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24. Oktober 2012: "Freiräume schaffen – Außergewöhnliches ermöglichen"

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1 Wilhelm Krull

„Freiräume schaffen – Außergewöhnliches ermöglichen“ – Festvortrag anlässlich der feierlichen Eröffnung des Akademischen Jahres 2012/13, Freiburg, 24. Oktober 2012

Magnifizenz, Spectabiles,

verehrte Festgäste, liebe Studierende,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

wie viele Festvorträge in der mehr als 550-jährigen Geschichte der Uni- versität Freiburg anlässlich der Eröffnung eines akademischen Jahres be- reits gehalten wurden, ist mir nicht bekannt. Vorstellen kann ich mir je- doch, dass diese Vorträge wichtige Dokumente der wechselvollen Geschi- cke dieser altehrwürdigen Institution sind. Für mich ist es eine große Ehre, mit dem heutigen Tag in die Reihe der Festredner zu treten – und das ge- rade auch in einem Jahr, in dem es in der Chronik der Universität nicht nur Erfolge festzuhalten gilt.

Der 15. Juni dieses Jahres war für die Universität Freiburg gewiss kein Freudentag. Trotz der eindrucksvollen Förderung von zwei Clustern und einer Graduiertenschule: Die Enttäuschung über das Scheitern des Ver- längerungsantrags für das Zukunftskonzept war und ist riesengroß. Als Stiftungsratsvorsitzender der Universität Göttingen kann ich diese Enttäu- schung nur allzu gut nachvollziehen, zumal beide Universitäten – Freiburg und Göttingen – in allen internationalen Rankings – was man auch im Ein- zelnen von ihren Methoden und Kriterien halten mag – besser dastehen als eine ganze Reihe der nun in der dritten Förderlinie erfolgreichen Uni- versitäten. Erst jüngst haben das Shanghai- und das Times Higher Educa- tion Supplement-Ranking erneut bestätigt, dass Freiburg und Göttingen zu den vier bis fünf besten deutschen Universitäten gehören und zugleich um mehrere hundert Plätze vor einigen der neu in die Förderung aufgenom- menen Universitäten liegen. Insofern scheint mir die Devise Ihrer Universi-

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2 tät in die richtige Richtung zu weisen: „Der Titel ging verloren – die Exzel-

lenz bleibt.“

Auch wurde die hervorragende Qualität der Freiburger Forschung durch die Förderung eines weiteren Exzellenzclusters in dieser Runde der Exzel- lenzinitiative wieder bestätigt. Gleichwohl ist die Nichtverlängerung des Zukunftskonzepts für die Universität Freiburg nicht nur eine herbe Enttäu- schung, sondern sie stellt die gesamte Institution zugleich vor eine große Herausforderung.

Durch diese – ja, lassen Sie es mich ruhig „Niederlage“ nennen, denn so wird man die Entscheidung vom 15. Juni nicht nur in Göttingen, sondern auch in Freiburg und Karlsruhe empfunden haben – steht die Universität an einem Scheideweg. Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme, eine ge- naue Analyse der bisherigen Entwicklung, aber natürlich auch für einen mutigen Blick nach vorn: Welchen Weg will die international anerkannte, forschungsstarke Universität Freiburg in den kommenden Jahren ein- schlagen? Wie definiert sie Erfolg - und woran will sie sich in Zukunft mes- sen (lassen)?

Unser Wissenschafts- und Hochschulsystem wird nun schon seit Jahr- zehnten von einer nicht enden wollenden Welle an Evaluationen überrollt.

Das Stichwort „Evaluitis“ fällt immer häufiger. Solche externen Bewertun- gen und Evaluationen können durchaus nützlich sein, um einer Hochschu- le zu spiegeln, wo sie im nationalen oder internationalen Vergleich steht.

Sie nehmen ihr jedoch nicht die Aufgabe ab, selbst ihre Stärken und Schwächen zu analysieren und in einem gemeinsamen, hochschulweiten Prozess zu ermitteln, welche Ziele sie sich künftig setzen und welche Stra- tegie sie verfolgen möchte.

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3 1. Mehr Autonomie – mehr Wettbewerb

Seit den 1990er Jahren haben die Hochschulen in Deutschland einen deutlichen Autonomiezuwachs erlebt, der es ihnen u. a. ermöglichen soll, gezielt eigene Strategien zu entwickeln und umzusetzen. Durch eine neue Hochschulgesetzgebung, z. B. in Niedersachsen – Stichwort: Stiftungsuni- versität – in Baden-Württemberg – Stichwort: Unternehmensanalogie – und in Nordrhein-Westfalen mit dem Hochschulfreiheitsgesetz, ist der Ein- fluss neuer externer Akteure, namentlich der Universitäts- und Stiftungsrä- te, auf die Hochschulen gestiegen, und derjenige des jeweiligen Landes- ministeriums zumindest theoretisch gesunken.

