Während die theologische und juristische Fakultät im- mer einen engen Kontakt zur Medizin eingehalten haben — ob immer zu deren Nutz und Frommen, steht dahin —, hat die Philologie, insbesonde- re die Sprachwissenschaft, mehr auf Abstand Wert ge- legt, wohl wegen der rauhen Umgangsformen der Medizi- ner im allgemeinen und mit der Sprache im besonderen.
Schließlich hatten ja die an- gehenden Mediziner früher, wie sie selbst, auf der Schule die Grundbegriffe der latei- nischen und griechischen Sprache kennengelernt.
Mochten Sie sehen, wie sie damit zurecht kamen.
Tatsächlich wunderte man sich zunächst als junger Me- dizinstudent, wie gut sich der menschliche Körper an die vielen lateinischen und grie- chischen Worte angepaßt hatte. Daß die Betonung da- bei etwas schlecht weg kam, nahm man gerne in Kauf.
Eine erste Ernüchterung er- fuhr ich als Medizinalassi- stent: Ich ging eines Tages hilfesuchend mit einem Rönt- genbild zu meinem Oberarzt, um etwas über die Beurtei- lung des Dargestellten und die einzuschlagende Behand- lung zu erfahren. Nach weni- gen Sekunden Betrachtung des Röntgenbildes gegen das Fenster des Krankenzimmers drückte dieser mir unwirsch das Röntgenbild wieder in die
Hand mit den Worten: „Nihil venit ex!" Ich übersetzte: Da kommt nichts bei rum! und schlich geknickt von dannen.
Seit dieser Zeit bin ich auf kri- tischer Distanz zum Sprach- verständnis der Mediziner ge- blieben.
Vor gar nicht langer Zeit hielt ich eine Kosmetikreklame in der Hand, in der die mensch- liche Haut (Cutis) als „größ- tes Körperorgan" bezeichnet wurde.
Da ich kein Dermatologe, sondern Orthopäde gewor- den bin, stutzte ich: Mit der Größe fand ich mich einver- standen, denn die Haut be- deckt, von einigen — nur der Größe nach unbedeutenden — Öffnungen abgesehen, tat- sächlich den ganzen Körper.
Hat sie auch die Merkmale ei- nes Organon?
Ein lebendiges Gefüge, etwas bewirkend, eine Funktion ausübend, so wie Aristoteles es schon definiert hat? Ich mußte eingestehen, daß die Haut ein Organ ist, und als Or- thopäde sah ich zum ersten
Mal neidvoll auf die Kollegen von der Dermatologie, ob die- ser Einsicht.
Als ich vor mehr als dreißig Jahren die Gefilde der Ortho-
pädie betrat, bin ich über ei- nen „Apparat" gestolpert, daß mir meine sprachlich sensibilisierten Schienbeine erheblich schmerzten: Es war
der „Haltungs- und Bewe- gungsapparat". Dieser Appa- rat hat sich als überaus dau- erhaft und zählebig erwiesen.
Allen Versuchen, ihn zu erset- zen und auszutauschen durch die Bezeichnung: Hal- tungs- und Bewegungsorga- ne, hat er verbissen getrotzt.
Dabei sollte niemand besser als der Orthopäde wissen, was ein Apparat ist. Vom la- teinischen „Apparatus" her zunächst eine „Gerätesamm- lung, ein Gerümpel". So hat schon 1528 Paracelsus dieses Wort gebraucht.
Das tote Gestänge mit der Le- derwalkhülse, das wir als Schienenhülsenapparat ver- ordnen, muß oft genug einen Teil der Haltungs- und Bewe- gungsorgane tragen und soll- te auch sprachlich als nicht zum lebendigen Organismus gehörig erkannt werden kön- nen. So wurde ein Apparat mit dem anderen abgestützt, und niemand hat Anstoß dar- an genommen.
Jüngst hat sogar ein eidge- nössischer Fachkollege ein ganzes Buch dem „Haltungs- und Bewegungsapparat" ge- widmet unter vielfachem Bei- fall der Zensoren — wegen des Inhaltes, versteht sich.
Solange wir nicht schließlich doch noch durch einen Robo- ter ersetzt werden wollen, sollten wir uns mit unseren Haltungs- und Bewegungsor- ganen auch fürderhin munter fortbewegen.
Sollten wir nicht dankbar übereinkommen, sie auch als Organe zu bezeichnen, statt sie als „Apparat" abzuqualifi- zieren?
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Heinrich Book Kolpingstraße 20 4401 Sendenhorst
Organ oder Apparat?
Gedanken zur Sprache der Mediziner Heinrich Book
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
KULTURMAGAZIN
1560 (88) Heft 19 vom 11. Mai 1984 81. Jahrgang Ausgabe A