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Turm im Tal Architektur als Impuls in der kulturellen Enklave. ausgeführt zum Zwecke der Erlangung des akademischen Grades eines Diplom-Ingenieurs

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DIPLOMARBEIT

Turm im Tal

Architektur als Impuls in der kulturellen Enklave

ausgeführt zum Zwecke der Erlangung des akademischen Grades eines Diplom-Ingenieurs

unter der Leitung von Prof. Dr. Kari Jormakka

E259.4

Institut für Architekturwissenschaften/Fachbereich Architekturtheorie

eingereicht an der Technischen Universität Wien Fakultät für Architektur und Raumplanung

Lukas Mahlknecht von 0225464

Skodagasse 17/3, 1060 Wien

Wien, am 18. Mai 2010

Die approbierte Originalversion dieser Diplom-/Masterarbeit ist an der Hauptbibliothek der Technischen Universität Wien aufgestellt (http://www.ub.tuwien.ac.at).

The approved original version of this diploma or master thesis is available at the main library of the Vienna University of Technology

(http://www.ub.tuwien.ac.at/englweb/).

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Turm im Tal

Architektur als Impuls in der kulturellen Enklave

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4 Warum ein Turm – und dort.

Eine Einführung

14 In letzter Konsequenz 16 Ansatz in Bildern

23 Suche nach urbanen Qualitäten 47 Urbanes Informationsfeld

59 Möglichkeit der Wahrnehmung

87 Virtualität durch KreatiVakuum

123 Kulturelle Enklave – unbewusst

144 Turm im Tal – ein Entwurf

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Eine Ureigenschaft des Menschen ist es, sich zu messen und sich zu beweisen. In einem scheinbar ewigen Wettbewerb des Fortschrittes gilt es immer wieder, Rekorde einzustellen und zu übertreffen. Sportliche Höchstleistungen, wissenschaftliche Durchbrüche, technische Maßstäbe oder kulturelle Meilensteine stellen die Messlatte für die kollektive Leistungsfähigkeit dar. Der unmittelbare Wechselkurs von Erfolg in Prestige für ein Individuum, eine Stadt, eine Nation etc. arbeitet als subtile

Triebfeder, die mit jedem Ergebnis weiter aufgezogen wird.

Vergleichbar also mit einem Perpetuum mobile – die Energie wird aus dem System selbst bezogen. Autonom gegenüber jeglichen ökonomischen, ökologischen Gesetzen entwickelt der Wettbewerb eine Eigendynamik, welche jeglicher Rationalität entbehren darf – und soll. Denn dadurch erhält die Dynamik eine Radikalität und Aggressivität, die sie zur Avantgarde werden lässt – die Vorreiterrolle stellt auch die einzige Daseinsberechtigung für jenen schwer verständlichen Zirkus dar.

Als Symptom des Wettlaufs der industrialisierten Welt können die Weltausstellungen gesehen werden. Seit 1851 belegen sie in immer wieder neuen Kulminierungen die Entwicklungen und Erfindungen der Volkswirtschaften der Erde. Jede Exposition stellte für sich den Anspruch, alles Gewesene in den Schatten zu stellen. Bereits zur Premiere in London wurden mit dem Kristallpalast von Joseph Paxton Maßstäbe gesetzt, die schwer zu

übertreffen schienen. Tatsächlich war es dem Gartenbauarchitekten durch den hohen Vorfertigungsgrad der Leichtbauweise in Eisen gelungen, die optimierten Produktionsmethoden der Industrie in Architektur umzusetzen. Damit konnte nicht nur dem hohen Zeitdruck durch die Weltausstellung entsprochen werden, sondern auch die moderne Bauform der Zukunft vorexerziert werden.

Warum ein Turm – und dort. Eine Einführung

1 Vgl. http://www.expo2000.de/

expo2000/geschichte/index.php, 19.

04. 2010.

2 Vgl. Barthes, Roland: The Eiffel Tower, and other mythologies.

Translated by Richard Howard.

Farrar, Straus and Giroux 1979. S.4.

Der Griff nach dem Unerreichbaren

Pieter Bruegel hielt 1563 mit „Der Turmbau zu Babel“

eine der bekanntesten Begebenheiten des Alten Testamentes fest – bekanntlich wurde die Überheblichkeit mit der Babylonischen Sprachverwirrung sakrosankt belegt.

Pieter Bruegel, Der Turmbau zu Babel (1563)

(5)

Ein Erfolg wurde aber nach wie vor in eindeutigen Zahlen beziffert und die Premiere der Weltausstellung war in dieser Hinsicht ein Volltreffer, sodass die Gewinne in den Ausbau der technischen Vormachtstellung Englands investiert werden konnten.1

Der aberwitzige Versuch, ökonomisch-irrationale und zusätzlich technisch-riskante Projekte doch noch mit arithmetischen Übungen zu unterlegen, wiederholt sich nur 38 Jahre später – wiederum im Rahmen einer Weltausstellung. Diese fand in Paris 1889 statt und zeigte als Höhepunkt ihrer Attraktionen eine bis dahin unvorstellbare Turmkonstruktion aus Stahl. Dafür verantwortlich zeichnete der Ingenieur Gustave Eiffel. Die kühne Konstruktion fand ursprünglich nicht nur Zustimmung, sondern auch eine breite Opposition, welche den Turm als „überflüssig“ erachtete, da er eben keine pragmatische Funktion vorzuweisen hätte. Als Reaktion darauf versuchte Eiffel das Projekt mit einem Raumprogramm, wie Wetterstation oder Forschungseinrichtung, für die Funktechnologie zu füllen, um mehr Zuspruch zu erhalten. Setzt man aber die Ausmaße des Projektes mit dem direkten Nutzen in Relation, so hält der Philosoph Roland Barthes fest, müssen diese Ausflüchte als „utilitarian excuses“ abgetan werden.2 Es bleibt also die Frage, woher diese immensen Anstrengungen ihren Antrieb beziehen. Der Eiffelturm steht an dieser Stelle als Vorreiter für eine Unmenge ähnlicher Unternehmungen und nimmt im Speziellen eine Schlüsselposition für die Wolkenkratzerkultur der folgenden Jahrzehnte bis in die Gegenwart ein. Die Stahlkonstruktion auf der französischen Weltausstellung vereinigt bereits

grundlegende Eigenschaften eines modernen Hochhauses in sich. Der Bau ist aus wirtschaftlichen Gründen kaum tragbar, verschlingt eine Unmenge an Ressourcen und stellt ein wichtiges Prestigeobjekt für den Eigner und für die Stadt dar. Und nicht zuletzt ein Symbol des industriellen Siegeszuges und des menschlichen Begehrens den Himmel zu erobern – der Eiffelturm markiert als typologischer Prototyp den Beginn des Höhenrausches.

Ikone des Fortschritts

Der Chrystal Palace brillierte auf der Weltausstellung von 1852. Knappe 200 Jahre hatte er Bestand, bevor er 1936 von einem Feuer vollständig zerstört wurde.

links: Victoria and Albert Museum, London unten: http://www.

henryhutcheon.com/userimages/

CrystalPalaceForWebsite23-7-08X2.

jpg 15.05.2010 oben: Illustrated London News,

5. 12. 1936.

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martinsoler.com

Der Eiffelturm markiert den Triumph des Übermutes

Obwohl ursprünglich geplant war den Eiffelturm mit dem Ende der Weltausstellung wieder abzutragen, entwickelte er sich bald zum Publikumsmagneten. Mittlerweile zieht er mehr Touristen als der Louvre an! Letzterer zählt im Jahr 5 Millionen gegenüber knapp 7 Millionen.

http://www.louvre.de/geschichte.htm 18.10.2010 http://www.focus.de/ 18.10.2010

Fidelio, 2007

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Der Turm entstand in einer Zeit, als sich die Aviatik in den Kinderschuhen befand und man noch weit davon entfernt war, breiten Bevölkerungsschichten den Luftraum zu erschließen.

Die Eroberung der Höhe durch technische Hilfsmittel war also weitgehend unbekannt und sollte nun plötzlich jedem und jeder offen stehen.3 Mit den Panoramen und Vogelperspektiven des 18.Jh. wird laut Roland Barthes zwar ein zentraler Aspekt des Ausblicks vom Turm bereits vorweggenommen – nämlich die Übersicht über die Dinge in einer Form, wie sie die Sinne mit den körperlichen Möglichkeiten nicht eröffnen würden: Der Betrachter

„[ ] spontaneously distinguishes separate – because known – points – and yet does not stop linking them, perceiving them within a great functional space […]“4, Barthes geht aber so weit, den Turm mit einer Aussichtplattform zu vergleichen, die normalerweise in natürlicher Umgebung eingebettet ist.

In diesem Fall wird die Stadt zum neuen Beobachtungsfeld.