Dieser Autonomiegewinn der Universitäten ging jedoch vielfach nicht mit einem Zugewinn an frei verfügbaren Mitteln einher. Ganz im Gegenteil:

Zeitgleich mit den Hochschulreformen setzte ein politisch gewollter Pro- zess der Umverteilung zwischen Grund- und Ergänzungsausstattung ein, der die staatlicherseits gewährte institutionelle Förderung reduzierte zu- gunsten einer nach wettbewerblichen Verfahren und Kriterien vergebenen Drittmittelförderung.

Weder innerhalb der Universitäten noch im Verhältnis Universität und Land ist die auf dem Papier hinzugewonnene Autonomie bislang erfolg- reich ausgehandelt und austariert worden: Innerhalb der Hochschulen ge- raten bisweilen unterschiedliche Autonomieansprüche in Konflikt mitei- nander: die des einzelnen Wissenschaftlers, der Fakultäten, der neuen Zentren und Cluster sowie der Hochschulleitung. Gegenüber ihrem wich- tigsten Geldgeber, dem Land, ist die Autonomie der Universitäten zudem alles andere als vollständig: Die finanzielle Abhängigkeit zwingt die Hoch- schulen des Öfteren, sich den Vorgaben der Landesregierung zu beugen.

Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates Wolfgang Marquardt hat in sei- nem im Juli 2011 publizierten „Bericht über Entwicklungen der Hochschul- finanzierung in Deutschland“ verdeutlicht, wie sehr sich das Verhältnis

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4 zwischen Grundausstattungsmitteln und Drittmitteln für die Forschung in

den letzten 15 Jahren verschoben hat: Während 1995 auf einen Euro Drittmittel noch knapp zwei Euro Grundmittel entfielen, waren es im Jahr 2008 nur noch 85 Cent. Der Zwang, Drittmittel für die Forschung einzu- werben, wächst – nicht zuletzt, weil zunehmend auch die inneruniversitäre Mittelvergabe an den Erfolg beim Einwerben von Drittmitteln geknüpft wird.

In den letzten Jahren ist die Antragsmaschinerie geradezu heiß gelaufen und die unerwünschten Nebenwirkungen der im Prinzip sinnvollen kompe- titiven Mittelvergabe treten immer deutlicher zutage. Da ist zum einen die Antragsflut, die Hochschulen und Drittmittelgeber gleichermaßen überrollt, die bei Antragstellern wie Gutachtern viel Zeit bindet, die für wissenschaft- liches Arbeiten verwendet werden könnte, und die einen kurzatmigen For- schungsrhythmus (üblicherweise werden Mittel nur für zwei bis drei Jahre bewilligt) vorgibt, der konzentriertem Arbeiten an großen, komplexen For- schungsfragen kaum zuträglich ist. Zum anderen werden von den Drittmit- telgebern häufig inhaltliche Vorgaben gemacht, die kein freies Forschen zu selbst gewählten Themen ermöglichen.

Wie kann es Universitäten – und Wissenschaftsförderern –dennoch gelin- gen, Freiräume zu schaffen und Außergewöhnliches zu ermöglichen? In meinem Vortrag möchte ich versuchen, diese Frage – wenn auch sicher- lich nicht abschließend – zu beantworten, so doch zumindest aus ver- schiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, neue Sichtachsen zu schaffen und auf diese Weise mögliche Lösungsansätze aufzuzeigen.

2. Vom Gewöhnlichen zum Außergewöhnlichen

Das Wort „außergewöhnlich“ lässt vielleicht bei dem einen oder anderen von Ihnen die Alarmglocken klingen. Sind wir doch – nicht zuletzt im inter- nationalen Kontext – inzwischen bei einer derart hyperbolischen Begut- achtungssprache angelangt, dass es nicht einmal mehr ausreicht, einen

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5 Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin als „ausgezeichnet“ oder

„excellent“ zu würdigen, um seine oder ihre Förderungswürdigkeit zu un- terstreichen. „Excellence“ wird in der internationalen Gutachtensprache inzwischen durch Kategorien wie „outstanding“ oder gar „truly outstanding“

zum gehobenen Mittelmaß degradiert. Nur das wahrhaft Herausragende scheint noch eine Chance zu haben, dem Los des „approved but not funded“ zu entkommen und die ersehnte Förderung zu erhalten.

