Das Wesen des Talmud.
Von Lazar Gulkowitsch.
Wer an das eigentliche Studium des Talmud herantritt,
muß zimächst Wesen, Inhalt und Bedeutung dieses Werkes be¬
trachten. Die Weltanschauung des Judentums liegt in ihm be¬
schlossen, denn in ihm finden wir die Faktoren, die jede eigent¬
liche Weltanschauung voraussetzt. Um aber eine philosophisch
haltbare Weltanschauung bilden zu können, muß man die Welt
und ihr Geschehen nicht als ein bloßes Neben- und Nachein¬
ander der verschiedenartigsten Dinge und Ereignisse betrachten,
sondern als ein einheitliches Ganzes. Die Anschauungen und
die Erkenntnisse der einzelnen Dinge und Geschehnisse müssen
von einer hohen Warte aus zu einer Gesamterkenntnis der Welt
zusammengefaßt werden, aus der dann das Wesen, der Sinn
und der Wert alles Lebens klar entgegentritt^). Diese Zu¬
sammenfassung ermöglicht erst dem suchenden Menschen die
tiefere Deutung aller Vorgänge. Sie geschiebt dadurch, dal.l
die ErkenntnisbegrifFe, deren Ordnung in unter-, über- und
nebengeordnete Begriffe uns die Logik gibt, so gruppiert werden,
daß man aus ihnen schließlich den höchsten, den allgemeinsten
Begriff, den conceptus cosmicus gewinnt*). Dieser wird zum
Ausgangs- und Angelpunkt jedes weltanschauenden Systems, er
steht im Mittelpunkt einer jeden originalen Philosophie.
Snchen wir den Schlüssel zum Werk eines Klassikers, sei
es der Künste, sei es der Wissenschaften, so müssen wir stets
nach diesem höchsten leitenden Begriff suchen und können sicher
sein, einen derartigen Leitgedanken überall zu finden. Bei Plato
ist es die Idee, bei Aristoteles die Form, bei Demokrit die
Bewegung, bei Galen der Körper, bei Maimonides die Seele»
1) Vgl. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen 1919 S. .'119 !l.
2) Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft 8.633; Kraeft, Weltbegriir und; Erkenntnisbegriff 1912. S. 1 ff.
112 I.iix.ar liulkowitsch, Das Wesen des Talmud.
l)oi Descartes die angeborenen Ideen, cogito ergo sum, bei Spi¬
noza die notiones communes, bei Leibniz die individuelle Einzel¬
kraft, die Monade, bei Kant Raum und Zeit nnd transzendentale
.Apperzeption*), bei Goethe Pantheismus, bei Ilebbel Harmoni¬
sierung der Polarität, bei Wagner die Erlösung, bei Einstein
Bewegung in relativen Einheiten.
Drei Stadien sind es, in denen sich deu Großen ihre Welt-
an.«cliauung gestaltet hat:
In der Zeit seiner Entwicklung sammelt der erwachte
Geist aus der Mannigfaltigkeit der Eindrücke seiue .Vnschau-
ungon, Begriffe und Erkenntnisse, und langsam, wie seine eigene
Porsönlichkcit sich formt, bildet sich ihm eino Totalanschnuung.
oino Gosamtorkonntnis, ein allgemeinster Begriff.
Hat er so dio Leitlinie seines schöpferischen Ichs gefunden,
t-d gtdit er au die Schaffung oinos eigenen Systems, an
dio Gestaltung seines Lebenswerkes, an d(!m sich nur seine Per¬
sönlichkeit entfaltet und aus der Fülle des Erkannten dio Welt
und ihro Inhalte durchdringt. Daran knüpft sich dann dio Zoit
dor Vollendung und des Abschlusses, in der die Lebensarbeit
ihre lirönung liudet in ausgestaltender Fortsetzung einerseits,
in strenger Selbstkritik anderseits.
So will der Geist dos schaffenden Menschen begriffen soin.