Die enthobene Perspektive würde den urbanen Raum in ein romantisches Flair tauchen und das Treiben mythisieren oder gar glorifizieren. Der Stadtraum würde durch den Turm zu einem natürlichen Raum, dem natürlichen Lebensraum des Menschen.5 Die Ausführungen des Philosophen stellen sich zum Teil als nicht unproblematisch heraus, wenn Attribute des Ausblicks mit romantisierendem Inhalt gefüllt werden. Roland Barthes hat mit der emotionalen Aufladung einen Aspekt in der Wahrnehmungskette vorweggenommen, der dem Subjekt vorbehalten bleiben muss. Um diesem Konflikt zu entgehen, könnte der perzeptive Vorgang aus ungewohnter Höhe auch als ein Sehen mit einem gewissen Abstraktionsgrad interpretiert werden.

Die Tragweite des phänomenologischen Erlebnisses am 324m hohen Turm ist vergleichbar mit einer Expedition, welche zum Zeitpunkt der Errichtung des Eiffelturms mehr als 400 Jahre zurückliegt. Bereits Francesco Petrarca erkennt die überwerfende Perzeption mittels

3 Den Aufstieg für jedermann und -frau wurde durch eine Reihe von Aufzügen gewährleistet.

Das Eintrittsgeld stellte natürlich auch weiterhin eine gewisse Einschränkung dar.

4 Barthes: Eiffel Tower. S.9.

5 Vgl. Ebd. S.8.

Die Eroberung des Himmels im Vergleich

Während in Paris der Eiffelturm in die Höhe wächst, experimentiert Otto Lilienthal in Deutschland an seinen Fluggeräten. Die Luftfahrt steckt noch in den Kinderschuhen.

Gleitflug bei Lichterfelde (Berlin) 29. Juni 1895(1895-06-29) Bild: Archiv Otto-Lilienthal-Museum

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veränderter Perspektive durch den Eintausch der Froschsicht mit dem unmittelbaren Überblick eines Vogels. Der italienische Literat gilt als erster Bergsteiger in einer Zeit, als sich in den Bergen niemand freiwillig aufhält.

Und doch reizt ihn diese Herausforderung und er fasst seine Begeisterung in einem ausführlichen Brief an einen Freund zusammen. Der Weg zur Spitze wurd zu einer physischen als auch psychischen Herausforderung und provoziert in ihm einen dialektalen Prozess – um am Ende ganz oben zu stehen. Faszinierend sind seine Beschreibungen am Gipfel von den verschiedenen Punkte in der Landschaft und die Distanzen in Tagesreisen. Vor ihm hat noch kein Mensch einen derart strukturierten Blick auf die Umgebung werfen können. Es ergeben sich völlig neue Relationen und Verbindungen, welche bis dato verborgen geblieben waren.6

Im Eiffelturm wird der physische Prozess durch den graduellen Höhengewinn mit dem Aufzug ersetzt. Obwohl die körperliche Überwindung fehlt, bleibt der Weg nach oben ein integraler Teil der Erfahrung als eine Inszenierung des „Gipfelerlebnisses“. Der Skelettbau auf der Weltausstellung muss also nicht nur als Schlüsselmoment einer Bautypologie gesehen werden, sondern auch als ein Wendepunkt für die Möglichkeiten der Wahrnehmung des Menschen von seiner Umwelt und seiner selbst. Es ist eine Wahrnehmung, die in der Tradition der Französischen Revolution steht, frei von jeglicher Aufladung, frei von jeglicher Assoziation – allein dem Betrachter überlassen. Der Turm schließt sich dieser Qualität an, indem er keiner spezifischen Funktion folgen muss. Die radikale Konstruktion Eiffels ist ein Turm des Turmes wegen und deshalb offen für jegliche Assoziationen. Konträr zu den Kirchtürmen, die als Symbole der Religion seit dem Mittelalter in den Himmel ragen und den Nabel der geistlichen Orientierung für dutzende Generationen repräsentieren, erfüllt der Stahlkoloss im Paris vor der Jahrhundertwende die Rolle eines Platzhalters einer aufgeschlossenen und revolutionierten französischen Gesellschaft. Simultan zum Ausblick von der Spitze steht der Turm an seinem Platz verankert als unverschiebbarer Orientierungspunkt für alle Pariser. Die Fäden der beobachtenden Blicke aus der Stadt

6 Vgl. Petrarca, Franceso: Die Besteigung des Mont Ventoux.

Reclam 2007.

Francesco Petrarca

Andrea di Bartolo di Bargilla um 1450.

Uffizien, Florence, Italy.

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laufen am Stahlskelett zusammen und verteilen sich wieder in den Gassen der französischen Metropole.

Mit dem Eiffelturm wurde der Typus des Turmes und des Wolkenkratzers an sich begründet.

Einer derart reduzierten Umsetzung eines kompromisslosen Konzeptes fügte sich bis dato keine weitere dem Architekturdiskurs hinzu. Wolkenkratzer leben bis heute vom Glamour und Erfolg dieser Pionierleistung. Selten rentabel, in allen Fällen ressourcenintensiv, versuchen sich nachfolgende Projekte etwas von diesem mythischen Kuchen abzuschneiden. Doch stagniert vielmehr die Entwicklung – läuft rückwärts beim Versuch in einer ökonomischen Abrechnung bestehen zu wollen. Die Höhe wird mit einer simplen Multiplikation der Grundfläche angefüllt, um die scheinbar größte Rentabilität zu erzielen. Der Schnitt eines Wolkenkratzers erinnert an eine Stapelung konventioneller Räume, die aus einem beliebigen Standardwohn- oder -bürobau stammen könnten. Die Räumlichkeiten ignorieren geradezu die besonderen und extremen Qualitäten, welche die Höhe mit sich bringt. Die Büroräume im 20. oder im 70. Stockwerk sind identisch. Der einzige Unterschied sind die Quadratmeterpreise, die unverhältnismäßig ansteigen für etwas mehr Aussicht. Doch Prestige scheint auch hier wieder eine irrational wichtige Rolle zu spielen und längere Wartezeiten im Fahrstuhl werden zu einem tragbaren Nebeneffekt.

Die zu schlagende Höhe eines Wolkenkratzers liegt seit dem 4. Jänner 2010, dem Datum der Einweihung des Burj Khalifa, dem jüngsten Vorzeigeprojekt der Wüstenmetropole Dubai, bei 828m. Die horrende Höhe führte die Ingenieure und Architekten an die Grenzen ihres Know- hows heran. Immerzu in die Vertikale strebend und die wörtlich hoch gesetzten Ziele vor Augen, bewegte sich die Planung knapp an der Grenze des Machbaren. Sich jenes fragilen Balanceaktes bewusst, bediente man sich eines Prinzips aus dem Alltag für einen sicheren Stand inmitten der Wüste. Das simple, aber effektive statische Konzept des Stativs wurde abgekupfert. Vom breitbeinigen Sockel in Sternform werden die Stockwerke aufgeschichtet, sie verjüngen sich mehr und mehr, um schließlich in einer Pfeilspitze in Form der Antennenanlage zu münden.

Burj Khalifa

Ein Solitär in der Wüstenstadt

http://gizmodo.com/assets/images/

gizmodo/2008/08/burj_dubai_1009.

jpg, am 03.02.2010.

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Obwohl über den Wolkenkratzer niemals technische Einzelheiten veröffentlicht werden würden, lässt sich aus den verfügbaren Informationen doch rekonstruieren, welche Probleme der kompromisslose Höhenrausch im Detail mit sich bringt. Die Statik ist derart ausgereizt, dass es unmöglich wäre, zusätzliche Türen in das Betonskelett zu brechen. Zukünftige Adaptierungen des Turmes für neue Anforderungen durch ein verändertes Raumprogramm gehören demnach nicht zu den Stärken der mehr als 180 Stockwerke. Ein anderer Eckpunkt, das Energiemanagement des Gebäudes, verrät erbarmungslos weitere grundlegende Schwächen. Grundlegend deshalb, weil sie exemplarisch aufzeigen, auf welche hilflose Art mit den besonderen Herausforderungen der Höhe im Detail umgegangen wurde. „Der wahre Hund sind die Aufzüge, und ich meine damit nicht das Auf- und Abfahren der Liftkabinen, sondern die Kaminwirkung der Schächte.“7 gibt Eric Tomich zu bedenken – der Associate Director vom Büro „Skidmore, Owings & Merrill“ muss es wissen. Das ausgeklügelte Aufzugsystem im Burj Khalifa bewegt sich nämlich in einer ganzen Batterie von Schächten, die sich über die gesamte Höhe erstrecken. Die darin abkühlende Luft fällt in 60 „Kaminen“ hunderte Meter in die Tiefe und würde mit einer zerstörerischen Gewalt gegen die Türen der Lobby drücken, würde sie nicht aufwendig abgesogen werden. Eine bizarr anmutende Lösung in einer Zeit, die händeringend nach alternativen Energiequellen sucht. Eine ignorierte Chance bei einem Maßstäbe setzenden Wolkenkratzer.