Nun ist diese sich überschlagende Sprache natürlich reine Augenwische- rei. Wären Wissenschaftsförderer tatsächlich so erfolgreich darin, mit Hilfe von Gutachterinnen und Gutachtern das „wahrhaft Herausragende“ und Außergewöhnliche zu identifizieren, müsste mindestens jede zweite För- derung in einen bedeutenden wissenschaftlichen Durchbruch oder gar in einen Nobelpreis münden. Das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Das wahrhaft Außergewöhnliche zeichnet sich nun einmal u. a. durch seinen Seltenheitswert, ja auch durch eine gewisse Unfassbarkeit aus. Per defini- tionem hebt es sich vom Gewöhnlichen, Alltäglichen ab, stempelt dieses nachgerade zu etwas wenig Erstrebenswertem ab. Diese Herabsetzung des Gewöhnlichen ist jedoch alles andere als angemessen. Jedenfalls dann, wenn es um das Leben in seiner Gesamtheit geht.

Vor zwei Jahren hat der Philosoph Matthias C. Müller das Buch „Alles im Wunderland: Verteidigung des gewöhnlichen Lebens“ veröffentlicht, in dem er Letzteres gegen seine durchaus lautstarken Verächter verteidigt.

Sein Buch, so kann man in einer Zusammenfassung lesen, ist „ein leiden- schaftliches Plädoyer für den guten, alten Spießer, für Sparbuch und – [für jeden Freiburger ohnehin nachvollziehbar] – [für] Schwarzwaldferien, für die gesunde Skepsis gegen Hochstapelei und extravagante Glückstechni- ken“.

Das Lob des Gewöhnlichen ist natürlich keine Erfindung von Matthias C.

Müller, sondern ein zentraler Topos in der abendländischen Philosophie,

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6 so z. B. im Werk von David Hume. Der schottische Philosoph stellte den

Menschen in den Mittelpunkt seiner philosophischen Überlegungen. Hume war überzeugt davon, dass der Mensch zum Handeln geboren sei. Basis- annahmen für eine Anleitung zum menschlichen Handeln zu entwickeln war das Ziel seiner Philosophie. Aus seinen Prinzipien des „human under- standing“ folgerte er u. a., dass menschliches Wissen und Wahrnehmen der Dinge in hohem Maße von Gewohnheit (custom) bestimmt werde.

Auch im Alltag eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin hat das Gewöhnliche seinen wohlverdienten und wichtigen Platz. Routinetä- tigkeiten wie das Abhalten von Lehrveranstaltungen, das Korrigieren von Hausarbeiten, das Verfassen von Gutachten, die Mitarbeit in universitären Gremien, die tägliche Kaffeepause mit Kolleginnen und Kollegen halten nicht nur den Universitätsbetrieb am Laufen, sondern geben auch dem Arbeitsalltag die nötige Struktur.

Nehmen sie jedoch überhand, behindern und hemmen sie Forscherinnen und Forscher in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Das Kunststück liegt – wie so oft – in der richtigen Balance – in diesem Fall derjenigen zwischen notwendiger Alltagsroutine und ebenso notwendigem Freiraum für kreati- ves Denken und Forschen. Dass dieser Freiraum an europäischen For- schungseinrichtungen offenbar nicht in ausreichendem Maße gegeben ist, zeigt ein Blick auf die Statistik. Nimmt man beispielsweise den Nobelpreis als Beleg für Forschungskreativität, so muss man feststellen, dass die meisten Preise in Physik, Chemie und Medizin in den vergangenen Jah- ren, ja Jahrzehnten an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verge- ben wurden, die an Forschungsuniversitäten in den USA tätig sind. Von den 24 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in den letzten vier Jahren in einer der drei Kategorien ausgezeichnet wurden, arbeiteten 2/3 in den USA. Auch wenn mit dem Nobelpreis oft transformative For-

schungsdurchbrüche ausgezeichnet werden, die bereits einige Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte zurückliegen, sollte einem diese Statistik zu denken geben.

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7 Blickt man auf Deutschland, so legen eine ganze Reihe von Indikatoren

nahe, dass die Bundesrepublik – trotz der hohen Qualität ihrer Wissen- schafts- und Hochschullandschaft – aufs Ganze betrachtet nicht als welt- weit führender Kreativitätspool gilt. Ein wichtiger Indikator ist z. B. die Sta- tistik zur Vergabe der innerhalb kürzester Zeit zu renommierten Auszeich- nungen avancierten Advanced Grants und Starting Grants des 2007 er- richteten European Research Council: Als Gastland für Projekte im Rah- men der Starting Grants wird Deutschland erst an dritter Stelle nach Großbritannien und Frankreich gewählt, bei den Advanced Grants liegt es als Zielland nur knapp vor Frankreich – der Abstand zu Großbritannien ist bei beiden Förderformen sehr groß.

