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Archiv "Berufspolitik und Psychiatriegeschichten" (18.05.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Arzneiverordnungen KURZBERICHT

neben anderen hier nicht genann- ten, in denen die Arzneimittel- therapie auch im Stadium der Schwangerschaft notwendig ist.

Zu den in der Öffentlichkeit ge- nannten Zahlen über die Häufig- keit derartiger Verordnungen kann nicht Stellung genommen werden, weil nicht bekannt ist, auf wie viele Frauen sich die genann- ten Zahlen ausgestellter Rezepte überhaupt beziehen. (Die Rezep- tezahl ist schließlich nicht simpel mit der Patientenanzahl gleichzu- setzen!) Gleiches gilt auch für ein anderes Patientenkollektiv, an dem sich die Kritik entzündet:

nämlich für Säuglinge und Klein- kinder, denen angeblich Beruhi- gungsmittel in zu großer Zahl ver- schrieben würden.

Die Zahl der Kinder, die an neuro- tischen Störungen leiden, wird auf elf Prozent geschätzt. Dabei wer- den unter der Diagnose „Neuro- se" Verhaltensstörungen, Trotz- phasen, Anorexie sowie viele psy- chosomatische Störungen subsu- miert. Nach Angaben des Präsi- denten des Kinderschutzbundes — Professor Walter Barsch — im April dieses Jahres leidet jedes dritte Kind in der Bundesrepublik an seelisch verursachten körper- lichen Störungen.

Wenn unter diesen Voraussetzun- gen 927 000mal bei 8,1 Millionen Kindern für eine unbekannte Zahl von kleinen Patienten Beruhi- gungsmittel verordnet wurden, ist dies gewiß eine große absolute Zahl. Aber angesichts der Umwelt- schäden, die auf die Kinder ein- wirken und über deren Ausmaß und Intensität die Ärzte die beste Kenntnis haben, ist dies, gemes- sen an der Tatsache, daß die Ver- antwortlichen die Welt des Kindes nicht anders gestalten, eine thera- peutisch vertretbare relative Größe.

Anschrift des Verfassers:

Sanitätsrat Dr. J. Schmitz-Formes Zweiter Vorsitzender der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung Haedenkampstraße 3

5000 Köln 41 (Lindenthal)

Berufspolitik und Psychiatrie- geschichten

Die Arztzahlenentwicklung und ih- re Folgen standen im Mittelpunkt des berufspolitischen Kolloqui- ums beim XVI. Fortbildungskon- greß der Bundesärztekammer um Ostern in Meran. Dr. Jörg D. Hop- pe, Vizepräsident der Ärztekam- mer Nordrhein und Vorsitzender des Marburger Bundes, wies dar- auf hin, daß im Augenblick, also kurz vor Ende des Semesters, die Hälfte der Absolventen des vorhe- rigen Semesters noch nicht in Weiterbildungsstellen vermittelt sei; die Zahl der arbeitssuchen- den Ärzte dürfte zur Zeit bei etwa 6000 liegen. Die Stellenangebote wiesen in der Regel den ein- schränkenden Hinweis auf: „Kei- ne Berufsanfänger". Planstellen stehen also für die neuapprobier- ten Ärzte kaum zur Verfügung. In einigen Fächern sei eine Weiter- bildung überhaupt kaum noch möglich, weil die Planstellen durchweg von fertigen Gebiets- ärzten besetzt gehalten würden —

„das System der berufsbegleiten- den Weiterbildung führt sich so von selbst ad absurdum", sagte Dr. Hoppe wörtlich. Aus diesem Grunde sei die Idee, den „Arzt im Praktikum" einzuführen, zu be- grüßen: Sie verschaffe den Hoch- schulabsolventen Chancengleich- heit auf dem Arbeitsmarkt, denn nach dem Praktikum hätten sie die von den Arbeitgebern verlang- te Berufserfahrung.