Der Wettlauf um den höchsten Turm erreicht mit dem Burj Khalifa eine schwer zu übertreffende Bestmarke – nicht der technischen Mittel, sondern der zweifelhaften Perspektive der Typologie wegen. Derartige Pionierprojekte können es sich nicht leisten dem engen Bewegungsrahmen einer unmittelbaren Rentabilitätsrechnung unterworfen zu sein. Der ohnehin irrationale Wettbewerb kann seine Daseinsberechtigung nur dann für sich beanspruchen, wenn die ressourcenintensiven Vorhaben als Prototypen in jeder Hinsicht gelten. Denn als Sonderform im urbanen Kontext gehen vom Wolkenkratzer Impulse in die Umgebung aus, ebenso wie der Turm das Potenzial für revolutionierende, experimentelle Lebensräume eröffnet. Im Theorem von 1909 wird vielsagend nicht von

7 Der Standard, Printausgabe 09.01.2010.

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Cartoon: Horsch standard 5.1.2010

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Architekten, sondern von Comiczeichnern im technischen Rausch der Zeit das Konzept des Wolkenkratzers entfaltet. Zwischen den Wolken sind Plattformen jeweils mit Freiflächen und einem gutbürgerlichen Wohntraum zu erkennen. Durch die Vervielfältigung der Grundfläche scheint mitten in der Stadt der Platzmangel kein Thema mehr zu sein und die Einfamilienhäuser der Vorstadt finden sich plötzlich im urbanen Zentrum wieder – eine revolutionäre Nachbarschaft. Dieser anfängliche Optimismus ist rückstandslos verblichen.

Eine an das Theorem von 1909 heranreichende Radikalität kann nur noch in der Interpretation des „Downtown Athletic Club“ in Manhattan durch Rem Koolhaas wiedergefunden werden – jedoch nicht so sehr in Bezug auf das Prinzip der Multiplikation der Grundfläche, sondern auf die Inszenierung des Turmes als Einheit, „[…] as a Constructivist Social Condenser: a machine to generate and intensify desirable forms of human intercourse.“8 Ein unscheinbares Äußeres birgt das gesellschaftliche Konzentrat einer in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts immer noch patriarchalen Metropole. In einem individuellen Prozess durchlaufen die Besucher mit jedem Stockwerk und dazugehöriger Funktion eine aufsteigende Entwicklung. Von den untersten Etagen, die allein den Männern vorbehalten sind, über zwischengeschlechtliche Sozialisierungsbereiche im Zentrum, bekrönt von reinen Bettentrakten, kann sich der moderne Stadtmensch nach den persönlichen Wünschen formen. Das Raumprogramm jeder einzelnen Ebene führt im kollektiven Effekt des Turmes zu einer erweiterten Reife des urbanen Bewohners. Als eine Bildungsinstitution für urbane Bewohner stellt der „Downtown Athletic Club“ einen wichtigen Impulsgeber für die Entwicklung der Metropole am Hudson dar.9

Diese zynische Interpretation in „Delirious New York“ von Rem Koolhaas zeichnet deutlich die einflussreiche Rolle eines derart großen Gebäudes in einem Stadtgefüge nach.

Die Vervielfältigung der Fläche darf nicht ausschließlich als eine Gewinnsteigerung bei gleichbleibendem Grundstückspreis abgerechnet werden. Vielmehr stellen die immense Dichte und urbane Intensität ein qualitatives Kapital dar, das auf einer verhältnismäßig

1909 Theorem

Bild: Koolhaas, Rem: Delirious New York. New York 1994. S.83

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kleinen Fläche Platz findet und gerade darum umso größere Auswirkungen haben kann.

Obwohl so wichtig als Typologie in der Stadt, hat der Diskurs um den Wolkenkratzer und den Turm eine lähmende Trägheit angenommen und mit dem Burj Khalifa einen alarmierenden Höhepunkt erreicht.

8 Vgl. Koolhaas, Rem: Delirious New York. New York 1994. S. 152.

9 Vgl. Ebd. S. 82ff.

Athletic Club

Bild: Koolhaas, Rem: Delirious New York. New York 1994. S.159

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Es gilt den Typus des Turmes wiederzubeleben – in einer vollständig neuen Form

als

experimentellen Raum

bewusstseinserweiterndes Medium gesellschaftsformenden Kondensator

urbanen Impulsgeber

in einem vollständig neuen Kontext der kulturellen Enklave mit ihrer unbewussten Qualität

.

In letzter Konsequenz

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Die kulturelle Enklave im alpinen Raum stellt als unbeschriebener Kontext (den Turm betreffend) und als topografische Entsprechung die ideale Voraussetzung dar, um mit der Gegenüberstellung des Turmes und der Berge eine neue Stadttypologie zu begründen und als Medium für einen gesellschafts-kulturellen Diskurs zu positionieren. Diese Attribute gilt es in den folgenden Kapiteln herauszuarbeiten, um sie anschließend in einem zynischen Entwurf kulminieren zu lassen.

Ansatz in Bildern

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the everyone dream of living IN the city AT the green

Rooms by the Alps

zitiert “Rooms by the Sea”

1951 von Edward Hopper

Edward Hopper nimmt sich häufig das Fenster vor, den Übergang von Innen nach Außen. Der Maler thematisiert in seinen Bildern den Kontrast privat – öffentlich, indem er die Verletzlichkeit des Individuums der „schnellen“ Welt vor dem Fenster gegenübersetzt. Die Inszenierung der Protagonisten hält einen besonderen „Zwischenmoment“ fest: nach und vor einer Handlung. Dies eröffnet den Spielraum für Träume und Ideen.

„Rooms by the Sea“ erreicht einen surrealistischen Maßstab des Traumes. Der herbeigesehnte Ozean liegt unmittelbar vor der Schwelle und ist doch wieder durch einen unendlichen Abgrund unerreichbar. In der obigen Collage wird die See durch Berge ersetzt. Urbanität wird in direkten Kontakt mit dem alpinen Grün gebracht. Die fiktive Situation thematisiert den unvereinbaren Wunsch des Menschen, in der Stadt zu wohnen, mit direktem Zugang zu unberührtem Naturraum. Dieses Prinzip treibt im zeitgenössischen Städtebau eine Dynamik an, welche als Zersiedelung bekannt ist.

Der Turm wird die Utopie der unmittelbaren Nachbarschaft von Stadt und Natur ermöglichen.

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Urban/Natur Barometer

zitiert “Time Lines” 2005 von Runa Islam PURE nature encircles a COMPACT whole

urbanity in a new context

Runa Islam benutzt in ihrem Kurzfilm „Time Lines“ die Seilbahnfahrt über den Dächern von Barcelona als Kamerawagen, um Bild für Bild die Stadt zu vermessen und im Kurzfilm zu dokumentieren.

Die Seilbahnlinie zwischen Turm und Naturraum wird zum Barometer zwischen diesen beiden benachbarten Extremen.

Sie inszeniert den Übergang weg von der Stadt hin zur Natur und umgekehrt durch ihren Standpunkt auf der Fahrt.

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Der Turm muss in seiner vollen Qualität zur Geltung kommen und in einem unbeschriebenen Umfeld ausgereizt werden. Denn die Rolle im urbanen Gefüge ist bereits besetzt mit einer Menge von Erwartungen. In diesem Rahmen kann also die Wiedergeburt des Turmes nicht gelingen. Um die typologischen Eigenschaften hervorzuholen, werden neue Herausforderungen benötigt, die mit einem unbelasteten Kontext – in Bezug auf den Turm – einhergehen. Doch ist der Turm keineswegs von seinem gewohnten Kontext abhängig, denn er stellt bereits einen autonomen, urbanen Impulsgeber für kulturelle, wirtschaftliche und nicht zuletzt gesellschaftliche Entwicklungen dar.

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Die räumlichen Phantasien konkretisiert Giovanni Battista Piranesi in seinen Kerkerentwürfen. Die Ausmaße der Strukturen nehmen urbane Dimensionen an und beeindrucken durch ihre Monumentalität. In den verschiedenen Szenen im Vordergrund bis zum Hintergrund ergibt sich eine große Vielfalt von Räumlichkeit, Detailgrad und Atmosphäre. Die überdimensionalen, durchlässigen Konstruktionen ermöglichen einen Überblick über simultane Szenen und bewirken einen panoptischen Effekt.

Die panoptische Qualität kombiniert mit der monumentalen Herausforderung für das Individuum prägt den urbanen Charakter im Inneren des Turms. Die Stadt konzentriert in ihrem Zentrum die vertikale Bewegung. Beide Komponenten gewähren gegenseitig Einblicke in ihre Aktivität.

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Labyrinthischer Kern

zitiert “Die Löwenreliefs” aus

„carceri d´invenzione“, 1761 von Giovanni Battista Piranesi LABYRINTH spatiality forces into a conflict

and leads to a subjective REFLECTION

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Nach einem kurzen Abriss zu historischen Modellen des Städtebaus wird mit Elizabeth Grosz ihr Modell der corporeality thematisiert, ein Dialog zwischen Stadt und Subjekt, zwischen Kollektiv und Individuum. In diesem Kapitel wird aus dieser Dialektik nochmal die Stadt herausgegriffen. Die Frequenz des Netzwerkes und die Kultur in der Stadt sind zwei Attribute, welche wichtige Qualitäten eines urbanen Umfeldes beschreiben.