Nun liegt natürlich die Frage nach den Gründen für die ungleiche Vertei- lung wissenschaftlicher Durchbrüche auf der globalen Wissenschaftsland- karte auf der Hand. Diese Frage lässt sich freilich nicht einzig und allein mit dem Stichwort „Geld“ beantworten. Wir kommen der Wahrheit wohl nur näher, wenn wir uns die institutionellen Rahmenbedingungen und nicht zuletzt den Forschungsprozess selbst anschauen.

3. Der Weg zu neuen Erkenntnissen

Ein neuer Einfall, eine Erkenntnis oder eine Erfindung beginnen oftmals damit, dass wir die Dinge anders sehen, sie auf neue Weise wahrnehmen.

So, als würden sie plötzlich in einem neuen Licht erscheinen oder gewis- sermaßen mit fremden Augen wahrgenommen. Der Nobelpreisträger Richard Feynman etwa beschreibt diesen Moment, der ihn – in der Cafete- ria der Cornell University sitzend – aus einer langen Phase der Stagnation herausführte und schließlich zu einer Neudefinition grundlegender physi- kalischer Gesetze veranlasste, als einen intellektuellen Glücksfall. Indem er zwei Studenten beobachtete, die sich die beschrifteten Wappenteller wie Frisbeescheiben zuwarfen, deren graphische Gestaltungselemente sich für den Betrachter unterschiedlich schnell drehten, kam ihm die zün-

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8 dende Idee, wie er die bis dahin getrennten Felder der Elektrodynamik

und der Quantenmechanik miteinander verknüpfen könnte. Die aus der spielerischen Beobachtung resultierende Inspiration bedeutete für Feyn- man den Durchbruch zu einem neuen Denken, das sich anschließend – wie er selbst schreibt – beinahe wie von selbst zu einer schlüssigen Theo- rie der Quantenelektrodynamik zusammenfügte. “It was effortless. It was easy to play with these things. I almost tried to resist it! There was no im- portance to what I was doing, but ultimately there was. The diagrams and the whole business that I got the Nobel Prize for came from that piddling around with the wobbling plate.” 1

Dieses Beispiel – ebenso wie eine Vielzahl anderer Nobelpreisarbeiten – zeigt uns, dass wirklich bahnbrechende Einsichten häufig erst nach einem längeren, schier ausweglos erscheinenden, bisweilen gar verzweifelten Suchprozess zustande kommen. Dies gilt umso mehr, wenn mit der auf neuem Sehen und Verstehen beruhenden Erkenntnisleistung und dem auf diese Weise generierten Wissen weitere kreative Prozesse, wie etwa das Konstruieren neuer wissenschaftlicher Geräte, verknüpft sind; in einer Sphäre, in der die sensible Wahrnehmung und das genaue Begreifen der realen Gegebenheiten sich unmittelbar mit kreativ-gestalterischer Imagina- tionskraft und schließlich auch mit Realitätsveränderung verbinden. Um- gekehrt können wir beobachten, wie bereits die ersten Schritte hin zu neuen Erkenntnissen keineswegs nur in der Sphäre des abstrakt- logischen Denkens zu verorten sind, sondern häufig von Versuchen be- gleitet werden, einen revolutionären Gedanken zunächst in Form einer Zeichnung – und sei sie auch noch so skizzenhaft – sichtbar zu machen.

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat am Beispiel so überragender Denker wie Galilei, Hobbes, Leibniz und Darwin gezeigt, dass sie ihre bahnbrechenden Erkenntnisse genauso aus der zeichnerischen Verge- genwärtigung des neu Gedachten wie aus theoretischer Analyse und be- grifflicher Definition erarbeiteten. Erst indem Auge und Hand mitdenken,

1 Richard Feynman: Surely you’re joking, Mr. Feynman! New York 1985, S. 167 f.

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9 gewinnt die neue Erkenntnis jene Klarheit und Präzision, ohne die kein

wissenschaftlicher Durchbruch möglich ist. Dies gilt selbst für einen zeich- nerisch eher unbegabten Forscher wie Charles Darwin, vor allem, als er seinerzeit im Begriff war, sich zugunsten eines korallenartigen Evoluti- onsmodells von der bis dahin verwendeten Baummetapher zu verabschie- den: „Die beiden Skizzen wirken künstlerisch wertlos, und Darwin hat zeit seines Lebens bedauert, dass er im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter wie etwa Hooker kein zeichnerisches Talent besaß. Dass er seinen epo- chalen Einschnitt dennoch visualisiert hat, beeindruckt umso mehr. Die Zeichnungen bezeugen, dass Darwins vielleicht riskanteste Idee im gleichsam tastenden Wechselspiel zwischen Notizen und Skizzen ent- stand, die trotz ihrer ungekünstelten Gestalt eine bezwingende Evidenz besaßen.“ 2