Doch wir müssen unsere Aufmerksamkeit auch auf den Geist
oinos Zeitalters richten, müssen nach dem Gehalt und dem
(/harakter oiner ganzen Epoche forschen. .Vuch hier sind os
gewisse abstrakte Begriffe, die jedem Zeitabschnitt sein boson-
doros Gepräge geben. Vor allem sind es geistige Bewegungen
und Strömungen, die die Menschheit ihrer Zeit erfassen und
i)odingen und somit oft oin ganzes Jahrhundert und noch größere
Zeiträume, oft cin ganzes Volk, manchmal auch die ganze
Menschheit bewegen und umgestalten. Die Weltgeschichte ist
reich an solchen weltbewegenden Kräften ; hier seien nur einige
Stichw^orte aus der neuen Zeit herausgegriffen: Humanismus,
Reformation, Aufklärung, Weltbürgertum, Romantik usw. Haben
wir nun dieso beiden Komponenten, den Geist des schöpferischen
Menschen imd den Geist ganzer Zeitabschnitte kurz betrachtet,
1) Vgl. Kant, Kr. d. r. Venisnit 121 ü.
Lazar Tiulkowitsch, Das Wesen des Talmud. 113
so wollen wir nun diose Resultante ziehen und unsern Blick
auf die Wechselwirkungen dieser beiden richten.
Wenn wir in unserm Falle an ein Werk wie den Talmud
herantreten, so genügt es nicht, daß wir uns mit seinen vielen
Verfassern beschäftigen, die großen Talmudisten, dio Tannaim
charakterisieren, ihrer Weltanschauung nachspüren, worauf sich
leider bisher die Talmudforschung allzusehr beschränkt hat*).
Und ebensowenig reicht es aus, wenn man den zeitgeschicht¬
lichen Hintergrund aufzuhellen sucht, eine Mühe, der sich viele
Historiker erfolglos unterzogen haben'-). Erst die Betrachtung
der gegenseitigen Einttüsst; kann uns dem Verständnis des
Tiilmud näherbringen. Wenn wir bedenken, daß dieses einzig¬
artige Denkmal der Weltliteratur mehr als 15 Jahrhunderten
seine Entstehung vordankt, daß os fast zwei Jahrtausende in
lebendig wechselnden Formen der Tradition bestand, ehe es in
bestimmter Form seinen Niederschlag fand, so erkennen wir,
daß hier jode einseitige Bolouehtung uns nicht näherbringen
kann. Das meint auch Grätz, wenn or sagt: „Dor Talmud ist
nicht als ein gewöhnliches Schriftwerk, aus 12 Bänden bestehend,
zu betrachten, hat überhaupt mit keinem einzigen Literatur-
orzeugnis oino innere Ähnlichkeit, sondern bildet ohne Redofigui'
oino eigene Welt, welche nach ihren (ugenen Gesetzen beurteilt
seiu will. Es ist darin so außerordentlich schwor, oine Charak¬
toristik derselben zu entwerfen, weil dazu alle Maßstäbe und
.Analogien fehlen ; sie dürfte dahor kaum dem Bogabtesten ge¬
lingen, wonn or auch tief in dessen Wesen eingedrungen und
mit dossen Eigentümlichkeitou innigst vertraut wäre'')."
Trotz dioses Hinweises dos jüdischen Historikers auf die
Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens möchte ich es doch
versuclien, den gegenseitigen Einflüssen der talmudiscben Zeit
und des tnlmudischon Werkes nachzugehen.
Wenn wir den Ablauf der Geschichte dos jüdischen Volkes
näher betrachteu, so treten uns drei Dinge immer wieder vor
Augen: Leiden, Holten und Denken. Aus allem Unglück und
1) Wie z. 15. Grätz in „Geschichte der Juden' Bd. 4, Einleitnng u.
Kitp. 4 Weill, in l"'CTiT! -i" n'w, Halevy in onilCX'in n'nw u. a.
■2i Jost, (ieschichte des Judentums Bd. U. Lpz. 18.58.
3) Geschichte der Juden.
114 Lazar Gulkowitsch, Das Wesen des Talmud.
jeder Not erwuchs immer aufs neue mit unverwüstlicher Kraft
die Hoffnung auf eine Besserung, auf den schließlichen Sieg
des Guten und Schönen, und das Denken schlug die Brücke
aus der leiderfüllten Gegenwart in die lichtvollere Zukunft, ja
es schuf sich schon in der Trübsal der Zeit das erhoffte
Glück der Zukunft. Und alles Geschehen schwingt zwischen
zwei Polen: Erhaltung des Bestehenden und Entwicklung zu
Neuem. Stets wurde das Neue aus dem Bestehenden abgeleitet
und dadurch begründet. Die ganze Geschichte der jüdischen
Religion zeigt ein immer erneutes Anknüpfen und Ausspinnen
aus den ersten Anfängen'). Alle Kämpfe und Spannungen er-
naben sich lediglich aus dem Maß der Folgerungen aus dem
Alten ; nie aber — auch bei Jesus nicht — wurde religiöse
Revolution gepredigt.
