Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 21⏐⏐26. Mai 2006 AA1451
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in alten Riten. Dabei sind die Denk- und Erfahrungsansätze der Klassiker wie Freud, Janet u. a. keinesfalls zu verwerfen.
Sie müssten nur voll ausge- schöpft und konsequent ange- wendet sowie durch zeit- gemäße Anpassungen ergänzt und wirtschaftlicher gemacht werden. Ein erster Schritt wä- re, den Entschluss des Betrof- fenen, sich mit der Störung auseinander setzen zu wollen, zu begrüßen und zu befördern.
Die unbedingt notwendige Empathie reicht in praxi noch nicht einmal dafür aus. De- pressive vermögen den Kampf um eine wirksame Therapie nicht gut zu führen und blei- ben häufig auf der Strecke. Ich kenne schwere Fälle, die u. a.
mehrfach dem Psychiater vor- gestellt worden sind und auch nach fünf Jahren weder eine medikamentöse noch eine the- rapeutische Behandlung er- halten haben. Auch berichten Patienten immer wieder, dass sie sich von Ärzten und Thera- peuten nicht angenommen fühlten, vielmehr in ihnen ob ihrer Schmerzen und ihres Leids Versagens- und Schuld- gefühle erzeugt worden sind, ohne dass ihnen ein Ausweg aufgezeigt worden wäre. Der Vorwurf trifft . . .
Brigitte Gibtner,Hanns-Eisler-Straße 2, 10409 Berlin
Längst überfälliger Artikel
Vielen Dank für diesen über- fälligen Artikel. Die genannten sozialepidemiologischen Da- ten sickern ja seit langem in unser fachärztliches und auch das öffentliche Bewusstsein, aber es ist immer wieder not- wendig, sie zu bestätigen und breit zu diskutieren. Hierbei ist
der ausdrückliche Verweis auf wesentliche gesellschaftsdyna- mische Faktoren („Primat der Ökonomie“ und „Instabi- lität“), die zu dieser Entwick- lung zunehmender psychischer Erkrankungen und dadurch bedingter sozialer Kosten bei- tragen, von grundsätzlicher und entscheidender Bedeu- tung. Ich war sehr froh, dies im DÄ einmal so klar und unge- schminkt lesen zu kön- nen . . . Es reicht aber nicht mehr, hier allgemein „die Poli- tik“ und „die Gesellschaft“ als Verantwortungsfaktoren zu benennen. Längst ist ja jeder Einzelne als Arzt, als Thera- peut und als Patient selbst zum Kleinunternehmer in Sachen Lebensentwicklung geworden, die diesem Ökonomiegebot nicht nur unterworfen sind, sondern es selbst vertreten – sich und anderen gegenüber.
Insbesondere im psychothera- peutischen und psychosomati- schen Alltag der ambulanten Praxis finde ich deutlich zu- nehmend, wie Menschen an sich selbst und den Therapeu- ten den impliziten Anspruch einer Art „Psycho-Optimie- rung“ stellen, um den An- sprüchen des „Marktes“ an Ef- fizienz und Flexibilität bis in alltäglichste Interaktionen hin- ein gerecht zu werden. Ange- sichts der im Artikel genann- ten sozialmedizinischen Daten führt dies nur zu einer weite- ren Schleife im Teufelskreis der (Selbst-)Ausbeutungsver- hältnisse in allen Lebensberei- chen mit entsprechenden – epi- demischen – gesundheitlichen Folgen. Insofern würde ich die provokative These wagen, dass das Gesundheitssystem allge- mein und die psychotherapeu- tische Versorgung im Speziel- len paradoxerweise an der strukturellen Verstärkung an-
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kürzen. DÄ
aus vermeiden aber auch wir Behandler die Auseinanderset- zung mit diesen Themen und die Beachtung der therapeuti- schen Beziehung, die umso mehr Bedeutung bekommt an- gesichts immer unsicherer so- zialer bzw. emotionaler Bezie- hungen in Partnerschaft, Fami- lie und Beruf, worauf im Bei- trag hingewiesen wurde. Statt- dessen sind wir damit beschäf- tigt, die Praxisgebühr und ihre Ausnahmebestimmungen zu beachten, uns mit den Bestim- mungen und Verträgen für neue Versorgungsstrukturen zu befassen oder Vorschriften zu Qualitätssicherung und -management umzusetzen, die weit über sinnvolle Ziele hin- aus zu mehr Bürokratie und Bearbeitung von Nebensächli- chem führen, insbesondere in den oft kleinen, personallosen psychiatrischen und psychothe- rapeutischen Praxen. Wo aber bleibt die „Qualitätssicherung“
in der Arzt-Patient-Beziehung?
Monatelanges Warten auf Ter- mine, stundenlanges Warten in der Praxis, eigene Wartezim- mer für Privatpatienten, Fokus- sieren auf IGeL-Leistungen, nur wenige Minuten für das Gespräch, viel und teurer Auf- wand für nicht nachvollziehba- re Technik mit wenig Output, fremdwörtergetränkte Er- klärungen ohne Blick für das Bedürfnis des Gegenübers, allgemeine Vertröstungen, är- gerliches Ablehnen oder stille Verbündung durch übertriebe- ne Atteste, all das trägt nicht zu einer aufrichtigen und offenen, manchmal dann vielleicht auch konflikthaften zwischen- menschlichen Beziehung bei, wie es sie sonst im wirkli- chen Leben auch gibt. Eine Entindividualisierung zeigt sich also im gesellschaftlichen, wirt- schaftlichen und sozialen Be- reich, aber auch im Medizinbe- trieb. Die Betonung der Huma- nität durch die Autoren und der Appell nach mehr Beach- tung der zwischenmenschli- chen Beziehungen sollte daher gerade auch für uns in der all- täglichen Arbeit mit Patienten Anstoß sein. Allein die emp- fohlene frühzeitige Erkennung psychischer Erkrankungen durch Screeningverfahren und
vermehrte Gabe von Antide- pressiva führen vor diesem Hintergrund einer häufig inter- aktionell bedingten Störung kaum weiter, da Medikamente die auch im Beitrag der Auto- ren skizzierten wirtschaftlichen und sozialen Probleme kaum lösen können . . .