Neben diesen und anderen soziologischen Eckpunkten spielen ökonomische Dynamiken eine entscheidende Rolle im Entwicklungsprozess eines Stadtraumes. Diese schwer zu verbindenden Ansätze sind einer dialektalen Pendelbewegung unterworfen, welche in diesem Kapitel über die letzten Jahrzehnte verfolgt wird – gegenwärtig stehen die Vorzeichen für einen experimentellen, wissenschaftlichen Schwerpunkt: Kreative Aneignung durch eine flexible Konstante ist ein zentrales Attribut für einen Stadtraum, der einen Part im Dialog mit den bewohnenden Individuen übernehmen soll.

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Zeitgenössischer Städtebau stützt seine Planungsentscheidungen meist auf formal vordergründige Zahlen. Der „Erfolg“ wird als quantitativer Entwicklungsstand anhand mehrerer urbaner Werte beziffert. Der Grad der Modernität der Strukturen wird an der Shoppinglandschaft, die sich aus kleinen Geschäften oder aus zentralen Shoppingpalästen zusammensetzt, an der infrastrukturellen Orientierung als fußgängerfreundliche, autooptimierte oder auf den öffentlichen Verkehr ausgelegte Benutzung, am urbanen Design, das sich in der Dichte, Zustand des Kerns, Gebäudehöhen etc. manifestiert und nicht zuletzt an der Wirtschaftsleistung abgelesen. Die Beschreibung einer Stadt in festgelegten Kriterien und deren Bewertung scheint ein objektives Profil möglich zu machen. Mithilfe des numerischen Werkzeugs können verschiedene Städte und Bezirke auf einen gemeinsamen Nenner gebracht und verglichen werden.

Tatsächlich ist aber Stadt einer kontinuierlichen Dynamik durch soziale, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklungen ausgesetzt, welche das Bild einer Stadt formen. Urbanität als Summe statistischer Fakten zu begreifen, erweist sich dabei als problematisch und unvollständig.

Geschichtliche Modelle der Stadt, die auf einem politischen oder kulturellen System aufbauen und heute als überholt gelten – großteils

Welchen Oszillationen die Definition einer idealen Urbanität in seiner Geschichte ausgeliefert war, wird bereits durch zwei exemplarische Auszüge klar. Es handelt sich um Modelle, denen beiden eine zeitliche Beschränkung auf eine politische oder wissenschaftliche Epoche gemein ist. Die Beispiele sind deshalb so anschaulich, da sie ihrem Kontext entsprechend von völlig anderen Schwerpunkten ausgehen und dementsprechend die formalen Auswirkungen stark divergieren.

Suche nach urbanen Qualitäten

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Ein historisches Städtebaumodell beispielsweise orientiert sich an den physiologischen Eigenschaften des Menschen – Städte wurden nach anatomischen Vorlagen in ihrer Form und Ideologie entworfen. Die einzelnen Gliedmaßen repräsentieren verschiedene Instanzen im Staat und in der Stadt.

Kopf, Arme und Füße stehen analog für König, Heer und Wirtschaft, hingegen ist die Rechtsprechung in Anlehnung an das Nervensystem angelegt. Die Interpretationen variiert von Staat zu Staat und unterliegt Anpassungen an ideologische Schwerpunkte.1

Das physiologische Modell erweist sich heute, bis auf scheinbar einige zeitgenössische Ausnahmen (s. Bilder), als überholt. Denn biologische Fakten, welche in ihrem Zusammenspiel als Ergebnis einer evolutionären Entwicklung in einer logischen Kausalität stehen, erweisen sich als Vorlage für eine urbane Theorie alles andere als optimal. Der Aufbau und die Organisation einer Stadt nach klaren anatomischen Vorgaben ließen keinen Raum für Interpretation und Entwicklung. Mit dem Beginn wird bereits der Endpunkt markiert. Ein solches städtebauliches Konzept ist deshalb problematisch, da es die Stadt und auch die ihr eingeschriebene Kultur negiert und sich vollkommen einer formalen Totalität unterwirft. Letztere unterliegt einer scheinbar willkürlichen Selektion von Körperteilen aus einem ganzheitlichen System. Wenn dieses Modell zur Anwendung kommt, wird dabei aber zumindest die Frage aufgeworfen, welche Rolle die anderen Teile spielen sollen, die nicht verwendet werden. Insbesondere das biologische Geschlecht ist für jeden Menschen eine grundlegende Konstante, bleibt aber auf den ersten Blick ausgeklammert. Die fehlende Interpretation der Genitalien in einem Staatsapparat wird allerdings ersetzt durch eine vorwiegend maskulin durchdrungene Konnotation aller anderen Bereiche. Es stellt sich ein Ungleichgewicht in diesem repräsentativen Modell ein, welches sehr subtil wirkt und auch sehr schwer zu identifizieren ist.

Formale Analogien heute

Mehrere künstliche Inseln in Form einer Palme wurden in den Jahren des 21. Jahrhunderts vor der Küste des Emirats Dubai angelegt. Im Luftbild (Palm- Jumeirah) ist die Anlehnung

an das tropische Gewächs zu erkennen. Mittlerweile treten die mit der Form der Sandinseln verbundenen Probleme hervor: Die Wasserzirkulation in den Buchten ist nicht ausreichend, um genügend Nährstoffe nachzuliefern – das Wasser kippt.

http://www.focus.de 20.10.2006 Bild: http://southernpropertyfinder.

files.wordpress.com/2008/11/palm_

island.jpg 06.05.2010

1 Vgl. Grosz, Elizabeth: Bodies-cities.

In: The Blackwell city reader. Malden 2004 (2002) S.299ff.

2 Vgl. Ebd. S.300ff.

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Als ein konträres Konzept dazu steht das kausale Prinzip. Der Mensch fungiert als Mittelpunkt und Ausgangspunkt für alle Impulse. Die Stadtform folgt den menschlichen Bedürfnissen und entwickelt neue Siedlungsformen – beispielsweise entsprechend der Überwindung des Nomadentums zu Gunsten einer sesshaften Landwirtschaft. Es ist ein einseitiges Modell, in dem die Menschen Städte machen. Geleitet wird dieser Prozess durch die ratio, welche die Fähigkeit hat vorauszuschauen und zu planen. Ähnlich dem „ghost in the machine“ wird aber der Körper zu einer leblosen Instanz, welche als handwerklicher Mediator zwischen Geist und Umgebung fungiert. Daraus würde nicht nur eine klare Hierarchie von Geist über Körper resultieren, sondern es entstünde auch ein Einbahn-Modell, welches eine Rückkoppelung durch die Umgebung auf den Verstand ausschließen würde. Die einzige Möglichkeit einer Einflussnahme würde eröffnet, wenn die Stadt als Lebensraum für den Menschen, hinsichtlich Natürlichkeit und Gesundheit, entfremdend wirkte.2

Die Stadt der Gegenwart

als Spielfeld soziologischer Dynamiken

Der segregative Charakter, der beiden Theorien zu Grunde liegt, basiert auf der strikten Trennung von physis und ratio. Mit dem Fokus auf jeweils einen spezifischen Aspekt des homo sapiens ergeben sich zwingend Schwächen im System. Durch den funktionalistischen Akzent bleiben die Reaktionsmöglichkeiten auf Abläufe, Raumprogramme oder soziale Feinheiten zu reagieren beschränkt. Der theoretische Ansatz hingegen vernachlässigt die grundlegenden Ansprüche an das Konkrete, die durch die Sinne gestellt werden. Diese Mankos führen in zeitgenössischen Hypothesen zum Versuch, durch das Einsetzen des Menschen in die Mitte der Prozesse Problemstellen bei Raum und Funktion zu reduzieren.

In den Texten von Elizabeth Grosz werden Stadtraum und Mensch als gegenseitige Bedingungen verstanden und dies führt dazu, dass ein body as socialcultural artefact aus diesem Prozess hervorgeht. Der Körper würde durch seine Gegensätze sich selbst und

„ghost in the machine“

Der Mensch als Spielball zwischen den Rädern der Industrialisierung

Charlie Japlin in

„Modern Times“ 1936

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andere, außen und innen, Geist und Körper definieren. Die Annahme verleitet Grosz dazu, den Körper aus seinen jeweils gegenüberliegenden Perspektiven zu betrachten, nämlich aus dem Outside und dem Inside. Aus dem Blickwinkel des jeweilig Gegensätzlichen versucht sie die physischen und psychischen Realitäten zu hinterfragen und den Einfluss der Kultur auf biologische Formen zu begreifen, denn dadurch würde die „corporeality in it´s sexual specificity”

definiert, als männlich oder weiblich.3

Die Theorie scheint in dem Moment schlüssig zu werden, wenn die Autorin davon ausgeht, dass die beiden Instanzen, Umgebung und Mensch, sich mit ähnlich starken Auswirkungen gegenseitig bedingen und beeinflussen. Dabei gibt es Mechanismen in der Umgebung, welche den Körper zu einem Menschen formen, mit seinen psychischen, sozialen, sexuellen, repräsentativen Facetten, und dabei umgekehrt wiederum einen neuen Ein-druck im Umfeld abgeben. „The body and its environment […] produce each other as forms of the hyperreal […].“4 Dabei erfolgt eine Überschreibung der jeweiligen Realität und es kommt zu einem hyperrealen Zustand, der als Folge dieses dialektalen Prozesses eintritt.