Dr. Hoppe warnte vor der Ten- denz, „Gastärzte" ohne Bezah- lung und ohne Planstelle aufzu- nehmen. Dies könne zu gefähr- lichen Spannungen zwischen Weiterbilder, Gastarzt und Kran- kenhausträger führen, und die Rechtsposition des Gastarztes auch gegenüber den Patienten sei höchst unsicher. Dr. Hoppe meint, daß mehr Absolventen des Medizinstudiums als früher an ei- ner ärztlichen Tätigkeit gar nicht

interessiert seien, sie betrachte- ten das Studium als eine Bil- dungsphase. Andererseits: Die In- dustrie stelle mehr Ärzte ein als bisher anstelle von Biologen, Che- mikern und anderen Naturwissen- schaftlern; allerdings seien die Gehälter auch geringer als zuvor und würden an die der anderen Wissenschaftler im Dienst der In- dustrie angeglichen.

Professor Volrad Deneke, Haupt- geschäftsführer der Bundesärzte- kammer, ergänzte dieses Hinwei- se: Das Problem der Arbeitslosig- keit komme auf die Ärzte lediglich später zu als auf die anderen aka- demischen Berufe; die 6000 ar- beitsuchenden Ärzte gehören zu der großen Schar von 100 000 ar- beitsuchenden Akademikern. De- neke plädierte für ein grundsätz- liches Überdenken des Bildungs- begriffes: In der Schule sei das Ni- veau der Allgemeinbildung zu Gunsten frühzeitiger Spezialisie- rung abgesenkt worden, das Uni- versitätsstudium sei unter den Pri- mat der Berufsausbildung gestellt worden. Dies führe dazu, daß zu- nehmend unterqualifizierte Arbeit angenommen werden müsse und daß die Mobilität der Akademiker eingeschränkt sei.

Professor Dr. Horst Bourmer, Vor- sitzender des Hartmannbundes und Präsident der Ärztekammer Nordrhein, begab sich in die aktu- elle politische Arena: Die „Bonner Wende" habe der Ärzteschaft zwar den Rücken von sozialisti- schen Experimenten freigemacht, aber „der administrative Wind weht uns nach wie vor ins Ge- sicht"; Sozialisten und Admini- stratoren seien letzten Endes see- lenverwandt — auch die Pläne zur Investitionslenkung bei medizini- schen Großgeräten seien hierfür ein Beweis.

Als weiteres Beispiel nannte Bourmer die Gebührenordnung:

Von der sozialliberalen Regierung entworfen, sei sie von der christ- lich-liberalen Regierung noch ver- schärft in Kraft gesetzt worden, weil bei beiden Administrationen Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 20 vom 18. Mai 1984 (271 1605

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Berufspolitische Akzente

ein Interesse gleich gewesen sei:

die Beihilfeverpflichtungen der öffentlichen Arbeitgeber zu dros- seln. „Millionen von Beamten und Angestellten waren beiden Regie- rungen wichtiger als die paar Ärz- te", sagte Bourmer.

Seinem nordrheinischen Auf- sichtsminister, Professor Fried- helm Farthmann, erteilte Bourmer

„Generalabsolution für profilneu- rotische Schleiertänze", immer- hin stünden in Nordrhein-Westfa- len zweimal Wahlen kurz bevor.

Allerdings: Angesichts von 9000 vollendeten und 14 000 versuch- ten Suiziden von Kindern und

Jugendlichen sollte Farthmann auch an die Verantwortung der Politiker, insbesondere der Bil- dungspolitiker denken, anstatt über die Verschreibung von Psy- chopharmaka zu räsonieren. Die ärztliche Praxis sei zur „Repara- turwerkstätte gesellschaftspoliti- scher Fehler" geworden, und man sollte eher den Politikern als den Ärzten eine „Eintragung ins Klas- senbuch verpassen".

Schwerpunkte

der christlich-liberalen Sozialpolitik

Dr. Hoppe erläuterte die Prinzi- pien der gegenwärtigen Sozialpo- litik: Erste Priorität geben die Re- gierung und der Bundesarbeits- minister der Bekämpfung der Ar- beitslosigkeit; an zweiter Stelle stehe die auch vom Verfassungs- gericht geforderte Regelung der gesetzlichen Altersversicherung;

an dritter Stelle folge die Kosten- dämpfung im Gesundheitswesen mit dem Schwerpunkt Kranken- haus. Im Hintergrund stehe je- doch die Entscheidung über die Frage, was die Krankenversiche- rung leisten solle: Ist Unpäßlich- keit noch versicherbar, oder soll noch alles bezahlt werden, was die Hochleistungsmedizin heute zu bieten hat? Soll man „oben oder unten abschneiden"? Das Herz von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, konstatierte Hop-

pe, schlage auf Seiten der Ge- werkschaften, er sei nicht bereit, auf die Ärzte Rücksicht zu neh- men.