Innovations- und Risikobereitschaft, gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkunden, dem Vertrauen in die jeweiligen Kräfte und Kompe- tenzen sowie große Hartnäckigkeit im Verfolgen der einmal gesetzten Er- kenntnis- und Entwurfsziele bilden die wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen für das Erreichen von wissenschaftlichen und gestalterischen Durchbrü- chen. Letztere in weitaus höherem Maße zu ermöglichen als bisher stellt die größte Herausforderung für Wissenschaft und Forschung im 21. Jahr- hundert dar.

4. Auf der Suche nach dem philosophischen Kopf

Der in vielerlei Hinsicht idealistisch gesonnene Dichter Friedrich Schiller hat in seiner berühmten Jenaer Antrittsvorlesung mit dem Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ mit großem Realitätssinn unterschieden zwischen zwei Typen von Wissenschaftlern:

dem Brotgelehrten einerseits und dem philosophischen Kopf andererseits.

Der Brotgelehrte ist laut Schiller nur auf seine Laufbahn, seine Bequem- lichkeit und Ruhe bedacht, sobald er sein Ziel – die gesicherte, auskömm-

2 Horst Bredekamp: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Natur- geschichte. Berlin 2005, S. 18.

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10 liche Stelle – erreicht hat. „Jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft“, so

schreibt Friedrich Schiller, „beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusen- det oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf; denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorherigen Lebens zu verlieren.“3

Dass ein Brotgelehrter – und diesen Typ von Wissenschaftler soll es heute gelegentlich auch noch geben! – kein idealer Kandidat für kreative For- schung wäre, liegt auf der Hand. Der philosophische Kopf hingegen schreitet laut Schiller „durch immer neue und immer schönere Gedanken- formen“4 voran. Er ist bestrebt, sein wissenschaftliches Wissen stetig zu erweitern und den „Bund mit den übrigen (Wissenschaften W.K.) wieder- herzustellen“: „alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wis- sens gerichtet. Seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine Be- griffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mit- telpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht und von ihr aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick überschaut. Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den Brotgelehrten niederschlagen, entzücken den philoso- phischen Geist.“5

So viel idealistische Wahrheitsliebe, wie Friedrich Schiller sie einfordert, dürfte heutzutage – im Zeitalter des immer weiter um sich greifenden

‚Wissenschaftsbetriebs’ – nur äußerst selten anzutreffen sein. Auch konn- te Schiller noch nicht vorausahnen, was für ein vielgestaltiges und breitge- fächertes System der Forschungsförderung sich in den folgenden zwei Jahrhunderten herausbilden würde. Aber schon allein die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Professor(inn)en an deutschen Hochschulen nie einen Projektantrag bei den großen Förderorganisationen stellt, mag uns in diesem Kontext als Anhaltspunkt für die Richtigkeit der Vermutung ge-

3 Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? in: ders.: Ge- sammelte Werke Bd. 6, Erzählungen, historische Schriften. Berlin 1959, S. 514.

4 Ebd. S. 516 f.

5 Ebd. S. 516.

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11 nügen, dass der Typus des Brotgelehrten – jedenfalls außerhalb von Frei-

burg – nicht ganz ausgestorben ist. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass auf der anderen Seite alle diejenigen, die mit Fördermitteln For- schung betreiben, bereits von „philosophischem Geist“ erfüllt wären. Eva- luationsstudien belegen vielmehr, dass es letztlich immer nur eine ganz kleine Zahl von wissenschaftlich Tätigen, ein geringer, bestenfalls bei etwa 10 % liegender Prozentanteil der jeweiligen Scientific Community ist, der die entscheidenden Leistungen – sowohl quantitativ als auch qualitativ – hervorbringt.

Es gilt also, im Sinne Schillers nach „philosophischen Köpfen“ Ausschau zu halten, sich dabei jedoch auch immer wieder die Frage zu stellen, wie man ihnen zur jeweiligen Zielerreichung die optimalen Voraussetzungen schaffen kann.

