Pis’ma s vojny 1914–1917[Briefe aus dem Krieg 1914–1917]. Hrsg. von A.
B. Astašov und P.A. Simmons, Moskau: Novyj chronograf 2015, 795 S. (= Ot pervogo lica. Istorija Rossii v vospominanijach, dnevnikach, pis’mach [Aus erster Hand. Die Geschichte Russlands in Erinnerungen, Tagebüchern, Briefen]) [ISBN 978-5-94881-272-4]
Besprochen vonGeorg Wurzer:Wilhelmsdorf (Württemberg), E-Mail: georgwurzer@gmx.de DOI 10.1515/mgzs-2016-0043
Der Moskauer Historiker A.B. Astašov legte seit seiner Dissertation im Jahre 1994 lange keine großen Buchveröffentlichungen mehr vor. In den letzten vier Jahren publizierte er aber drei bemerkenswerte Bände (den Quellenband »Propaganda na Russkom fronte v gody Pervoj mirovoj vojny« [Propaganda an der russischen Front in den Jahren des Ersten Weltkriegs], Moskau 2012; die monumentale Mono- grafie »Russkij front v 1914–načale 1917 goda« [Die russische Front 1914–Anfang 1917], Moskau 2012 und die hier zu besprechende Edition von Briefen). Bei dem letzten Projekt unterstützte ihn sein britisch-russischer Kollege Paul Simmons, der einer jüngeren Generation angehört (Jahrgang 1980), 2011/12 an der Univer- sität Oxford über die Disziplin in der russischen Armee im Ersten Weltkrieg promoviert wurde und seither einige Aufsätze auf Russisch und Englisch über Deserteure der Zarenarmee veröffentlicht hat.
Die Einleitung umfasst immerhin 100 Seiten und besteht aus drei Teilen: Am Anfang steht ein Überblick über »Kriegsliteratur«, der auch westliche Titel sehr ausführlich bespricht. Dann stellen die Autoren die Militärzensur im Zarenreich, die Kontrolle der Stimmung an der russischen Front durch diese und schließlich die Briefe von der Front 1914–1917 in den Fonds der Militärzensur im Russischen Militärhistorischen Archiv in Moskau vor. In diesen beiden Abschnitten wird deutlich, dass die vorliegende Edition die Frucht vieljähriger Forschungen in dem genannten Archiv darstellt und Astašov auf diesem Gebiet als der führende Experte bezeichnet werden kann.
Leider thematisieren die Herausgeber nicht umfangreich die Auswahl der abgedruckten Briefe und Auszüge aus Briefen. Sie führen lediglich aus, dass sie diejenigen Schreiben ausgewählt hätten, die am deutlichsten und umfassendsten die Kriegserfahrung aus historischer und literarischer Sicht darstellten (S. 103).
Die 1625 Quellen, die zuweilen nur aus einem einzigen Satz bestehen, aber auch mehrere Buchseiten umfassen können, sind in fünf Abschnitte gegliedert, die jeweils chronologisch aufgebaut sind. Abgesehen vom letzten Abschnitt sind die zeitlich letzten Briefe jeweils vom März 1917.
Im ersten und umfangreichsten Abschnitt, betitelt als »Die Kampferfah- rung«, sollen die Briefe vorgestellt werden, welche die Tätigkeit, die Erlebnisse
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MGZ, © 2016 ZMSBw, Potsdam. Publiziert von De Gruyter
und die Motivation der Kombattanten während der Kämpfe oder unmittelbar danach bzw. in deren Erwartung charakterisieren. In den Briefen wird zwar eine Vielzahl von Unzulänglichkeiten angesprochen wie die mangelnde Ernährung, das Leiden der Verwundeten, die Feigheit einiger Soldaten, die Teuerung, die katastrophalen Zustände in den Gräben, die hohen Verluste und die technische Überlegenheit des Gegners. Vor allem aber betonen die Soldaten den Wunsch, gegen die deutschen »Räuber« in den Kampf zu ziehen. Wiederholt äußern sich die Verfasser auch über den angeblichen jüdischen und auch polnischen Verrat.
Es kommen Offiziere, einfache Soldaten, aber auch Feldgeistliche zu Wort, die sich als die überzeugtesten Patrioten präsentieren. Auch in den restlichen Briefen wird oft Bezug auf den Glauben an und das Vertrauen auf Gott genom- men. Viele Soldaten fühlten sich als Verteidiger der Orthodoxie (Rechtgläubig- keit) und des Zaren gegen den Angriff der Barbaren. Für diese Werte waren sie auch bereit zu sterben. Ebenso betrachteten viele die Front als ihre eigentliche Heimat (siehe z. B. Brief 85, S. 141). Zu Beginn des Jahres 1916 zeigten sich, neben den patriotischen Schreiben, auch einige kritische Stimmen, die ein baldiges Ende des Krieges herbeisehnten. Mit Beginn der für die russische Armee zunächst sehr erfolgreichen Brussilow-Offensive Mitte 1916 schlugen die Wogen der Begeisterung aber wieder hoch. Als die Angriffe sich festgefahren hatten, häuften sich aber erneut die Klagen über die Härten des Dienstes an der Front.