Nun verstehen wir es, daß bei allen unleugbaren Beein¬
flussungen durch die Nachbarvölker iramer nur dasjenige über¬
nommen wurde, was dem Wesen des jüdischen Volkes und
seinem Werdegang ohnehin entsprach und in Vergangenem
schon irgendwie beschlossen lag. Immer wieder setzt es uns
in Erstaunen, mit welchem sicheren Instinkt durch Anpassungs¬
vermögen und Einfühlungsgabe drohende Katastrophen vermieden
und dennoch keine wirkliche Opfer der ureigenen Art und des
wirklichen Charakters gebracht wurden.
Vorwiegend gelang es sogar, nur das geistig Bereichernde
und kulturell Wertvollere zu übernehmen und dadurch das reli¬
giöse Gut auf immer höhere Stufen emporzuführen. So ver¬
stehen wir den Prophetismus der exilischen nnd nachexilischen
Zoit, der das Volk tatsächlich vor dem geistigen und sittlichen
Verfall zu bewabren vermochte dadurch, daß er in leuchtenden
Farben das Hoffnungsbild der Zukunft aiiszumalen verstand. Als
abor die Zeiten der Nebiim vorüber waren, da traten aus dem
Volk Soferim hervor, und ihr Verdienst ist es, das jüdische Volk
und seine Religion vor völliger Aufsaugung durch die zivilisa¬
torisch höherstehenden Nachbarvölker bewahrt zu haben. Auch
sio schöpften aus dem Alten. Bestehenden, sie lehrten und er¬
füllten das überkommene Gesetz.
1) Vgl. ]). Qiddiifin 1. ül".
Lazar Gullso witsch, Das Wesen des Talmud. 115
Doch wieder schlägt der Pendel der Geistesgeschichte nach
der Seite der Evolution hin aus. Das Bestehende wird weiter
gebildet, ausgesponnen und bereichert. Hier liegt die erste
Quelle der talmudischen Literatur.
So sehen wir anf Schritt und Tritt, wie aus dem ständigen
organischen Wachstum sich die Entwicklung der traditionellen
Anschauungen vollzieht und stets das Neugewordene auf dem
von alters her Bestehenden fußt und nur aus ihm begriffen
werden kann.
Damit gewinnen wu- einen wertvollen methodologischen
Hinweis, nämlich, daß die talmudischen Werke nur ganz un¬
vollkommen erkannt werden können, wenn sie als einzelne
Leistung ohne jeden erwähnten Zusammenhang aufgefaßt werden.
Weit wichtiger als ihre literarische Einzelbedeutung er¬
scheint uns die welthistorische Entwicklungstendenz, die aufzu¬
zeigen wir uns bemüht haben.
Kommen wir zu dem Inhalte des Talmud, so finden
wir in der einschlägigen Literatur eine Systematik'), die das
talmudische Schrifttum in Halakha und Haggada sondert und
diese wiederum in Ordnungen, Traktate, Abschnitte einteilt.
Gegenüber dieser Ordnung, die eigentlich allzusehr am Formalen
haften bleibt, wollen wir versuchen, lediglich dem Stoffe naeh
zu gruppieren. Bei der engen Verknüpfung des Talmud mit
der Thora können wir von diesem Gesichtspunkte ausgehend
auf den Gedankeninhalt des Talmud Schlüsse ziehen.
Es ist wohl bekannt, daß die Thora keineswegs allein reli¬
giösen Inhalts ist, sondern auch und sogar vorwiegend Rechts¬
satzungen und sonstige Ordnungen staatlicher Art gibt. Man
kann in ihr einen der ältesten Versuche erblicken, aus der Staats¬
form absoluter Despotie zu Form und Geist eines Rechtsstaates
zu gelangen. So enthält sowohl die Thora, wie auch dann der
Talmud religiös-theologische Inhalte neben Satzungen und Be¬
stimmungen juristisch-politischer Art. Systematisch können wir
diese anordnen in die Beziehungen von Mensch zu Gott y^z
STH? a^N und von Mensch zu Mensch i-.rn? onx -,■'3. Der histo-
1) Maimonides, Einleitung z. MiSnakommentar; Strack, Einleitung in d. Talmud S. 32 ff.