5. Orte und Institutionen der Kreativität

Offenheit für den fachübergreifenden Dialog, entschlossenes Einbringen der eigenen Expertise in transdisziplinäre Arbeitskontexte, vor allem aber die Fähigkeit zum genauen Hinsehen, intensiven Wahrnehmen und detail- lierten Analysieren des jeweiligen Gegenstandsfeldes, gepaart mit einer ausgeprägten Weltläufigkeit, Imaginationskraft und Zukunftsorientierung, gehören zu den individuellen Erfolgsvoraussetzungen „philosophischer Köpfe“ und „kreativer Forscherpersönlichkeiten“. – Wie aber steht es um die institutionell-organisatorischen Rahmenbedingungen der Entfaltung einer Kultur der Kreativität? Gibt es sie überhaupt? Oder sind nicht fast alle bahnbrechenden neuen Erkenntnisse letztlich doch zufallsbestimmt zustande gekommen?

Zumindest im Rückblick erscheint insbesondere das Gewinnen radikal neuer Einsichten weitgehend kontingent. Dass dem jedoch nicht so ist, zeigen verschiedene Studien, in denen der Frage nachgegangen wird, warum unter bestimmten Umfeldbedingungen weitaus mehr bahnbre-

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12 chende Erkenntnisse gewonnen werden als in anderen institutionellen

Kontexten.

Der Nobelpreisträger Eric Kandel z. B. hat sich in seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch „Das Zeitalter der Erkenntnis – Die Erfor- schung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Mo- derne bis heute“ mit der Frage befasst, was das Wien der Jahrhundert- wende zu einem „Kreißsaal moderner wissenschaftlicher Ideen“, zu einer

„Brutstätte künstlerischer Kreativität“ machte. Für Kandel ist es vor allem die intellektuelle Symbiose von herausragenden Künstlern, Wissenschaft- lern und Musikern, die die damalige „Kulturhauptstadt Europas“6 so erfolg- reich machte.

Der amerikanische Wissenschaftsforscher Joseph Rogers Hollingsworth hat untersucht, warum an mittelgroßen Forschungsuniversitäten sehr viel mehr biomedizinische Durchbrüche erzielt werden als an zahlenmäßig und finanziell deutlich gewichtigeren Einrichtungen. Er kommt zu dem Schluss, dass neben einer klaren strategischen Forschungsorientierung und einem insgesamt forschungsfreundlichen Klima vor allem die Balance zwischen einem hinreichenden Maß an disziplinärer Vielfalt und einem möglichst intensiven Grad an kommunikativer Interaktion gewahrt sein muss.7 Ist die Einrichtung zu klein und fachlich zu homogen besetzt, fehlt es an fremd- disziplinärem Anregungspotenzial. Wird die Hochschule zu groß und zu heterogen, ergibt sich kaum noch die Gelegenheit zum persönlichen Aus- tausch. Fachliche Enge schlägt in Monotonie um; allzu große Breite trans- formiert ein erwünschtes Maß an Diversität in unproduktive Heterogenität.

In beiden Extremfällen erlahmt schließlich die intellektuelle Kreativität und damit auch das Hervorbringen von grundlegend neuem Wissen.

6 Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. München 2012. S. 26.

7 Vgl. J.R. Hollingsworth, E.J. Hollingsworth und J. Hage: Fostering Scientific Excellence. Organisa- tions, Institutions, and Major Discoveries in Biomedical Science, New York 2003.

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13 Wie damit schlaglichtartig deutlich wird, bedürfen neue Ideen eines kom-

munikativ verdichteten Nährbodens, um sich entfalten zu können. Innova- tions- und Risikobereitschaft gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkunden, dem Vertrauen in die jeweiligen Kräfte und Kompetenzen sowie großer Hartnäckigkeit im Verfolgen der einmal gesetzten Erkenntnisziele bilden die wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen für das Erreichen von wis- senschaftlichen Durchbrüchen.8 Letztere in noch weitaus höherem Maße zu ermöglichen als bisher stellt die größte Herausforderung für Wissen- schaft und Forschung im 21. Jahrhundert dar. Ihr müssen sich sowohl die kreativsten Forscherinnen und Forscher als auch die führenden Köpfe in Politik, Wirtschaft und anderen Bereichen der Gesellschaft stellen, wollen wir den nachfolgenden Generationen nicht einen Scherbenhaufen unbe- wältigter Probleme, zertrümmerter Hoffnungen und uneingelöster Verspre- chen hinterlassen.

