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Archiv "Prävention: Krank machende Arbeitswelt" (22.04.2011)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 108

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Heft 16

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22. April 2011 A 879

KOMMENTAR

Dr. med. Jürgen Hölzinger, Mitglied im Ausschuss für Menschenrechtsfragen der Ärztekammer Berlin

E

s gibt das Menschenrecht auf Ar- beit und angemessene und be- friedigende Arbeitsbedingungen, sogar das Menschenrecht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit – festgelegt in Artikel 23 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Natio- nen von 1948. Für viele Menschen scheint dieses Recht aber nicht zu gel- ten – auch nicht in Deutschland. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den beruflichen Stress zu „einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts“

erklärt. Die daraus resultierenden ge- sundheitlichen und gesellschaftlichen Probleme sind auch in Deutschland zu gravierend, um sie als vermeintlich un- abänderliche Kollateralschäden des Wirtschafts- und Finanzsystems zu tole- rieren.

Die Angst vor Kurz- oder Langzeitar- beitslosigkeit als existenzielle Bedro- hung für eine gesicherte Lebens- und Familienplanung, die eigene Altersabsi- cherung und die kostenintensive Ver- sorgung und Pflege von Angehörigen drängt Menschen in eine Position, in der sie genötigt sind, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Besonders für Frauen führt die schwierige Vereinbar- keit von Familie, Kindererziehung oder Pflege mit dem Beruf zu lang dauern- den, oft nicht zu lösenden Konflikten.

Der Zusammenhang zwischen Ar- beitslosigkeit oder unangemessener und unbefriedigender Arbeitssituation einerseits und psychosomatischen, psychischen und psychosozialen Er- krankungen andererseits muss stärker als bisher in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden. Die Krankenkas- sen kennen die Zahlen der psychisch und psychosomatisch erkrankten Ar- beitnehmer und der Folgekosten. Die Ursachen von arbeitsbedingten Krank- heiten könnten Ärztinnen und Ärzte durch einfache Fragen bei der Ana -

mneseerhebung der Patienten aufde- cken und quantifizieren.

Statt eines geregelten Wochen- rhythmus mit festem Ruhetag für alle wird heute die flexible Arbeitszeit als Fortschritt angesehen. Ständige Er- reichbarkeit über E-Mail oder Handy auch außerhalb der Dienstzeit oder im Urlaub führt zur „Entgrenzung“ der Ar- beit. Konkurrenz- und Leistungsdruck und drohender Arbeitsplatzverlust sor- gen für Disziplin und Selbstausbeu- tung. Leiharbeit, Kurzarbeit, Minijobs

und befristete Arbeitsverhältnisse er- setzen einst gesicherte Arbeitsplätze.

Wer einen Arbeitsplatz hat, leidet oft infolge der Arbeitsverdichtung an per- manenter Überforderung. Das führt zu Überarbeitung und ungenügenden Erho- lungsmöglichkeiten mit zu wenig Zeit für Familie und soziale Kontakte. Konkur- renzdruck und Mobbing gehören immer häufiger zum Berufsalltag. Permanenter Wettbewerb und Konkurrenzkampf sind in der vom Neoliberalismus bestimmten Wirtschaftswelt systemimmanent.

Chronische Überforderung und chronischer Stress bei Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzproblemen verursachen psychosomatische und psychische Er- krankungen wie Herz-Kreislauf-Erkran- kungen, Bluthochdruck, Herzinfarkte, Rückenschmerzen, Angststörungen, Depressionen und Suchtkrankheiten.

Die Bundespsychotherapeutenkammer hat auf die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt hingewiesen. Rund elf Prozent aller Fehltage seien 2008 Fol- ge psychischer Erkrankungen gewe- sen. Die Fehlzeiten in den Betrieben betrugen zwischen drei und fünfeinhalb Wochen mit erheblichen betriebs- und volkswirtschaftlichen Folgekosten.

In den Medien und der öffentlichen Wahrnehmung werden Lebenskrisen und insbesondere die berufliche Er- schöpfung gewöhnlich als „Burn-out“

bezeichnet. Erstaunlicherweise existiert Burn-out in der Medizin weder als Syn- drom noch als eigenständige Erkran- kung, höchstens als Einflussfaktor.

Burn-out sollte aber als eigene Diagno- se anerkannt werden. Der akademi- sche Streit, für diese Symptome nur Begriffe wie „Depression“ oder „Angst- störung“ gelten zu lassen, verbaut vie- len Erkrankten den rechtzeitigen Zu- gang zu medizinischer Hilfe, weil sie Angst haben, als „psychisch krank“ ab- gestempelt zu werden.

Die Arbeitsmedizin hat sich seit Be- ginn des Industriezeitalters besonders um die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und die Reduzierung körperlicher Belastung im Beruf ge- kümmert. Das reicht heute nicht mehr.

Die Arbeitswelt hat sich grundlegend verändert. Für Krankheiten, Berufsunfä- higkeit oder Frühverrentung sind nicht mehr wie früher in erster Linie schwere körperliche Arbeit, Mangelernährung oder der Umgang mit Gefahrenstoffen verantwortlich, sondern die Arbeitsbe- dingungen in einer Wettbewerbsgesell- schaft mit stetig steigenden Rendite - erwartungen.

Ärzte müssen ihre betroffenen Pa- tienten und die Öffentlichkeit über die Zusammenhänge zwischen Arbeitssi- tuation und Krankheit aufklären, weil diese oftmals nicht erkannt oder ver- drängt werden. Sie können die Arbeits- platzbedingungen meist nicht ändern.

Sie dürfen sich aber trotzdem allein mit

„Reparaturmedizin“ nicht zufriedenge- ben und sich nicht darauf beschrän- ken, Symptome zu behandeln, Medika- mente zu verschreiben, im besten Fall psychotherapeutisch zu helfen.

Ärzte haben immer einen präventi- ven Auftrag. Prävention heißt in diesem Fall auch, die krank machenden Folgen unserer Arbeitswelt zum öffentlichen Thema zu machen.

PRÄVENTION

Krank machende Arbeitswelt

P O L I T I K

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