Die Ausführungen des Soziologen Oliver Frey können als Fortsetzung des Ansatzes von Grosz interpretiert werden. Die städtische Amalgation, der Prozess der Verschmelzung zwischen dem städtischen-physischen Ort und dem dynamisch-sozialen Individuum wird erarbeitet. An der Basis der amalgamen Identität stehen sich die

Biographie des Ortes und des Individuums als kleinste Nenner gegenüber. Diesen ist in einer wechselwirkenden Beziehung zum einen der Ort als offenes Gedächtnis und das Individuum als kreatives Milieu übergeordnet. Das kollektive Gedächtnis steht als indirektes Ergebnis über diesem Prozess der Verschmelzung. Die

„Orte“ einer Stadt entwickeln und definieren sich durch physisch-

Stadtraum als Manifestations-

plattform der urbanen Dynamiken

In der Benutzung schreiben sich die Nutzer wiederum den prägenden Kontext ein.

Hier die unmittelbare „city language“ der Straße.

Bild: Mangler, Christoph: „City Language Berlin“. München, 2006.

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soziologische Wechselwirkungen. Es entsteht ein heterogenes Geflecht. Die „kreativen Milieus“ stehen als Motor hinter dem urbanen Diskurs. In der Natur der städtischen Mikroorganismen liegt ein Aneignungsdrang, der sich in der Suche nach immer neuen Aktionsräumen zeigt. Die städtischen Bezirke werden immer wieder neu erschlossen. Die partizipierenden Individuen sind flexibel und passen sich dem Angebot an, sie wandern mit und bereiten die „Orte“ für eine neue Entwicklung auf.5

Die pulsierende Frequenz als quadratische Funktion im urbanen Netzwerk

Ein Faktor, der sich auf dieses Spiel als quadratische Funktion auswirkt, ist die Frequenz.

Durch sie wird die Be- oder die Entschleunigung aller Prozesse eingeleitet. Sie wirkt als belebender Umstand, setzt die Abläufe in Gang welche zu einer corporeality durch Amalgation führen. Allein schon die Präsenz von Beobachtern ohne feststellbares Eingreifen verändert die kollektive Realität. Die Positionierung des Individuums selbst verändert sich durch die dynamische Masse und durchwirkt wiederum den Stadtraum. Die Abläufe beschleunigen sich zusätzlich, da ein Punkt mit hoher Frequenz Magnetwirkung auf das Umfeld entwickelt. Je dichter und damit intensiver ein Platz wird, desto mehr Attraktionskraft entfaltet er. Diese beiden Variablen wirken sich um ein Vielfaches auf das Stadtleben aus. In umgekehrter Konsequenz beschleunigt dieses Prinzip auch den Verfall eines Stadtteiles. Eine rückläufige Attraktivität führt zu einem Befremden und auch zur Meidung eines Ortes. Die Abläufe gehen zurück und verlangsamen sich stark. Aufgrund mangelnder Frequenz gibt es kaum mehr Entwicklungsimpulse, die von innen kommen – Initiativen müssen von außen künstlich injiziert werden.

Einen entscheidenden Einfluss auf die Vorzeichen haben wachsende oder schrumpfende Einwohnerzahlen. Während mit zunehmender Größe eine Intensivierung der Aktivität

3 Vgl. Ebd. S. 297ff.

4 Ebd. S. 297.

5 Vgl. Frey, Oliver: Das Konzept einer

„amalgamen Stadt“ der kreativen Milieus. Auf: isra.tuwien.ac.at, am 4/11/2008.

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automatisch einhergeht, ist die Herausforderung bei zurückgehenden Zahlen vielleicht nicht schwieriger, aber auf jeden Fall ungewohnter.

Die Entwicklung einer Stadt ist nicht ausschließlich vom positiven oder negativen Wachstum abhängig, sondern von der sozial-gesellschafltichen Entwicklung der Bevölkerung. Diese benutzen die Stadt, sie passen sie ihren Bedürfnissen an und werden im selben Moment durch das Prinzip der introjection wiederum als sozio-kulturelles Individuum geprägt, wie dieser Prozess von Elizabeth Grosz bezeichnet wird.

Der Mensch ist in diesem Spiel eine anatomische Masse bestehend aus den Teilen Knochen, Muskeln, Sehnen etc., die als solche die Rohmaterie „Körper“ bilden und nur dank der Prägung durch psychische und soziale Umstände zu einem „menschlichen Körper“ geformt werden, zu einer corporeality. Die direkte Umgebung als sozialer Raum wirkt auf ein Objekt ein. Grosz betreibt ein vielsagendes Wortspiel im Englischen, indem

sie mit dem Ausdruck „(m)other“ den Grundstein der Intervention und den Punkt der Grenze zum Subjekt einkreist. Die Theoretikerin, die als wissenschaftliche Mitstreiterin für eine ausgeglichene Rolle der Frau in der Gesellschaft gilt, beschreibt in diesem Zusammenhang ebenso die sexuelle Prägung, welche einen sehr wichtigen Aspekt in ihren Studien darstellt, da. Die sexuellen Bedürfnisse, welche durch die eigenen

Wünsche, durch die familiäre Einschreibung geprägt und auch unterdrückt werden, lassen ein Kind bodily zones, orifices, and organs as libidinal sources entdecken. Zusammen mit dem Erlernen koordinativer Fähigkeiten wird durch diese verschiedenen Prägungen ein unförmiger Körper zu einem Subjekt als auch Objekt in einem sozialen Netzwerk, welches wiederum als ein Fragment für die Formung anderer corporealities fungiert.

Dem gegenüber steht im urbanen Spannungsfeld die Stadt als Überbegriff für die unzähligen Mikroorte. Für diese vielen kleinen Einheiten eines sozialen Netzwerkes (zusammengesetzt aus Gruppen, welche untereinander interagieren, als Subjekte, welche unabhängig von

Spielfeld der Kontraste

Der Stadtraum vereinigt in sich auch Gegensätze

Bild: http://i49.photobucket.com/

albums/f279/jbmirantz/homeless.jpg 12.05.2010

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Gruppen Verbindungen eingehen, Aktionen von Subjekten innerhalb von Gruppen, etc.) funktioniert die Stadt als ein großer Kondensator und Rahmen für diese unterschiedlichen Tätigkeiten, welche in erster Linie nach ihrem eigenen Richtlinien arbeiten, aber durch das übergeordnete Prinzip, nämlich der Stadt als „Ort“, welcher all dies aufnehmen kann, verbunden sind. Die indirekten Verbindungen führt dazu, dass sich der „affluent lifestyle of the banker“ mit dem „homeless, or the impoverished“ konfrontiert sehen muss. Das bildhafte Beispiel erfasst zwar Extreme, aber diese und ähnliche Variablen wirken auf das Netzwerk. Jeder ist unwillkürlich solchen urbanen Kräften ausgeliefert – wird beeinflusst und formt sie mit.6

Der Bewegungsspielraum eines Individuums hängt von der Qualität der urbanen Kultur ab

Es ist beispielsweise nicht anzunehmen, dass sich eine Gruppe von Einwanderern aus demselben Land, die sich auf zwei Städte aufteilt, auf die gleiche Art und Weise entwickeln würde. Die Kultur der Stadt ist entscheidend für die Entwicklung der beiden Enklaven in den verschiedenen Städten. Ein Ort besitzt einen Stil, einen Charakter in Form eines kollektiven Gedächtnisses, das über Generationen aufgeladen wurde und heute Einzelpersonen prägt, um von diesen erweitert zu werden. Der niederländische Historiker Willem Frijhoff geht sogar so weit zu behaupten, die Kultur einer Stadt, nämlich ihre Lebensweise und Gewohnheiten, würde auch ohne formale Strukturen weiterexistieren. Mithilfe einer Biografie historischer Aufzeichnungen würde ein negativer oder auch positiver Ruf bedingt – in jedem Fall aber sei es eine kumulative Textur lokaler Kultur.7

In der Publikation „Die Kultur der Stadt“ von Rolf Lindner wird Urbanität um weitere zwei Facetten erweitert. In sehr feinen Nuancen unterscheidet der Autor die verschiedenen Arten der Kultur, die eine Stadt bedingen. Im vorausgehenden Absatz wurde eine der drei Arten

6Vgl. Grosz: Bodies-cities S.297-303.

7 Vgl. Lindner, Rolf: Stadtkultur. In:

Großstadt. Soziologische Stichworte.