Da es bislang nur wenige, oft auch nur einzelne Aspekte beleuchtende Studien zu den Erfolgsvoraussetzungen kreativer Forschung gibt, kann auch der folgende Versuch einer Systematisierung nur vorläufigen Cha- rakter haben. Er erscheint mir jedoch geboten, um die Debatte über die Erfolgsvoraussetzungen besonderer Orte für kreative Forschung voranzu- bringen. Damit eine inspirierende Atmosphäre entstehen kann, sollten zu- mindest die folgenden sieben Bedingungen erfüllt sein:

• hohe fachliche Kompetenz und die Freiheit, diese stetig weiterzu- entwickeln;

• großer Mut, nicht nur auf Seiten der jeweiligen Forscherpersön- lichkeit, sondern auch auf Seiten der Hochschul- und Institutslei- tungen, für die einmal getroffenen Entscheidungen geradezu- stehen;

• ein Klima hoher Innovationsbereitschaft, das zugleich mit großer Geduld und einem hohen Maß an Fehlertoleranz einhergeht;

8 Vgl. dazu auch Wilhelm Krull: Taking the Initiative: Risks and Opportunities in Research Funding. In:

Perspectives of Research. Identification and Implementation of Research Topics by Organisations.

Max-Planck-Forum 7. München 2007, S. 29-45.

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• intensiv genutzte Möglichkeiten der Kommunikation und Vernet- zung, die auch das genaue Hinhören einschließen;

• eine Vielfalt unterschiedlicher fachlicher Perspektiven als Resultat einer behutsam aufgebauten Diversität, ohne in allzu große Hete- rogenität zu verfallen;

• große Ausdauer und Entschlossenheit, das gesteckte Ziel zumin- dest auf lange Sicht auch zu erreichen;

• Offenheit für den glücklichen Einfall (serendipity), die gerade durch ein intellektuell herausforderndes Umfeld begünstigt wird und sich gleichwohl planerischen Absichten weitgehend entzieht.

Nun sind institutionelle Rahmenbedingungen, strenge Regeln und geord- nete Prozesse mit Freiräumen für kreatives Forschen nicht ohne Weiteres vereinbar. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen und erhöhter Rechen- schaftspflicht stehen nur allzu oft Erfordernisse der ordnungsgemäßen, von administrativ-organisatorischen Regelungen umstellten Hochschul- und Forschungswelt einer auf das Durchbrechen herkömmlicher Sichtwei- sen und Regeln zielenden Kreativität diametral entgegen, zumal sich wis- senschaftliches Neuland nur selten auf direktem Wege und im vorgesehe- nen Zeitrahmen erschließt. Der unter Forschern gebräuchliche Satz „Um- wege erhöhen die Ortskenntnis.“ findet auf der institutionellen Leitungs- ebene und in der Administration nur selten Akzeptanz. Trotz gegenläufi- ger, von kurzatmigen Effizienzkriterien geprägter Trends lohnt es sich je- doch gerade heute, für die Entfaltung einer Kultur der Kreativität einzutre- ten.

Angesichts eines immer hektischer agierenden Wissenschaftsbetriebs ist es umso wichtiger, Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen, für Entschleuni- gungsphasen zu sorgen und einen intensiven Austausch unter „philoso- phischen Köpfen“ zu befördern. Forscherkollegs und Institutes of Advan- ced Study, aber auch Forschungsstellen und Arbeitsgruppen der Akade- mien bieten günstige Gelegenheiten und adäquate infrastrukturelle Vo-

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15 raussetzungen für Kommunikation und Kooperation ebenso wie für ein

hohes Maß an Konzentration auf die zu lösende Aufgabe. Dies ermöglicht auf vorbildliche Weise auch das Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS).

Trotz ihrer großen Bedeutung für die Schaffung von Forschungsfreiräu- men ist die Einrichtung von Institutes of Advanced Study allerdings nur ein Mittel zum Zweck. Will eine Universität als Forschungseinrichtung langfris- tig erfolgreich sein, so muss es ihr gelingen, das Anregungspotenzial aus dem Bereich der höheren Studien für die eigene Weiterentwicklung zu nutzen und auch innerhalb des regulären universitären Betriebs Freiräume zu eröffnen.

Zudem muss es ihr Ziel sein, Freiräume für neues Denken in Forschung und Lehre in den Universitätsalltag zu integrieren.

6. Curricula und Kreativität in Studium und Lehre

Die informationstechnische Revolution, die sich auf nahezu alle Kommuni- kationsprozesse auswirkt, und die immer rascher voranschreitende Spezi- alisierung, insbesondere in der naturwissenschaftlich-technischen For- schung, machen es zwingend erforderlich, über die Funktion von Bildung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit neu nachzudenken.

Spannungsbögen und Widersprüche, die die Lehr- und Lernstruktur der Zukunft beeinflussen, konzentrieren sich vor allem auf die Suche nach einer neuen Balance zwischen dem für den weiteren Erkenntnisfortschritt qua Forschung unvermeidlichen Maß an Spezialisierung einerseits und dem ebenso notwendigen Erwerb von Überblickskompetenz und Urteilsfä- higkeit andererseits. Zugespitzt, aber nicht widerspruchsfrei formuliert: Je spezialisierter und enger geführt die Forschung sich entwickelt, desto wichtiger werden in Lehre und Studium die Vermittlung von breitgefächer- tem Wissen und die vielfach vernachlässigte Persönlichkeitsbildung!

