A 2032 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 43|
25. Oktober 2013KRANKENHAUS
Vertauschte Babys
In einer Nacht im Juni 2007 ge- schieht in einem Krankenhaus im saarländischen Saarlouis, wovor El- tern und Klinikmitarbeitern glei- chermaßen graut: Die Armbänder zweier Säuglinge rutschen unbe- merkt von den Handgelenken der Kinder, die Nachtschwestern legen sie wieder an. Doch sie vertauschen sie. Tage später nehmen zwei Müt- ter Babys mit nach Hause, die sie nicht geboren haben.
Ein halbes Jahr danach ordnet das Jugendamt Saarlouis für das Kind einer minderjährigen Mutter einen Vaterschaftstest an. Das Er- gebnis der Untersuchung sorgt für Fassungslosigkeit – aber nicht we- gen der Vaterschaft. Die minderjäh- rige Mutter ist eine der beiden Frau- en, deren Babys vertauscht wurden.
Auf diese Weise kommt die Ver-
wechslung ans Licht. Fieberhaft sucht das Krankenhaus jetzt nach der anderen Mutter. Und findet sie in Jeannine Klos, einer damals 33-jährigen medizinisch-techni- schen Assistentin.
Was danach geschieht, ist der Alptraum einer jeden Mutter. Sie
Jeannine Klos, Anne Pütz:
Übermorgen Sonnenschein – Als mein Baby ver-
tauscht wurde.
Sachbuch. Bastei Lübbe, Köln 2013, 267 Seiten, Taschen- buch, 8,99 Euro
„Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht.“
Diese Sentenz von Georg Christoph Lichtenberg stellt Hans Belting seinen „Faces“
voran. Der darin zum Aus- druck kommende Enthusias- mus hält das ganze Buch über an, nimmt den Leser mit. Der Autor hat sich der Herausforderung gestellt, über eine Dekade eine Ge- schichte des Gesichts als un- terhaltsames, spannendes, vielschichtiges und lehrrei- ches Sachbuch zu verfassen.
Er bekennt in seiner Einlei- tung: „Eine Untersuchung, die das Gesicht zum Thema hat, ähnelt ei- ner Schmetterlingsjagd und muss sich oft mit Doubles oder Ablegern begnügen, die vom Leben und Ge- heimnis des Gesichts wenig preis- geben. So wird es in der Abfolge
des Gedankengangs nicht immer systematisch zuge- hen, sondern oft zu abrup- ten Kurswechseln kom- men, um andere Ansichten des Gesichts einzufangen.“
Das Frontispiz des Buches, das aus einem Film von Ingmar Bergmann stammt, zeigt für Belting die Suche nach dem Gesicht als Griff ins Leere, „denn das Ge- sicht hat sich in diesem Beispiel in ein fernes Bild zurückgezogen, das die Hände nicht ergreifen kön- nen“.
Dem Autor gelingt es in drei Kapiteln hervorra- gend, eine (europäische) Kulturgeschichte des Ge- sichts zu dokumentieren und grundlegende Überle- gungen anderer Autoren überzeu- gend mit seinen eigenen Gedanken- gängen anschaulich zu verbinden.
Das erste Kapitel „Gesicht und Maske in wechselnden Ansichten“
beschäftigt sich unter anderem mit
„Mimik, Masken des Selbst und
Rollen des Gesichts“. Kapitel zwei,
„Porträt und Maske – Das Gesicht als Repräsentation“ geht unter an- derem auf die Themen „Gesicht und Totenschädel. Zwei Ansichten im Widerspruch“, „Rembrandt und das Selbstbildnis“ sowie „Fotogra- fie und Maske“ ein. Das dritte Ka- pitel widmet sich „Medien und Masken. Die Produktion von Ge- sichtern“, „Archive. Die Kontrolle über die Gesichter der Masse“ so- wie dem „Video und Live Bild. Die Flucht aus der Maske“.
Die Fotocollage mit Überma- lung „Deisis, Ikone Christi“ von Konstantin Chudjakow aus dem Jahr 2004 ist die letzte Abbildung in „Faces“. In ihr hat das noch un- klare Titelbild bei Baltings Suche nach einer „Geschichte des Ge- sichts“ – über den Umweg einer gelungenen Auswahl prägnanter Beispiele – ein nun klares, detail- getreues Pendant in En-face-Posi- tion gefunden. Insgesamt eröffnen sich dem Leser ungeahnte und un- bekannte Perspektiven, regen zum
Weiterdenken an.
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Hans-Walter Krannich Hans Belting: Faces.
Eine Geschichte des Gesichts. Beck, Mün- chen 2013, 343 Seiten, 128 teils farbige Abbil- dungen, gebunden, 29,95 Euro
muss ihr Kind hergeben für eines, das sie überhaupt nicht kennt – und das doch ihr eigenes ist. Zusammen mit der Autorin Anne Pütz hat Klos ihre Geschichte aufgeschrieben.
Ausgesprochen authentisch und le- bensnah beschreibt sie ihre Gefüh- le, ihre Ängste, die mühevolle An- näherung zweier Familien an ihre eigenen Kinder. Und wirft zugleich ein Schlaglicht auf Arbeitsalltag und Arbeitsdruck in deutschen Krankenhäusern.
Im Nachklang der Ereignisse hat die Deutsche Gesellschaft für Gy- näkologie und Geburtshilfe eine Umfrage in Kinderstationen durch- geführt. Ergebnis: Viele Kranken- häuser verwenden zur Identifikati- on von Neugeborenen Bändchen oder Ketten, die sich versehentlich ablösen können. „Kaum auszuden- ken, wie viele Vertauschungen aus diesem Grund vielleicht unbemerkt stattgefunden haben“, schreibt Klos am Ende ihrer Geschichte.
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Falk Osterloh
SACHBUCH