1998 S.261.

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in Übereinstimmung mit der Definition von Stadt durch Elizabeth Grosz als Kultur einer Stadt bereits vorweggenommen. Diesem allgemeinen Abriss folgt die Beschreibung von Attributen, die einer bestimmten Stadt eigen sind. Lindner versucht den verfallenen Begriff Kultur der Stadt mit neuer Substanz zu füllen und stellt ihm Urbanität als Lebensform gegenüber. Diese steht nicht nur in der Tradition der Bürgerstadt, sondern versucht sich, orientiert an der Aufklärung, von alten Einschränkungen zu lösen und „[…] demokratische Selbstverwaltung gegen feudalistischen Oktroi, Chancengleichheit gegen Vererbbarkeit der Privilegien, Entfaltung der Persönlichkeit gegen Fesseln von Sitte und Brauch […]“8 einzutauschen.

Die Merkmale der Urbanität treten bei größerer und dichterer Besiedelung umso stärker hervor

Es ist die grundlegende Offenheit der Stadt, die sie auszeichnet, wenn das Unentschiedene und die Möglichkeit, das Experimentelle und der Zufall eingebunden werden – und die im selben Moment mit diesen Attributen die Angriffspunkte für ihre Gegner bietet. Die Stadt aber muss ein offenes System bleiben. Die Atmosphäre der Urbanität als essentielle Rahmenbedingung gilt es zu schützen und dazu zählen unpopulärerweise auch oft störende Elemente wie gesellschaftliche Außenseiter und Kulturfremde.9Entgegen ihres oberflächlich- negativen Bildes sind sie Teil der kreativen Impulse. Damit wäre es zu einfach, diese zu verdrängen. Die Spielräume der Stadt sind bedingungslos.

Bereits im Werk „Politika“ von Aristoteles wird beschrieben, wie eine steigende Bevölkerungszahl eine steigende Zahl an heterogenen Formen bedingt.10 Die Frequenz als Motor der Urbanität erfährt durch die Vielfalt eine Qualitätserweiterung. In einem Dorf mit einigen hundert Einwohnern kennt jeder jeden. Mit der überschaubaren Zahl an Individuen sind aber auch der Grad der Heterogenität und die Möglichkeiten zum Austausch begrenzt.

8 Ebd. S. 257.

9 Vgl. Ebd. 256-263ff.

10 Vgl. Wirth, Louis: Stadt als Lebensform. In: Stadt und Sozialstruktur. München 1974 (erstmals erschienen 1938) S. 42-66.

11 Simmel, Georg: The Metropolis and the Mental Life. In: The Blackwell city reader. Malden 2004 (2002) S.11-19.

12 Ebd.

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Georg Simmel sucht die besonderen Attribute in diesem Kontext vielmehr im emotionalen Bereich und in der Solidarität innerhalb des Systems. Durch die Kleinteiligkeit werden automatische Kontrollmechanismen in Gang gesetzt, die soziale Regulierungen ersetzen.

Im Gegensatz dazu steht die Stadt, die durch eine unüberschaubare Bevölkerungsgröße zwar Emotionslosigkeit, aber auch zu einem „freieren“ Individuum führt.11

Ökonomische Prozesse kompromittieren Kultur und Stadt, indem ihre Gesetze bei der Realisierung eines formalen Hintergrundes zur Anwendung gelangen

Folgt man den Ausführungen Lindners, stößt man auf die nächste fein nuancierte Definition von Stadtkultur. Die Begriffsprägung Kulturen einer Stadt geht auf die individuellen Gruppen und das Zusammenleben der Bewohner ein. Damit werden die Attribute des eigentlichen Kerns der Stadt beschrieben. In ihrer idealen Form werden die Kulturen einer Stadt die Grundelemente einer urbanen Struktur aufweisen, die mit Anonymität, Heterogenität und Mobilität in Begriffe gefasst werden. Sie sind die ursprünglichen Umstände, die eine Vielzahl von kleinen kulturellen Systemen entstehen lassen, die in einem bestimmten Raum verortet seien. Das Nebeneinander dieser Kulturen ermöglicht den schnellen und unproblematischen Wechsel und läßt ethnische, moralische, kulturelle Milieus überschreiten. Jeder kann hier irgendetwas finden, das seinen Vorlieben, Empfindungen, Veranlagungen und Talenten entspricht, um sich zu entfalten. Es entstehen „Dörfer“ in der Stadt, welche sich von ihrem Namensgeber im segregativen Charakter differenzieren, denn sie werden durch das Integrationspotenzial des Stadtraumes miteinander verbunden.

Diese essentiellen Attribute sind direkt an die Bewohner gebunden und resultieren in einer Manifestation von feinen sozialkulturellen Facetten im Kollektiv.12

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Während sich Elizabeth Grosz und Oliver Frey mit urbanen Abläufen und Dynamiken beschäftigen, arbeitet Rolf Lindner vielmehr die begleitenden Umstände heraus und ergänzt auf diese Weise das dritte und zeitgenössische Modell zum Begriff der Urbanität. Allen drei Autoren gemeinsam ist die Beleuchtung des Themas von einer abstrakten Warte aus und damit losgelöst von jeder Formalisierung. Die Wechselwirkungen von Stadt und Menschen und die kulturellen Attribute bedingen ganz klar auch einen konkreten räumlichen Hintergrund.

Die Frage nach wichtigen Eigenschaften für die Gestaltung städtischer Räume könnte zum einen in knapper Weise mit „Diversität“ beantwortet werden. Diese Charakteristik stellt sich im Prinzip als unplanbar heraus, da sie sich aus der Vielfalt der einzelnen Individuen definiert. Ein Planungsprozess, der einen heterogenen Ort als Ziel ausschreibt, müsste die unzähligen Gedanken- und Aktionsprozesse vorwegnehmen, um als Resultat ein „definitives Zwischenergebnis“ zu erhalten. „Definitiv“ steht für eine realisierte formale Aussage und

„Zwischenergebnis“ ist als Auszug aus einem Prozess zu verstehen. Der gebaute Zustand ist nämlich ein flüchtiger Moment relativ zur Lebensdauer einer Stadt.

Das Dilemma einer Instant-Planung ist der verzweifelte Versuch, einen Moment zu produzieren, der die Vielfalt langsam gewachsener Orte mitbringt. Es ist aber nicht nur der Faktor Zeit, der einen attraktiven und identifizierbaren Ort entstehen lässt. Die Unplanbarkeit aller Möglichkeiten erfordert es, einen Spielraum offen zu halten, der mit numerischen Maßstäben nicht zu beschreiben ist. Für Investoren sind allerdings verlässliche Kriterien äußerst wichtig, wie z.B. Siedlungsdichte, Bodenwert, Mietpreise, verkehrsgünstige und gesunde Lage, Prestige, ästhetische Elemente und Fehlen von störenden Faktoren (Lärm, Rauch, Schmutz). Diese Quantitäten, die großteils in einer Statistik führbar sind, spiegeln den eigentlichen Hintergrund wider, vor dem die ökonomisch motivierten, urbanistischen Entscheidungen gefällt werden.

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Der zeitgenössische britische Künstler Damien Hirst thematisiert mit seinen Arbeiten den Einfluss des ökobnomischen Faktors auf die Kunstproduktion, indem er sich selbst dieses Umstands bedient.

http://jeffprentice.net/teachf/artists/damienhirstfortheloveofgod.jpg 05.05.2010 http://www.eugeniomerino.com/images/4theloveofgold.jpg 05.05.2010

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Die selektive Funktion des Kapitalsystems

Die subtilen Kapitalstützen sind Ursprung der eigentlichen Selektion, identifiziert der Kunsthistoriker Norman Bryson den Motor in seinem Fachgebiet. „Weil die Herstellung eines beliebigen Gegenstandes ein gewisses Niveau an technischer Kompetenz verlangt und weil es neben den Faktoren, die den technischen Prozeß nicht betreffen, Fertigkeiten und Prozeduren gibt, die als der Arbeit der Herstellung inhärent aufgefasst werden müssen, ist es unmöglich, einen Herstellungsprozeß allein durch die Aufzeichnung seines internen Systems und ohne Berücksichtigung des Umlaufs von Arbeit und Kapital, überhaupt der Tauschvorgänge innerhalb der globalen Ökonomie zu analysieren[...].“13 Ein Umstand, der auch in der Architektur und im Städtebau zu berücksichtigen ist. Die Umsetzung ist aber wohl mit umso größerer Schwierigkeit verbunden je stärker ein Bereich in ökonomische Netzwerke, in gesellschaftliche und politische Strukturen eingebunden ist.

Im Gegensatz zur Malerei befinden sich städtebauliche Entwicklungen unmittelbar auf dem Prüfstand der pragmatischen Anforderungen durch die ökonomischen Ansprüche der Investoren. Die Produktion des urbanen Momentes geht auch mit der Verkürzung der Prüfzeit auf einen juristisch fassbaren Begriff einher. Dieses Verfallsdatum legt eine exakt festgelegte Halbwertszeit fest, die sich innerhalb einer irreal kurzen Frist bewegt.

