Mit dem Namen Lyonel Feininger verbindet man Bil- der von Segelschiffen und ge- heimnisvollen Architektu- ren, Bilder, in denen geome- trische Formen mit transpa- renten Farbüberlagerungen im Vordergrund stehen und figürliche Darstellungen feh- len. Zum ersten Mal präsen- tiert die Ham-
burger Kunst- halle jetzt eine Retrospektive seiner Werke.
Mit 16 Jahren immigriert Lyo- nel Feininger nach Deutsch- land. Er beginnt noch im sel- ben Jahr seine künstlerische Ausbildung an der Allgemei- nen Gewerbe- schule in Ham- burg und wech- selt dann an die Kunstakademie in Berlin über.
Schon 1890 er- scheinen seine ersten Karika- turen. Bedingt durch die druck- technischen Mög-
lichkeiten, sind die humoristi- schen Zeichnungen und Kari- katuren zunächst auf die kla- re Strichzeichnung begrenzt.
In Deutschland war das Werk von Wilhelm Busch für eine ganze Generation von Zeich- nern prägend, so auch für Fei- ninger. Doch schon bald kann sich Feininger von seinem Vorbild Busch lösen: Statt der runden fließenden Linie Buschs findet er zu einem harten, kantigen, die Figuren umfassenden Strich, der die Formen zu flächigen Silhou- etten werden läßt. Zusätzlich entwickelt er ein irreales Spiel mit perspektivischen Verkürzungen und monu-
mentalen Vergrößerungen, mit denen er seinen Darstel- lungen Bedeutung verleiht.
Erst 1910 kann Feininger seinem Bedürfnis nach künstlerischer Unabhängig- keit nachkommen; bis dahin zwingt ihn seine finanzielle Si- tuation, sich dem Diktat der Verleger zu unterwerfen. In-
spiriert von seinem Aufent- halt in Paris im Sommer 1906 und unabhängig von dem Druck der Redakteure, kann er den Schritt von der inhalt- lich zweckgebundenen Kari- katur zur Groteske vollzie- hen. Seine Zeichnungen „La Belle“ und „Frauen in Aus- stellung“ legen davon Zeug- nis ab. 1911 kommt Feininger während eines erneuten Auf- enthaltes in Paris mit den Ku- bisten in Kontakt. Diese Be- gegnung ist für ihn, der schon seit einiger Zeit nach neuen Ausdrucksformen sucht, ein anregendes und zugleich auch einschneidendes Ereignis.
Die Architektur, die bisher nur als Kulisse fungierte, wird nun zum Hauptmotiv, die Fi- gur hingegen verliert die do- minante Rolle. Hauptmotive werden für längere Zeit jetzt Kirchen und Segelschiffe.
Als 1914 der Erste Welt- krieg ausbricht, entwickelt Feininger eine neue Aus- drucksform, einen Krakelstil, der sich durch einen zittrigen Verlauf der Linien und durch einen unpräzisen Farbauf- trag auszeichnet. Gegen En- de des Ersten Weltkrieges entfernt sich Feininger zu- nehmend von der kubisti- schen Bewegung, da er sich
gegen deren Reglementie- rung und Depersonalisierung wehrt. Seine unzeitgemäßen und mit persönlichen Erleb- nissen verknüpften Motive beziehungsweise die Gestal- tung unzeitgemäßer Szenen zeichnen seine Zeichnungen und Aquarelle aus: Malen am Ende der Welt. Als Stadt am Ende der Welt bezeichnete er bereits die um 1908 entstan- denen fiktiven Städte und fik- tiven Figuren, ebenso die für seine Kinder aus Holz ge- schnitzte und selbst bemalte Spielzeugstadt, die erstmals im Rahmen dieser Ausstel- lung zu sehen ist.
1919 erhält Feininger den Posten eines „Meisters der Form“ am staatlichen Bau- haus in Weimar und danach in Dessau. Intensiv beschäf- tigt er sich in dieser Zeit mit drei Themenbereichen: Ar- chitektur, Wolken und Schif-
fen. 1937 emigriert er nach Amerika, da im nationalso- zialistischen Deutschland sei- ne künstlerische und wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau auch seine physi- sche Freiheit bedroht sind.
Das in New York entstehende Spätwerk setzt sich einerseits intensiv mit seiner neuen Um- gebung auseinander, stützt sich aber andererseits auch auf Erinnerungen an die früher bearbeiteten Motive.
Dr. med. Kirsten Stollhoff A-485 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 9, 27. Februar 1998 (53)
V A R I A FEUILLETON
Lyonel-Feininger-Ausstellung
Malen am Ende der Welt
Umfassende Retrospektive der Zeichnungen und Aquarelle
Lyonel Feininger: „Ohne Titel“ (Der rote Geiger), 1915,
Tusche, Aquarell Fotos: Elke Walford
Lyonel Feininger: „Im Passat II“, 1935, Tusche, Aquarell
Die 166 Zeichnungen und Aquarelle umfassen- de Lyonel-Feininger-Aus- stellung gibt nicht nur einen außerordentlichen Überblick über das Werk des Künstlers, sondern sie ermöglicht auch dem Zu- schauer, Feiningers künst- lerischen Werdegang im historischen Kontext nachzuvollziehen. Ein reich bebilderter Katalog ist für 38 DM erhältlich.
Die Ausstellung ist bis zum 5. April in Hamburg, Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, zu se- hen. Danach wird sie bis zum 28. Juni in Tübingen zu besichtigen sein. KS