, die Krankenversicherung zu entsoli- darisieren und das Krankheitsrisi- ko weitgehend zu reprivatisieren.Die Absicherung gegen Krank- heitsrisiken müsse eine dauerhaf- te Solidarveranstaltung bleiben;
sie vertrage keine liberalistischen Experimente.
Bei Dreßler und der SPD herrscht immer noch das alte Kli-
SPD-Gesundheitspolitik
Widerstand
schee vor, die gesetzliche Kran- kenversicherung sei nur deswegen
„sozial" und werde den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft ge- recht, wenn sie alles und jedes und auch nicht mehr sicherungsbe- dürftige Personenkreise in ihren Kreisen rekrutiert. Aus dieser schiefen Sicht ist schon die Aus- grenzung obsoleter, nicht versi- cherbarer und versicherungsfer- ner und -fremder Leistungen aus der Krankenversicherung ein Sün- denfall und eine Kampfansage ge- gen das Solidaritäts- und Versi- cherungsprinzip. Schon die Unter- scheidung des Leistungskatalogs in Grund-/Regelleistungen und dazu individuell gestaltbare Wahl- leistungen bezeichnet Dreßler als
„leistungsmäßigen Doppelstan- dard". Seiner Meinung nach wür- de eine Vermischung zweier Sy-
steure mit unterschiedlichen Vor- aussetzungen das Solidarprinzip auszehren. Dies müsse auf den Widerstand der SPD treffen.
Sicher werden mehr Eigen- verantwortung und Preissteue- rung verkürzt mit Selbstbeteili- gung gleichgesetzt. Die Politik wird verdeutlichen müssen, daß es bei der dritten Reformstufe nicht, wie die SPD befürchtet, um Ent- solidarisierung, Reprivatisierung und Leistungsabbau geht, sondern vielmehr um Effizienzsteigerung, Umbau und Prioritätensetzung.
Daß das „therapeutisch Gebote- ne" geleistet werden muß — mit dieser Forderung rennt Dreßler auch bei der Ärzteschaft offene Türen ein. Niemand plädiert schließlich dafür, die GKV nur noch auf eine medizinische Basis- versorgung zu „redressieren". HC
W
as ist eigentlich in der deutschen politischen Landschaft noch ver- ständlich? 61 Milliarden DM ga- ben Bundesbürger 1993 im oder für den Urlaub aus. Die Gewerk- schaften fordern die Viertagewo- che, obwohl sie mit unserer Wirt- schaft nicht vereinbar ist. Die Ge- werkschaften verlieren Mitglie- der, entlassen teilweise 10 bis 15 Prozent ihrer Mitarbeiter, strei- chen das 13. Monatsgehalt, wür- den aber, wenn es im öffentlichen Dienst ebenfalls abgeschafft wür- de, dagegen Sturm laufen. Neben- bei, für die niedergelassenen Ärz- te wie für andere Freiberufler hat es ein 13. Monatsgehalt nie gege- ben — sie haben allerdings als Steuerzahler dazu beigetragen, ein solches für den öffentlichen Dienst zu finanzieren.Wie in der Wirtschaft kriselt auch die gesamte Struktur des Deutschen Gewerkschaftsbundes
— und das aus machtpolitischen Gründen der Einzelgewerkschaf- ten. Ähnlich verhält sich auch die Berufspolitik der Ärzteschaft. An-
Demokratie
statt zusammenzurücken, um den freien Beruf des Arztes in der Ge- sellschaft gemeinsam zu vertreten, bildet sich je nach Fachrichtung ein Interessenverband, der gesell- schaftspolitisch irrelevant ist, aber eindeutig für die finanziellen In- teressen der einen oder anderen Spezialität eintritt.
Zur gleichen Zeit können sich die staatstragenden Parteien nicht über die Pflegeversicherung eini- gen, wobei die Problematik gera- dezu primitiv auf die Streichung eines zweiten Urlaubstages oder eines zweiten Feiertages reduziert wird. Das Nachsehen haben die Pflegebedürftigen, die dringend (auch) der finanziellen Hilfe be- dürfen. Über dieses Problem be- stimmen ausgerechnet Politiker, die, hinsichtlich ihrer Altersver- sorgung selbstbestimmend, keine Sorge für eine eventuelle Pflege- absicherung zu haben brauchen.
Warum eigentlich lassen wir Bürger uns, wenn auch von demo- kratisch gewählten Politikern und gesellschaftspolitischen Vertre- tern (wie einzelnen Kirchenfür- sten) in dieser wichtigen Frage
so leicht an der Nase herumfüh- ren? Die dringende Not pflegebe- dürftiger Patienten ist eine Ange- legenheit aller.
Wie wäre es, wenn man der deutschen Bevölkerung gerade bei der Pflegeversicherung die Mög- lichkeit gäbe, mit einem Mehr- heitsentscheid darüber zu befin- den, ob sie bereit ist, auf einen Ur- laubstag oder einen Feiertag zu verzichten?
Wie sagt Goethe zu Ecker- mann (1832): „Ich hasse alle Fu- scherei wie die Sünde, besonders aber die Fuscherei in Staatsange- legenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht." Horst Bourmer
Nachtgedanken
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 7, 18. Februar 1994 (1) A-385