Unabhängig von diesen Prozessen bleibt allerdings die Semiotik als selbständiges Fach für sich. In der Malerei als auch in der Architektur oder im Städtebau entsteht ein Objekt oder ein Projekt zwar aufgrund technischen Wissens und ökonomischer Interessen, doch wird das Ergebnis an sich allein an der Wirksamkeit gemessen. Um auf die Kunstgeschichte zurückzukommen: Caravaggio beispielsweise entwickelte zwar seine eigene Maltechnik und er bewegte sich in einem spezifischen sozialen Netzwerk, doch ist die reine Wirkung seiner Bilder auf den Betrachter dadurch nicht hinterfragbar. Analog dazu stellen sich für einen lebenden Stadtraum nicht die handwerklichen Fragen eines Investors nach Gewinnmaximierung und einfacher, schneller Abwicklung in Form von spezialisierten

13 Bryson, Norman: Das Sehen und die Malerei, Die Logik des Blickes.

München 2001.

14 Lindner: Stadtkultur S.256.

15 Ebd.

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Bezirken mit kostengünstiger Erschließung, sondern allein nach dem Grad der Aneignung durch die Bewohner.

Mehr „Kultur“ als Kompensation

für jegliche Defizite im urbanen Raum

Die Gefahr stellt sich konkret im einseitigen Interesse von Developern dar, welches auf inhaltliche Defizite hinausläuft. Dieses Problem mündet nicht nur in ein Identifikationsvakuum für die Bewohner, sondern bringt eine Stadt als Einheit in eine nachteilige Position bei der Etablierung gegenüber von Konkurrenten. Die Städteplaner und Investoren müssen sich auf die Suche nach dem Mehrwert begeben, der ein Projekt von der Masse abheben und im ökonomisch engen Rahmen als Besonderheit beschreiben würde. Ein Phänomen der Zeit sei, nach dem Soziologen Lindner, dass die Verwendung des Begriffs „Kultur“ als Kompositum auf ein Mehr hinweisen würde, das über der Notwendigkeitsgrenze einer Tätigkeit oder eines Produktes liegt. Auch in der Werbung gebe es dieses Prinzip, indem ein alltägliches Muss zu einem stilvollen Erlebnis und in seinen ganzen Facetten ausgekostet wird und sich so vom Image „[…] der Barberei und des Notwendigkeitsgeschmacks […]“14 löst. Der Begriff „Kultur“ gerät in die schnelllebigen Mechanismen der Marketingindustrie, deren größtes Abfallprodukt die Entwertung ist. Das Ziel ist es, Produkten den Charakter der Einzigartigkeit zu verleihen und sie damit auf dem Markt unterscheidbar zu machen.

Eine hohle Blase entsteht mit Vernichtungspotenzial für alles, was an ihr haftet.

Der Wettbewerb unter den Städten lässt sie am Mehr ihres eigenen Angebotes feilen, um vermeintliche Erfolge mit „Stadtkultur“ zu umschreiben. Die Stadt würde dabei nicht mehr als einen Container darstellen, „[…] der relativ beliebig aufgefüllt und ebenso leicht wieder entsorgt werden kann“15. Kultur, als Inbegriff der Identität, wird also zum Standortfaktor, der durch wechselnde Vorzeichen sehr schnell angepasst werden kann, führt Lindner

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aus. Es ist nichts anderes als eine Ausstattungskultur, um es wiederum mit einem Kompositum zu fassen. Die „Kultur“ sei in diesem Fall meist von außen zugeführt und wiederum auf äußere Bedürfnisse zugeschnitten. Nicht nur, dass das Profil der Stadt mangelhaft auf die Bewohner abgestimmt wäre, die angelockte Zielgruppe hätte auch nichts mit der ursprünglichen Stadt gemeinsam.16 Die bürokratisch theoretischen Entscheidungen führen zu einer Selektion, die in einer repräsentativen Auswahl von Stadtkultur resultieren. Damit wird in Kauf genommen, einen großen Teil der eigentlichen Stadt als „subelitären“ Überschuss auszuschließen.

Insbesondere unter den leitenden Paradigmen des Neoliberalismus fügen sich auch die planenden Institutionen den puren Informationen aus quantitativen Erhebungen, die mittels Statistiken, Diagrammen, Kartenmaterial, etc. erhoben werden. Daten in Zahlen gehen mit einer extremen Kurzlebigkeit und einer hohen Aktualisierungsfrequenz einher. Der Glaube die Beschreibung des Phänomens Stadt in Zahlen formulieren zu können, kann nur als ein naiver Gedanke abgetan werden. Es kommt zum oben erwähnten Ausschluss, zur Vernachlässigung von vermeintlich Unwichtigem. Verheerend wirkt sich allerdings nicht die Methode selbst aus, sondern die einheergehende, schleichende Simplifizierung der Prozesse.

Gegensätze garantieren die urbane Ordnung

Die Dialektik der Extreme führt zu einer ausgeglichenen Entwicklung

Bild: Wolfrum, Sophie. Nerdinger, Winfried: Multiple City. Berlin 2008 S.106.

Pier Vittorio Aureli fordert einen Diskurs der Gegensätze, um der Stadt eine nachhaltige Entwicklung zugestehen zu können. Denn es seien die „[…] contradizioni, che reggono l´ordine economico delle cose […]“17. An die Stelle des ökonomischen Paradigmas würde jenes der abstrakten Idee des Projektes gesetzt, mit dem Ziel durch diesen theoretischen, idealisierten Umstand alle Gegensätze

einer Stadtentwicklung in die Diskussion einzuschließen. Darin liege eine notwendige Transparenz, mithilfe derer eine große Reichweite entfaltet werden könnte. Aureli schafft so die Überwindung des neoliberalistischen Fluchs als indirekte Planungsform durch das Ersetzen mit einem gezielten, aktiven Vorstoß – weg vom ökonomischen Anarchismus und hin zu einem kreativen Darwinismus.

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Die wechselhaften Vorzeichen für die Strategie der Stadtentwicklung

Betrachtet man die Geschichte des Städtebaus von der zweiten Hälfte des letzten und den Nuller-Jahren des neuen Jahrhunderts, stellt man, den Ausführungen von Harald Bodenschatz folgend, ein abwechslungsreiches Hin und Her zwischen den Extremen der leitenden Planungsprinzipien fest.

Ein halbes Jahrhundert zurückblickend entdeckt man erstmals in den 60er Jahren nach der Ausrufung der neu- oder wiedergegründeten Republiken in Europa und des einsetzenden Wirtschaftswunders kapitalismuskritische Ansätze. In den ersten Nachkriegsjahren ist es zunächst noch oberstes Ziel die Menschen ausreichend mit Konsumgütern zu versorgen und ihre wichtigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Die große Nachfrage für Wohnungen leitet einen enormen Bauboom ein, der im ersten Moment nur auf die unstillbare Nachfrage reagiert und sich wenig über diese opportunistische Frage hinaus mit Qualitäten beschäftigen kann. Nach der mühsamen Erholung der Bevölkerung und des Marktes, findet man erstmals zur Fragestellung „Wem gehört die Stadt“? Mit der Rückentdeckung einer kritischen Sozialforschung ist es erstmals möglich die Ohnmacht der Besitzer – Besitzer nach dem Papier – gegenüber den Akteuren, wie Planern, Spekulanten, Baugesellschaften und lokaler Stadt aufzudecken. Denn der Bürger ist zu einem passiven Stadtbewohner degradiert.

Investoren fallen in einen Stadtteil ein und verwandeln ihn zum Spielfeld ihrer Interessen.

In bestehenden Bezirken bringt dies die Umstellung der gesamten sozialen Struktur mit sich.

Das Potenzial in erweiternden Randzonen wird auf ein kurzfristig rentables Unternehmen gestutzt ohne den langfristigen Konsequenzen Rechnung zu tragen.

Die Widerstandsbewegungen der 60er Jahre, die in Folge dieses Raubbaus entstehen, etablieren sich nicht als Gegner des modernen Städtebaus, sondern als Verfechter der bestehenden sozialen Strukturen und gegen die Zerstörung des Gleichgewichts durch extern injizierte Investitionen. Im Zentrum steht die Kritik an den quantitativen und qualitativen Mängeln

16 Vgl. Ebd. S.256-263.

17 Aureli, Pier Vittorio: Il progetto della cittá: critica, politica e architettura. Prime tesi. Auf: http://

architettura.supereva.com/files, am 4/11/2009. S.4.