tlß Lazar Gulkowitsch, Dii,> Wesen des Tahnud.
rieche Werdegang war nnn der. daß es galt, die Anschauungen
der führenden Geister übor diese beiden Ptlicbtkreise der großen
iVfenge des Volkes beizubringen, sie populär zu machen und als
Tiadition in die Volksseele einzupflanzen. Dazu gab es zwei
Möglichkeiten, dio je nach dem Grade der Wichtigkeit gewählt
wurden, nämlich Halakha und Haggada.
Soit Bacher*}, dem sich die folgende Talmudwissenschaft
angeschlossen hatte, versteht man unter Halakha eine normierte
Satzung des mündlichen Religionsgesetzes, die verpflichtende
Geltung hat, das religionsgosetzlich Feststehende. Als Haggada
<lagegen begreift man die nicht halakhischo Schriftauslegung
nicht gesetzlich bindenden Charakters, sondern ober oino go-
nciiiclitliche, religiöse odor inoralischo .Vuslcgung und tiefere
Deutung, deren Befolgung dom Ermessen dos einzelnen Menschen
überlassen wird. Diese Eint(Mlung läßt sicb etwa vorgleichen
mir, derjenigen dor modernen Rechtswissenschaft, dio zwischen
zwingendem Recht einerseits und normativer Bestimmung ander-
Hoit,< nntorscheidet. Selhstvorständlich darf man sich dio Sonde¬
rung in Halakha und Haggada nicht einseitig trennend vorstellen,
di(i Grenzen zwischen beiden sind fließend, ihre Verwandtschaft
s<i eng wie nur möglich. Bezeichnend dafür ist die Talmud¬
stelle (RH 59 b), wo der Halakhist Ze'ira seinen Schülern emp¬
fiehlt, die Predigton des Haggadisten Rabbi Levy anzuhören,
da er stets an soino Erzäblung oine halakhischo Relein-ung an¬
knüpfe.
So entstand in lebendiger Fortentwicklung oino umfang¬
reiche Ueborlie'erung in halakhischer und haggadischer Form,
mid schon früh wurden von Tannaim Versuche unternommen,
dioses geistige Gut zu sammeln uud zu ordnen. Tm Talmud
selbst finden wir einen Hinweis dafür, daß es vor den ältesten
uns überlieferten Misnasammlungen schon andere ähnlicher Art
gegeben haben muß. '. . . ri:vis<-. nrair az'p^ "»aTiT rr^c ii'
Dies ist die MiSna des Rabbi 'Aqiba, aber die ersto Mifina
lautete . . . (Sanh. 3. r - .
1) Pie exegetische Terminologie der jüd. Traditionsliteratm. Leipzig 189'J.
2) Vgl. auch berner, Dio ältesten MiSna-Kompositionen Mag. 1886
S. )—20; Hoit'miinn. Oif ersto Mifn» und die Kontroversen der Tannaim
Lazar Gulkowitsch, Das Wesen des Talmud, 117
Der Talmud enthält also einerseits Kechtssatzuugen aller
Art, die das gesamte äußere Leben des damaligen Volkes regeln,
und anderseits eine Fülle erzählender Betrachtungen, die das
geistige Leben jener Zeit in seiner ganzen Buntheit wider¬
spiegeln. So hat die ganze Kultur eines Zeitalters in diesem
Werke seinen fixierten Ausdruck gefunden, und es bildet darum
eine kulturhistorische Fundgrube, deren Reichtum noch nicht
annähemd erschöpft worden ist.
Seclis Hauptgebiete sind es, auf denen der Talmud nor¬
mierend in das Leben des Menschen eingreift. Dementsprechend
gliedert sich die Mii5na in 6 Ordnungen QV^P; f^'^'^ Schass ge¬
nannt. Ott!. 1. Landbau aii'^s 2. Festgebräuche iria, 3. Ehe¬
stand a^ir:. 4. Bürgerliches-, Straf- und Prozeßrecht ■pp"'!:, 5. Opfer¬
dienst Ducnir, 6. Reinheit uud Reinlichkeit r'hnci . Formell sind
diese Ordnungen wiederum in Traktate untergegliedert, die
ihrerseits in Abschnitte zerfallen. Die erste Ordnung umfaßt
11, die zweite Ordnung 12, die dritte Ordnung 7, die vierte
Ordnung 10, die fünfte t)rdnung 11. die sechste Ordnung 12,
s« daß das Gesamtwerk tiS Traktate enthält, die insgesamt
;')2} Abschnitte umfassen. Hierbei müsseu wir im Auge be¬
halten, daß das eben charakterisierte Lehrgebäude der MiSna
lediglich die trockenen Regeln, nur hin und wieder auch eine
Erzählung zur Ergänzung enthält.