Im zweiten Abschnitt, »Frontalltag«, präsentieren die Herausgeber Briefe, die Vorfälle beschreiben, die nicht die Gefechte betreffen: zum Beispiel die Bezie- hungen zum Feind, zur Bevölkerung oder innerhalb der Truppe selbst. Auffällig häufig schildern die Autoren der Briefe schon im Herbst 1914 die Plünderungen der Zivilbevölkerung durch russische Soldaten und Grausamkeiten, vor allem gegenüber den Frauen. Wieder kommen, wie im ersten Abschnitt, schon relativ früh Probleme bei der Versorgung, vor allem mit Nahrung und Kleidung, zur Sprache (es gab aber auch andere Stimmen, z. B. Briefe Nr. 699, auf S. 383; 790, S. 418 sowie 873, S. 453), und der harte Drill wird beklagt. Schon zu Ostern 1915, dann aber in weit größerem Umfang 1916, wird von Verbrüderungen mit dem Gegner berichtet. Die mit Nahrungsmitteln noch schlechter versorgten Deutschen und Österreicher brachten ihren Feinden Schnaps und Zigaretten in die Gräben und erhielten dafür Weißbrot. Viele Russen waren erstaunt über das menschliche Antlitz der deutschen »Barbaren«. Auch sonst wird von vielen informellen Feuer- pausen berichtet. Auch in den im Zuge der Brussilow-Offenisve eroberten Gebie- ten kam es dann wieder zu Plünderungen und Gewalttaten (vgl. v. a. Brief 839, S. 437: »Man schreibt über deutsche Grausamkeiten, Plünderungen, Vergewalti- gungen. Ich bin jetzt mehr als überzeugt davon, dass wir, wenn wir sie nicht übertreffen, so doch nicht hinter ihnen zurückstehen«).
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Der dritte Teil ist mit »Die Last des Militärdienstes« überschrieben. Dort sind Briefe abgedruckt, die zeigen sollen, wie sehr die Soldaten vom Frontleben zermürbt waren. Wieder kommt eine Vielfalt von Themen zur Sprache, so erneut die mangelhafte Verpflegung, die Tatsache, dass sich viele Soldaten freiwillig in deutsche Gefangenschaft begaben, die Unterlegenheit der russischen Truppen an Artillerie und Munition, das Ungeziefer in den Unterständen sowie die harten Strafen bei kleinen Verstößen gegen die Disziplin.
Dann folgt das Kapitel »Der Soldat zwischen Front und Hinterland«. Dieses hat die Beziehungen mit der Familie zu Hause und Kontakte mit der Zivilbevölke- rung auch an der Front zum Thema. Hier stehen zwei Klagen im Vordergrund:
zum einen das Wohlleben der Offiziere mit Frauen, vor allem russischen Kranken- schwestern, die nachgerade als Prostituierte porträtiert werden, und die feind- liche Haltung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, die den russischen Soldaten, die sich als Befreier fühlten, überhöhte Preise abverlangte. Eine Kran- kenschwester schreibt selbst: »Man macht mir hier sehr viel den Hof, die Beamten aus dem Verband [dem Allrussischen Zemskij Sojuz] schenken mir Blumen, Parfüm, ach, wie ist das alles angenehm« (Brief 1228, S. 583). Dass die Front- urlaube in der Heimat die Soldaten nicht immer aufbauten, zeigt zum Beispiel Brief 1315 auf S. 617: Durch ein Gedicht drückt der Mannschaftsangehörige aus, wenn er das gewusst hätte, wäre er nicht heimgekommen und lieber an der Front gefallen.
Der fünfte und letzte Abschnitt ist etwas unglücklich mit »Der Bürgersoldat«
überschrieben und soll Briefe vorstellen, welche die Ablehnung des Krieges auf- zeigen und die Bereitschaft, ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln hinter sich zu lassen. Hier muss kritisch angemerkt werden, dass die Herausgeber leider keine Aussage darüber getroffen haben, wie häufig solche Briefe in den Fonds auftauchen. So kann man nicht beurteilen, wie charakteristisch sie für die Stim- mung der russischen Soldaten waren. Es wird über Soldaten geschrieben, die sich freiwillig gefangennehmen ließen, über Kriegsmüdigkeit allgemein, Unzufrieden- heit mit den feigen Offizieren, menschliches Mitgefühl mit dem Feind (z. B.
Brief 1375, S. 644) bis hin zur expliziten Forderung nach Frieden (z. B. Brief 1377, S. 645–647). Anfang 1915 gelangte gar ein anonymes Schreiben in den Stab mit der Aufschrift, dass es dem Zaren persönlich auszuhändigen sei. In ihm wurde angedroht, dass wenn der Herrscher nicht bis zum 1. März Frieden schlösse, die Soldaten selbst die Front verlassen würden (Brief 1366, S. 640 f.). Während in den anderen Kapiteln die Briefe nur bis zum März 1917 berücksichtigt wurden, stammt hier das letzte Schreiben vom 16. Oktober 1917, in dem schon ein deutlich bol- schewistischer Ton angeschlagen wird.
Die Unterteilung der Briefe in fünf Kategorien erscheint zuweilen etwas künstlich, so tauchen Klagen über die mangelnde Verpflegung in allen fünf auf.
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Man kann dieses Vorgehen der Herausgeber aber vertreten, da die schiere Masse der präsentierten Quellen dem Leser eine große Ausdauer abverlangt, was sich bei einer rein chronologischen Darbietung aller Briefe noch verstärkt hätte.
Mit erläuternden Anmerkungen sind die Herausgeber leider sehr sparsam, nur in den Kapiteln vier und fünf sind einige wenige zu finden.
Die Kritikpunkte treten aber angesichts des Verdienstes von Astašov und Simmons, eine derartige Masse von wertvollen Quellen der breiteren Forschung zugänglich gemacht zu haben, weit in den Hintergrund. Wie das Buch des ers- teren über die russische Front 1914 bis Anfang 1917, in dem die Briefe der Soldaten eine prominente Rolle spielen, ist auch dieses Werk ein absolutes Muss für alle, die sich mit der Ostfront des Ersten Weltkrieges ernsthaft auseinandersetzen wol- len.