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der Wohnsiedlungen. Die Fehler manifestieren sich in der Großprojektmonotonie, in der schwachen Infrastruktur oder in zu hohen Mieten. Nicht eine bestimmte Entwicklung in der Stadt wird in Frage gestellt, sondern die Umstände, die damit verbunden sind. Bewohnbare Behausungen in qualitativer und quantitativer Hinsicht werden als Voraussetzung für eine ungehinderte und ausgeglichene Stadtentwicklung eingefordert.18

Hilfestellung für die Stadt

durch wissenschaftliche Impulse

Als Hilfe zur neuen Gewichtung der Akteure in der Stadt als auch zur Einführung einer neuen Qualität werden wissenschaftliche Methoden herangezogen, angetrieben von einem ungetrübten Glauben an die Möglichkeiten der empirischen Erkenntnisse. Die Herausforderung besteht darin, Qualitäten zu beschreiben, die in keiner monetären Valuta gefasst werden können und in Normen für die Planung zu fassen.

Die Erforschung der Stadt

Aus der Reihe der Theoretiker aus den 60er Jahren sticht Kevin Lynch hervor. Der Wissenschaftler ersetzt die kartographische Beschreibung der Stadt mit persönlichen Bestandsaufnahmen einer Vielzahl von Individuen. Mit dieser Darstellungsmethode gewinnt die Stadtplanung neben den sog. hard facts erstmals eine subjektive Wahrnehmung hinzu.

Bild: Lynch, Kevin, The Image of the City, Cambridge/Mass. 1960, S. 147

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In diese Zeit fällt auch die Arbeit von Kevin Lynch, der mit seinem Beitrag einen wichtigen Schritt für die qualitative Stadtforschung macht. Der Stadtplaner beschäftigt sich in der Publikation

„Bild der Stadt“ mit dem visuellen Charakter und den dazugehörigen Attributen eines urbanen Raumes – s. Das urbane Informationsfeld. In aufwendigen Studien vergleicht er mental maps von einzelnen Personen in drei verschiedenen Städten, um daraus einen fünfteiligen Kanon von Qualitäten zu destillieren. Die Vorgangsweise ist zwar extrem aufwendig, doch ermöglicht sie nicht nur eine Evaluierung einer einzigen Stadt, sondern eröffnet den Vorteil, mit anderen Beispielen vergleichen zu können. Der einzige Vorbehalt für ein vergleichbares Ergebnis bestehe laut Lynch darin, die Fragestellungen der jeweiligen Problematik anpassen zu müssen, um ortspezifische Ergebnisse zu erhalten.19

Neben Kevin Lynch fügt sich Louis Wirth mit der Erstpublikation von „On Cities and Social Life“ aus dem Jahr 1938 (1974 postmortem als „Stadt und Sozialstruktur“ auf Deutsch veröffentlicht) ebenfalls in die Reihe der Autoren ein, welche die Diskussion um die Qualitäten und Quantitäten der Stadt vorantreiben. Der Soziologe versucht, über die gewöhnlichen numerischen Attribute hinausgehend, durch kritische Hinterfragung auf die essentiellen Eigenschaften der Urbanität hinzuweisen. Seine Arbeitsweise lässt sich beispielsweise an seiner Differenzierung der urbanen Dichte veranschaulichen. Diese Größe basiert nämlich auf einer statistischen Erhebung, die nachts vorgenommen wird, und die allein widerspiegelt, wo die Menschen wohnen bzw. schlafen. Relevant sind aber eine ganze Reihe weiterer Faktoren, um das Phänomen umfassend zu begreifen.

Die von Wirth angeprangerte Methode schließt Mobilität und ihr großes Umformungspotenzial vollständig aus. Die Stadt wird aber effektiv mehrmals täglich, im Wochen-, Monats- und Jahreszyklus oder länger dauernden Phasen umgebaut. Die Orte des Geschehens wandern den verschiedenen Funktionsabläufen folgend mit. Die Nutzer verteilen sich auf Arbeit, Freizeit, Shopping, Tourismus etc. Die Wohnstruktur als Dichtebarometer zu erfassen, verzerrt die Wirklichkeit und ist eine selektive und unvollständige Untersuchung.

18 Vgl. Bodenschatz, Harald und Harlander, Tilman: Macht. In:

Großstadt. Soziologische Stichworte.

1998. S.142-150.

19 Lynch, Kevin : Das Bild der Stadt.

Ullstein 1965.

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Der Wissenschaftler sieht unter der Voraussetzung, außer der Wohndichte weitere hard facts zu berücksichtigen, eine Möglichkeit, urbane Dichte umfassend zu beschreiben. Ein Vergleich zwischen den Städten ist trotzdem mit Vorsicht zu genießen, denn „[…] hervorstehende Züge der urbanen gesellschaftlichen Szene je nach Größe, Bevölkerungsdichte und funktionaler Unterschiede der Städte variieren“20.

Die Auswahl dieser beiden Autoren ist zwar keineswegs repräsentativ und Wirths Annahme, Urbanität ausschließlich mit hard facts erfassen zu können, wäre zu widersprechen, doch spiegeln ihre Publikationen eine Bewegung wider, die in den 60ern initiiert und in den 70ern des letzten Jahrhunderts fortgesetzt wird. Mit der erstarkenden wissenschaftlichen Methode im Städtebau entsteht eine Euphorie, Städte durch Planung konzipieren zu können.

Der Optimismus führt dazu, dass Theorie und Praxis nicht gegeneinander arbeiten, sondern als Partner agieren. Durch die Kombination von theoretischen Analysen und partizipativen Initiativen wird die Stadt nicht nur Ort der Untersuchung und Mittel zur deduktiven Theorieentwicklung, sondern auch Experimentierfeld und Aktionsraum für die Implikation neu entwickelter Modelle. Der optimistische Aufschwung einer aktiven Stadtgestaltung zeigt sich in vielfach neu gegründeten Stadtentwicklungsämtern und Arbeitsgruppen und bringt eine Flut von Studien, Theorien, und Prognosen hervor.21

Der wissenschaftliche Städtebau degradiert zum Nischendasein

Die hochgesteckten Ziele, schreibt Harald Bodenschatz, bleiben unerreicht und die Erwartungen müssen mitte der 70er Jahre korrigiert werden. Die Gründe erweisen sich als vielfältig, doch sind unter anderem die unterschätzte Komplexität und unabsehbare Interessenskonflikte als Ursachen auszumachen. Hauptgrund jedoch sind wahrscheinlich die schwindenden Handlungsräume eines einbrechenden Stadtwachstums. Denn die

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Nachfrage ist in den ersten Jahren des Jahrzehnts bereits gesättigt: Harald Bodenschatz beziffert die Wohnungsneubauten in dieser Zeit mit 714.000 Einheiten. In der Folge verlassen die Menschen die alten Stadtwohnungen und pilgern in die neuen Siedlungen.

Zurück bleiben unattraktive Altstädte mit einem großen Leerstand. Doch diese werden das neue, aber auch bescheidene und unauffällige Spielfeld der Stadtplanung. Der Weg zu dieser Wende wird auf wissenschaftlicher Ebene bereits 1975 mit dem „Europäischen Denkmalschutzjahr 1975“ eingeleitet. Der historische Kern erhält eine neue Wertschätzung.

Mit denkmalpflegerischen und wohnungspolitischen Hintergründen werden Programme zur Förderung der alten Zentren in Form von steuerlichen Begünstigungen und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen erstellt.

Sozialpolitischer Zündstoff entsteht mit dem erneuten Aufkommen spekulativer Investitionen und Luxusmodernisierungen – und damit ein Wiederaufflammen der Verdrängungs- und Gentrification-Prozesse. Als absolut theoriefremde Gegenbewegung etablieren sich nun erstmals anfangs der 80er Jahre die Hausbesetzer. Zwar stellen sie keinen Baustein für eine neue, sozialwissenschaftliche Argumentation dar, doch setzen sie mit ihren praktischen Adaptionen der Strukturen eine Neubewertung der Hofbebauung aus dem 19. Jh. in Gang. Parallel werden, laut Bodenschatz, die Sozialwissenschaften in den 80er Jahren einem beispiellosen Verfall ausgesetzt. Dieser Prozess ist bereits mit der Neuentdeckung der historischen Zentren und mit dem Abschied von der modernen Stadt22 eingeleitet worden und setzt sich im aufstrebenden, postmodernen Städtebau fort.

Diese Umbrüche bringen eine Palette neuer Akteure mit sich. In dieser Phase der Liberalisierung und des postfordistischen Strukturwandels geht es darum, durch Deregulierung und Privatisierung neuen Investoren aus dem privaten Sektor die Möglichkeit einer Beteiligung zu geben. In der Folge hat sich die Diskussion um das Entwicklungspotenzial einer Stadt auf wirtschaftliche Aspekte konzentriert – im Sinne eines großen Unternehmens. 23

20 Wirth, Louis: Stadt als Lebensform.

In: Stadt und Sozialstruktur. München 1974 (erstmals erschienen 1938) S. 47.

21 Vgl. Bodenschatz, Tilman: Macht.

S.142-150.

22 Das Ende der Moderne ist mit dem 15. Juli 1972 mit der Sprengung der Wohnsiedlung Pruitt-Igoe in St. Louis markiert.

Vgl. Charles Jencks. The Language of Post-Modern Architecture. 1977. S. 9.

23 Vgl. Bodenschatz, Tilman: Macht.

S.142-150.

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