Wie jedes Recht schon mit dem Augenblick seiner Sta¬
tuierung der Kommentare und sehr bald einer Fortentwicklung
bedaif. so machte sich auch hier bald die Notwendigkeit be¬
merkbar, die Mii^najoth zu erklären, auszulegen, ihre Entstehung
aus den Quellen zurück zu verfolgen und aus ihnen weitgehende
Polgerungen zu ziehen. Mit der größten geistigen Regsamkeit
wurde die Misna zum Gegenstand lehrhafter Diskussionen ge¬
macht, deren Protokolle uns gewissermaßen erhalten sind. Das
ist das Wesen der Gemara, in der sich die Erklärer, Amoräer,
bemühen, in den Geist der Überlieferung tiefer einzudringen
und „more geometrico" zu den Quellen zurückzusteigen, aber
auch auf diesom Fundament das Gebäude aufzubauen.
Be. 188Ü; Isaak Halevy 10 204 ff.; 8track, Kinleiinng in don Tahnud
S. 18.
118 Lazar Gulkowitsch, Das Wesen des Talmud.
Wir unterscheiden zwei Schulen der Gemara, die palästi¬
nische und die babylonische. Über die Entstehung der baby¬
lonischen Gemara sind wir besser unterrichtet als über die
Entstehung der palästinischen Gemara. Jene ist durch Rabbi
Asche und Rabbina um das Ende des 5. Jahrhunderts abge¬
schlossen worden, während diese bereits hundert Jahre früher
ihr Ende gefunden hat, weil die politische Lage in Palästina
für die Juden weit ungünstiger war. Zwar besitzen wir nicht
zu jedem Traktat der Misna eine entsprechende Gemara, doch
ist das wesentlicbe, daß überhanpt die überlieferten Satzungen
zum Gegenstand scharfsinniger Auseinandersetzungen gerade bei
der babylonischen Schule gemacht wurden und so den Brenn¬
punkt des lebhaften Interesses ganzer Generationen bildeten.
Das ganze Denkgebäude wurde in zwingender Logik so
folgerichtig ausgestaltet, daß der Amoräer Rabbi Hanina mit
einem gewissen Stolze sagen konnte: Wenn selbst die Thora
ganz verlorenginge, ich könnte sie durcb meinen Scharfsinn
wiederherstellen, "s »v-"''^"? ("C^'?-?) '^T'^ '-S"-"i' ^<r7!?"'s
(Baba Meßia 85^ Kethuboth 103").
Nachdem wir so über Wesen und Inhalt des Talmud Auf¬
schluß erhalten haben, können wir uns mit einigen Worten
si.'iner Bedeutung zuwenden. Wenn wir uns aus der maßgeben¬
den Literatur hiorüb(;r unterrichten wollen, so finden wir zweifel¬
los wertvolle Einzelhinweisc, die gewiß nicht unterschätzt werden
sollen. So weist z. B. Bischoff*) mit Recht darauf hin, daß der
Kulfcurhistoriker in diesem Falle vor der interessanten Tatsache
steht, dal! der Talmud das Judentum auf seiner jahrhunderte¬
langen Wanderung durch Zeiten und Völker begleitet imd erst
ermöglicht hat, daß die Juden nationale und religiöse Eigenart
bewahren und in noeh so großer Not immor wieder Kraft, Trost
und Erhebung darin findon konnten.
Für den Theologen ist der Talmud ein wiclitiges Hilfs¬
mittel, das ihm roichen Aufschluß über das ncutestamontlicho
Zeitalter gibt. So wären z. B. dio Pliarisäerpartei, der hohe
Rat. das Synedrium und viele Kulturoinzelheiten nicht genügend
bekannt ohne dio Angaben des Talmnd darüber. Dov Jurist
1) Zur Charaliteristik des Tiilimul.