Dr. med. Andreas Meißner, Tegernseer Landstraße 49, 81541 München
Wolfgang A. Mozart
Zu dem Leserbrief „Ergänzungen“
von Priv.-Doz. Dr. med. Ralf Weigel und Prof. Dr. med. Joachim K. Krauss in Heft 15/2006:
Schönheitsfehler
Weigel/Krauss kommen an- hand der Betrachtung von Mo- zarts Schädel zu der Hypothe- se, ein chronisch subdurales Hämatom könnte in Verbin- dung mit dem Aderlass die fi- nale Todesursache gewesen sein. Die Hypothese hat nur ei- nen Schönheitsfehler, der in Salzburg von der Internationa- len Stiftung Mozarteum aufbe- wahrte „Mozart-Schädel“
stammt mit an Sicherheit gren- zender Wahrscheinlichkeit nicht von Mozart. Zehn Jahre nach Mozarts Tod wurde sein Schädel bei einer routinemäßi- gen Leerung des Grabes an- geblich durch den Totengräber Rothmayer gerettet. Erst 1842, also mehr als 40 Jahre später, wurde er von einem der Nach- folger des Totengräbers dem Kupferstecher Jakob Hyrtl übergeben, aus dessen Nach- lass er 1868 an seinen Bruder, den berühmten Wiener Ana- tom Joseph Hyrtl, gelangte, welcher den Schädel mit Lud- wig August Frankl untersuchte.
Hyrtl vermachte den Schädel der Stadt Salzburg, wohin er erst 1902 gelangte. Bis 1940 war er in Mozarts Geburtshaus ausgestellt. 1989 gab die Inter- nationale Stiftung Mozarteum ein Gutachten in Auftrag. Die Untersuchung arbeitete mit der Methode der Weichteilre- konstruktion des Gesichts und deren Vergleich mit Mozart- Bildern. Sie endete mit einem positiven Gutachten, welches A
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statt der Aufweichung dieser Faktoren beteiligt ist (wenn Letzteres überhaupt möglich sein sollte, was eine andere, auch gesellschaftsphilosophi- sche Frage ist). Den erwähnten Voraussetzungen seelischer und körperlicher Gesundheit („stabile soziale Beziehungen, Klarheit, Zielorientierung und Sicherheit“) kommt dabei nämlich eine aus sozialmedizi- nischer und psychotherapeuti- scher Sicht wesentliche Bedeu- tung zu: Kaum jemand erkennt an, dass diese wahrscheinlich auch nur zu dem „Preis“ zu- mindest kurz- und mittelfristig geringerer auch individuell- persönlicher (lebens-)ökono- mischer Effizienz nach gegen- wärtigem Verständnis zu haben sind. Auch die Autoren trauen sich dann leider nicht, in dem Artikel die eingeschlagene Richtung in dieser Hinsicht weiterzudenken . . . Sie schrei- ben: „Auch psychotherapeuti- sche Angebote müssen sich da- bei Fragen nach Qualität, Ef-
fektivität und Effizienz stel- len.“ So richtig das in der kon- kreten Auseinandersetzung um einzelne Fragen innerhalb des Ökonomieprimates sein mag:
Vor dem aufgestellten epide- miologischen und sozialpsy- chologischen Hintergrund klingt dies wie von jemand an- derem geschrieben. Die „Wie- derentdeckung der Huma- nität“, wie der Schlusssatz so pathetisch wie wahr formuliert, wird nicht primär durch Qua- litätsmanagement geschehen – dies wäre ein fundamentales,
kategoriales Missverständnis –, sondern durch eine (auch phi- losophisch reflektierte) Hal- tung der Aufklärung, die den Kollegen und Patienten zumu- tet, dass Gesundheit auch den Preis von Effizienzverzicht ko- sten kann, und dass die Dialek- tik der Lebensführung nicht
„Gesundheit“ und „Gewinn“
zugleich maximieren kann . . . Dr. Andreas Pernice,
Hohenlohestraße 32, 28209 Bremen
Mehr Humanität als Anstoß für Ärzte
Erfreulicherweise weisen die Autoren auf die Bedeutung der zunehmenden psychischen Er- krankungen auch im Zusam- menhang mit der ökonomi- schen Situation hin . . . Die ge- genwärtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben auch unmittelbaren Einfluss auf die Behandlung, angefan- gen von den zunehmenden Ko- sten für die Patienten, z. B.
durch Praxisgebühr und Zu- zahlungen, bis hin zu therapeu- tischen Inhalten, wo mit einem glaubhaft von „Mobbing“ bzw.
Belastungsreaktionen geplag- ten Patienten nicht mehr be- hutsam auf einen Stellenwech- sel hingearbeitet werden kann im Sinne der Übernahme per- sönlicher Verantwortung für das eigene Schicksal zur Bekämpfung der Ohnmachts- gefühle. Vielleicht aus eigener Hilflosigkeit, Unzufriedenheit und psychischer Belastung z. B.
durch die Praxissituation her-
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