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A1706 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 25½½½½22. Juni 2001
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ittwoch, 14. Februar, kurz nach 23 Uhr, eine Straßenkreuzung ir- gendwo in Südost-Schweden:Eine junge Frau namens An- nika fährt in ihrem Saab 9-3 an die Kreuzung heran, stoppt nur kurz und fährt wieder los, ohne auf einen Toyota-Bus zu achten, der sich von links der Kreuzung nähert. Der Toyo- tafahrer kann nicht mehr bremsen und kracht mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h in die Fahrerseite des Saab.
Annika überlebt den schwe- ren Unfall – ein Seitenauf- prall ist wohl das Schlimmste, was einem Autofahrer passie- ren kann – mit zahlreichen Prellungen und einem Leber- riss. Der zweistufige Seiten- airbag und die Styroporplat- ten in der Türverkleidung hatten einen Teil der Auf- prallenergie absorbiert.
Annikas „Glück der späten Geburt“
Donnerstag, 15. Februar, kurz nach 9 Uhr, dieselbe Straßen- kreuzung: Stefan Olson, Si- cherheitsingenieur bei Saab, steht vor Annikas Unfallwa- gen und analysiert bis ins kleinste Detail, wie und ob die verschiedenen Sicherheits- systeme des 9-3 funktioniert haben. Die B-Säule, die sich zwischen Fahrer- und hinte- rer Tür befindet, sei ein per- fektes Beispiel dafür, wie sich eine Säule bei einem Aufprall verbiegen sollte, wird er spä- ter bei der Präsentation des Unfallautos im Saab-Muse- um, Trollhättan/Schweden, sagen. Die Säule habe wie ein Pendel reagiert und die Bela- stungen auf die verschiede- nen Elemente der Karosserie verteilt. Das habe Annika das Leben gerettet. „Hätte Anni- ka in einem zehn Jahre älte- ren Saab gesessen, hätte sie den Unfall nicht überlebt“, ergänzt Professor Per Örten- wall. Er ist Unfallchirurg an der Universitätsklinik in Gö- teborg und Unfallforscher bei Saab.
Der schwedische Autobau- er betreibt seit 1971 eine struk- turierte Unfallforschung. Da- bei hat Saab mittlerweile eine
Datenbank zusammengetra- gen, die Informationen von mehr als 6 000 schweren Ver- kehrsunfällen enthält. Diese Datenfülle ermöglicht es ei- nem Ärzteteam, die Verlet- zungsfolgen bei jedem einzel- nen Unfall gezielt auszuwer- ten. Die Unfallanalysen wer- den parallel von jenen Si- cherheitsingenieuren durch- geführt, die auch die Auf- prallversuche im Labor lei- ten. Die Ergebnisse beider Gruppen werden später zu- sammen getragen.
Die Unfallanalyse beginnt bei Saab damit, dass das Ver-
sicherungsunternehmen Dial, das in Schweden die Unfall- reparaturen für alle bis zu drei Jahre alten Neuwagen auf dem schwedischen Markt übernimmt, eine erste Unfall-
meldung mit kurzen Anga- ben an die Saab-Unfallfor- scher überträgt. So gehen bei Saab täglich zehn bis 20 Un- fallmeldungen ein. Die große Mehrheit dieser Unfallmel- dungen betrifft kleinere Kol-
lisionen beim Parken oder beim Manövrieren mit gerin- ger Geschwindigkeit. Ein bis zwei Unfälle je Tag sind es wert, von einem Saab-Sicher- heitsingenieur ausgewertet zu
werden. Dieser nimmt dann Kontakt mit den Unfallpar- teien auf, um detailliertere Informationen zu erhalten.
Durchschnittlich einmal je Woche überprüft ein Ingeni- eur das Unfallfahrzeug am Unfallort, beim Händler oder in der Schadensannahme der Versicherung. In einigen Fäl- len wird das Unfallauto di- rekt ins Saab-Werk transpor- tiert, wo es Aufgabe der Un- fallforscher ist, den Unfall zu rekonstruieren. Dies sei oft ein Puzzlespiel, erzählt Ör- tenwall.
Neben der technischen Überprüfung des Unfallfahr- zeugs durch die Ingenieure sei es von großer Bedeutung, so viel wie möglich über die Verletzungen zu erfahren, die die In- sassen des Autos erlit- ten haben, betont Ol- sen. Dazu beauftrage Saab in der Regel zwei Ärzte: einen Allge- meinmediziner und ei- nen Orthopäden. Die- ses Ärzteteam trage In- formationen über die spezifischen Verletzun- gen zusammen und prüfe – die Patienten- Genehmigung voraus- gesetzt – auch Kran- kenhausunterlagen.
Die Saab-Unfallfor- scher sind stolz auf ihr „Real-Life-Safety“- Konzept, das Saab- Sprecher Christer Nilsson in Trollhättan zusammenfasste:
„Unsere Philosophie ist der Schutz von Menschen, nicht von Dummies.“ Auch Test- fahrer seien kein geeigneter Maßstab, weil die das Auto besser beherrschten als nor- male Autofahrer. Als Bei- spiel nannte Saab-Ingenieur Ekkehard Schwartz das Anti- Blockier-System (ABS) beim Bremsen: Er und seine Kolle- gen hätten sich wiederholt über die Bremswege bei realen Unfällen gewundert.
Dann erkannten sie, dass vie- le Autofahrer in dem Mo- ment, in dem das ABS wirkt, den Fuß von der Bremse nehmen, weil das ratternde Geräusch des Systems sie er- schreckt. Jens Flintrop
Saab-Unfallforschung
Schutz von Menschen, nicht von Dummies
Mehr als 6 000 schwere Unfälle hat der schwedische Autobauer seit 1971 ausgewertet. Dabei sind die Ingenieure auf ärztliches Wissen angewiesen.
Neueste Entwicklung der Saab-Si- cherheitsingenieure ist der doppelte Sicherheitsgurt. Wann das System in die Serienproduktion eingeführt wird, kann Stefan Olsen noch nicht abschätzen.
Technik
Mit 70 km/h in die Fahrertür gerast: Annika überlebt ohne schwerwie- gende Verletzungen, der Saab 9-3 ist schrottreif. Fotos: Saab