Psychiatrie:

Der „reinen Lehre"

mißtrauen!

Begonnen hatte der Meraner Kon- greß mit einer Festveranstaltung, in deren Mittelpunkt ein Vortrag von Professor Kurt Heinrich über die Gesellschaftsbezogenheit der Psychiatrie stand. Der Direktor der psychiatrischen Universitätsklini- ken in Düsseldorf nahm zwei psychiatriegeschichtliche Peri- oden als Beispiele: einmal das Zeitalter der Aufklärung, zum an- deren die Zeit seit der Studenten- revolte 1968, beides Perioden, in denen in der Psychiatrie sich vie- les bewegte, aber im Namen der jeweils „reinen Lehre" auch viel falsch gemacht wurde.

In der Aufklärung wurde, so Pro- fessor Heinrich, die heutige Psychiatrie eigentlich erst be- gründet, die Vorstellung von der

„Besessenheit" verlassen. Aller- dings führte die Ausgrenzung der- jenigen Patienten, die einer ver- nunftgemäßen Heilpädagogik nicht zugänglich waren, zu neuen Inhumanitäten in den Irren- und Tollhäusern, in denen ein ver- nunftgemäß strenges Regime herrschte. Die gewaltsame Durch- setzung aufklärerischer Humani- tät wurde zu despotischer Huma- nität.

Ähnliches geschah nach 1968: Die Ideen der Emanzipation, der De- mokratisierung und der Liberali- sierung ermöglichten zwar tief- greifende Reformen, die anders nicht hätten bewerkstelligt wer- den können, führten aber auch zu allerlei Irrwegen, von denen die kritiklose Ablehnung der Pharma- kotherapie und die ebenso kritik- lose Anwendung von Gruppen- therapien nur einige sind. Hein- rich betonte in diesem Zusam- menhang, daß in den psychiatri- schen Einrichtungen die hierar-

chischen Strukturen, die allein personale Verantwortung ermög- lichen, erhalten bleiben müssen.

„Pseudoparlamentarismus" habe dort keinen Platz.

Bedeutsam waren Professor Hein- richs Hinweise auf zwei andere Länder:

I> Professor Basaglias Analyse der Zustände in der italienischen Psychiatrie war richtig, die Folgen der Durchsetzung seiner „reinen Lehre" auf gesetzlichem Wege sind katastrophal.

Da bereits lange vor der Auf- klärung in England in gewissem Ausmaß demokratische Zustände herrschten und es dort nie zur Ausbildung absolutistischer Herr- schaftsformen kam, ging dort die Entwicklung auch der Psychiatrie weitaus pragmatischer vor sich als auf dem Kontinent. In der Auf- klärungszeit wurde bei der Unter- bringung psychiatrischer Patien- ten menschlicher vorgegangen, und viele der Einrichtungen, die im Gefolge der Psychiatrie-En- quete in der Bundesrepublik ent- standen, gehen auf Vorbilder zu- rück, die bereits seit dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien vor-

handen waren.

Insgesamt jedoch beurteilte Pro- fessor Heinrich die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung seit 1968 durchaus positiv. Eine große und wichtige Rolle hätten dabei trotz vieler Mißgriffe und Diffamierungen die Medien ge- spielt. Wir sollten, sagte Heinrich, die Kontrolle der Öffentlichkeit bejahen und uns, wenn nötig, zur Wehr setzen. Wir sollten allen

„Entwürfen aus einem Guß" miß- trauen, stattdessen ständig prag- matisch Verbesserungen suchen.

Systeme, so folgerte Professor Heinrich aus seinem psychiatrie- geschichtlichen Überblick, die die

„reine Lehre" darstellen, sind im- mer wieder vom Abgleiten in die Unmenschlichkeit bedroht.

Walter Burkart 1606 (28) Heft 20 vom 18. Mai 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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