La Zill- Gulkowitsch, Das Wesen des Talmud. 119
hndet im talmudischcn Schrifttum eine Fülle rechtsgeschichtlich
bedeutsamer Formen, die oft einen hohen Wert auch über ihr
Zeitalter hinaus behalten haben. Dem Philologen, sowoiil
dem Forscher der morgenländischen Sprachen, als auch dtnn
der klassischen Sprachen bietet sich im talmudischen Schrift¬
tum reichhaltiges Material. Das große Gebiet dor Textkritik
)md der Sprachvergleichmig hat von hier mannigfaciio Heroi-
clierungen erfahren, auf die im einzelnen hier einzugehen uns
zu weit führen würde. Auch die Naturwissenschafte n ver¬
danken dieser Ijiteratur manche Beobachtung. Dor Geograph,
doi' ,\rchäologo, der Historiker, konnten dem Tahnud
wichtige Fingerzeige für ihre Forschungen entnehmen : und
schließlich sind auch P h i lo sop hen undPädagogen an diesem
ehrwürdigen Denkmal dor Geistesgoschichte nicht achtlos vor¬
übergegangen.
Welche hervorragende Bedeutung der Talmud für die Go¬
schichto des Judentums hat, zeigt uns am troffendsten Perles
in seinen jüdischen Skizzen*): „Der Talmud in seiner Gesamt¬
heit stellt dio Lösnng oiner gewaltigen Doppelaufgabe dar,
nämlich das Judentum als Lehre rein zu erhalten und ztigleich
die Juden als Träger dieser Lehre zu erhalten . .
„Der Talmud hat die Juden, um sio als Gemeinschaft zu
erhalten, im Leben auf Schritt und Tritt beschränkt, und zwar
fiel diese Aufgabe der Halakha zu, die genau bestimmte, was
man zu tun und zu untorlass<'n bat. Es war eine beispiellose
Disziplinierung des Willens, in dor etwas goradczu Horoisclies
liegt, denn sie hat den Juden eines ganzen Jalirtausonds die
sittliche Kraft verliehen, das Schwerste zn leisten und zu leiden
für ihre Religion. Ihr ist anch recht oigentlicli zn danken, was
wir bis heute als unser höchstes Gnt, als die scliönsto Blüte
und Frucht unserer Religion zu hotraoliren hahen, ich meine die
jüdischen Familientugonden."' „Der Talmud hat das goscliieht-
liche Wunder fortiggobraclit. das Judiintum in der Zerstreuung
inmitten einer feindlichen Welt mit immor nouer unverwüstlicher
Lebenskraft zu erfüllen nml ihm zugleich jenen eigentlichen
Charakter aufzuprägen, don es bis honte trotz aller autlösondon
1) Berlin 1912, S. 11(1 tt.
120 Lazar G u I k o v i t s c li , Das W'eseii des Talmud.
Kinflüasc bewahrt liat. Er hat den Geist der Juden in der Zeit
der tieferen Erniederung frisch erhalten und hat bewirkt, daß
auch in der dunkelsten Nacht des Mittelalters ein geistiges
Leben unter den Juden nie aufhörte."
„Der Talmud ist von Juden für Juden geschaffen worden.
<dine Nebengedanken und Seitenblicke auf die Außenwelt . . .
Diese bewußte Tendenz des gewaltigen Werkes war darum
nicht etwa, die Welt zum Judentum zu bekehren, sondern das
Judentum und die Juden in der Welt für eine bessere Zeit zu
erhalten." — Darüber hinaus jedoch scheint uns noch eine
weitere Bedeutung dem Talmud zuzukommen.
Von den beiden großen Faktoren, die die Menschheit ge¬
stalten — Kultur und Zivilisation — mußten die Juden im
ijaufe der Geschichte die Segnungen der Zivilisation entbehren.
Da hat sich dieses Volk in einem wunderbar sicheren Instinkt
fils Gegengewicht im Talmud ein Werk höchster Kultur, ge¬
steigerter Geistigkeit geschaffen, das die Aufgaben besaß nnd
»nfüUt, die Werke des Geistes und damit alle innere Kultur
im höchsten Sinne des Wortes lebendig und bewußt zu erhalten.
So verstehen wir es, daß ein ganz moderner Schriftsteller, der
(englische Dramatiker Bernhard Shaw das Wort priigen konnt(?:
,,Dcr Jude kommt schon mit einer Kultur auf die Welt." Das
Judentum, wie wir cs heute als geistige Gegebenheit voi' uns
sehen, ist das Judentum des Talmud, mehr noch als Bibel und
Judentum. — Um einen Ausspruch Löhrs zu variieren — sind
Talmud und Judentum wie Ursache und Wirkung, wie Wirkung
und ürsache miteinander verknüpft. Es bedarf kaum eine.-«
Hinweises, wie nachhaltig das geistige Werk des Judentums im
Laufe der Jahrhunderte die Geisteskultui' aller anderen Völker
beeinflußt hat: Altes Testament, Talmud, Qabbala, Maimonide.^,
Spinoza sind nur Marksteine dieses Weges. Diese)' Geist des
Judentums aber ist seit zwei Jahrtausenden Geist vom Geiste
des Talmnd; im Religiös-Sittlichen wurzelnd, im Praktisch-
Weltlichen sich auswirkend, kündet er den Siog des Geistos
über den Druck dos täglichen Lebens.
Alttürkiscbe Inschriften aus der Mongolei
in Übersetzung und mit Einleitung
von Vilhelm Thomsen.
[Vorbemerkung des Übersetzers. Diese Abhandlung erschien erst¬
malig dänisch unter dem Titel Gammd-dtyrkiske inskrifter fra Mongoliet i orerstettelse og med indledning als Schlußaufsatz des 1922 erschienenen III. Bandes der Samlede Afhandlinger des großen Kopenhagener Gelehrten,
in dem wir nehen Böhtlingk den Begründer der wissenschaftlichen
Erforschung der älteren türkischen Sprachen und Kulturen verehren.
Der Band enthält die orientalistischen, in erster Liuie die turkologischen Arbeiten des Verfassers (vgl. die in den Ungarischen Jahrbüchern V Heft 1 erscheinende nähere Inhaltsangabe und die daselbst erfolgende Mitteilung des Aufsatzes Fra Öst-Ttirkestans foriid [Aus Ostturkeistans Vergangenheit]
in deutscher Übersetzung). Die hier wiedergegebene Abhandlung kann
aus mehreren Gründen beanspruchen, einem größeren Leserkreise mitgeteilt
zu werden: bietet sie doeh in ihrer bescheidenen Form das Ergebnis
dreißigjähriger Arbeit an der Lesung und Erklärung der Inschriften und zumal, dank den drei Einleitungen, die trefiflichste Einführang in die Probleme, die sich denken läßt. Sie wird darum zweifellos von dem sich ständig erweiternden Kreise der an den so vielseitigen und fruchtbaren zentralasiatischen Forschungen Interessierten willkommen geheißen werden.
Es wäre auch zu wünschen, daß sie den historisch uud philologisch inter¬
essierten Kreisen der modernen Türkei bekannt würde, zumal da ja die
Inschriften, über ihre rein historische Bedentung hinaus, ein einzigartiges Zeugnis jener instinktiven Sicherheit des politischen Denkens und Handelns darstellen, wie sie sich in der Geschichte der türkischen Staatengründungen
und -restaurationen immer wieder bewährt hat. Die Turkologie aber
wird mit besonderem Dank die neue Bearbeituug der Tonjukuk-Inschrift
aufnehmen. Sie beruht zum größten Teil auf den neuen Ergebnissen, die
der Verfasser in seiner 1916 erschienenen Abhandlung Turcica niedergelegt hat. Da die vorliegende Abhandlung, wie bemerkt, nur dänisch veröffent¬
licht ist, erschien eine Übersetzung wünschenswert. Sie wurde unter stän¬
diger Vergleichung des türkischen Textes angefertigt. Pür die Erlaubnis zu
ihrer Veröffentlichung sage ich Herrn Prof. Thomsen und dem Verlage
Gyldendalske Boghandel, Nordisk Forlag, Kopenhagen, meinen ehrerbie¬
tigsten Dank. Herr Prof. Thomsen hatte die besondere Güte, das
deutsche Manuskript durchzusehen und die Übersetzung der Inschriften an mehreren Stellen eutsprechend seiner jetzigen Auffassung abzuändern.
An Stelle der in der Vorlage, mit Rücksicht auf weitere Leserkreise
Zoitsohrift ll. Deulsch Morgonl. ües. Bd. 78 ;i92<,'85.) 9 1 5