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16 Gerade in Zeiten rasanten Wandels gewinnt die Sehnsucht nach Stabilität

und nach „Bildung ohne Verfallsdatum“ weiter an Bedeutung. Das schon häufig für tot erklärte Humboldtsche Bildungsideal und die als „Mythos Humboldt“ apostrophierte Universitätskonzeption erleben erfreulicherweise seit geraumer Zeit – nicht zuletzt im Gefolge des Bologna-Prozesses – eine Renaissance. Als eine Art „Allzweckwaffe“ in hochschulpolitischen Debatten sollte das auf die Ausbildung einer kleinen, staatstragenden Elite zielende und erst hundert Jahre nach seiner Entstehung zum Mythos ver- klärte Humboldtsche Bildungsideal aber nicht missbraucht werden. Für jede Universität, die mit dem Anspruch auftritt, eine international wettbe- werbsfähige Forschungsuniversität zu sein, und sich somit den komple- mentären Prinzipien der „Lehre aus Forschung“ und des „forschenden Lernens“ verpflichtet fühlt, bieten die einschlägigen Schriften Humboldts jedoch auch heute noch einen wichtigen Orientierungsrahmen, den es frei- lich neu zu interpretieren und in curricular gelebte Praxis umzusetzen gilt.

Denn selbst wenn der Staat den chronisch unterfinanzierten deutschen Hochschulen wesentlich mehr Geld zur Verfügung stellte, wäre „Humboldt für alle“ weder ein erreichbares noch ein erstrebenswertes Ziel. Schließlich bilden die heutigen Hochschulen Akademiker für viele Berufsfelder und nicht nur für Wissenschaft und Staatsdienst aus. Das Studienangebot staatlich finanzierter Hochschulen muss sich auch nach den Bedürfnissen des Staates und der Wirtschaft sowie nicht zuletzt nach den Berufszielen der Studierenden richten.

Die von Wilhelm von Humboldt geforderte und angeblich durch den Bo- logna-Prozess bedrohte Einheit von Forschung und Lehre kann jedoch auch in Zeiten gestiegener Lehr- und Prüfungsverpflichtungen aufrecht- erhalten werden, wenn sie flexibler gestaltet wird als bisher an deutschen Hochschulen üblich; genannt sei nur das Stichwort „Fakultätsdeputat“. Der derzeitige Hochschulreformprozess bringt nicht nur keineswegs zu leug- nende Schwierigkeiten und Probleme mit sich, sondern er bietet auch die Chance, weiterhin zentrale Aspekte des Humboldtschen Bildungsideals angepasst an die Anforderungen und Rahmenbedingungen unserer Zeit in

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17 den Hochschulen des 21. Jahrhunderts zu realisieren. Auch in den Ba-

chelor-Studiengängen, die in erster Linie der Vermittlung eines breit ange- legten Fachwissens dienen, sollten die Studierenden keineswegs nur Re- zipienten von Faktenwissen sein, sondern vor allem als aktiv an ihrem ei- genen Wissensaufbau Beteiligte gesehen und dazu angehalten werden, sich von Anfang an selbst auf kreative und produktive Weise Wissen an- zueignen.9 Das in diesen Tagen seinen Lehrbetrieb aufnehmende Uni- versity College Freiburg of Liberal Arts and Sciences bietet hierzu einen sehr gut ausbalancierten Lösungsansatz.

Gleichzeitig muss auch der Lehrqualität mehr Gewicht verliehen werden als dies bisher an deutschen Universitäten üblich ist. In einem Aufruf für eine „Exzellenzinitiative für die Lehre“ heißt es dazu mit Blick auf das Set- zen falscher Prioritäten im deutschen Hochschulsystem und das brotge- lehrtenartige Verhalten vieler Professor(inn)en: „Zu viele Wissenschaftler haben sich in diesem System eingerichtet. Sie vernachlässigen die Lehre und tragen ihre Vorlesungen aus Lehrbüchern vor, anstatt neue For- schungsergebnisse zu präsentieren. Sie verschanzen sich in einem Elfen- beinturm, zu dem nur ein kleiner Zirkel Zugang hat. Sie entwickeln keine pädagogische Leidenschaft und begeistern zu wenige Studenten für ihr Fach und die Wissenschaft.“ (zit. nach: Zeit Online. Campus, 02/2007.) Eine auf neuester Forschung aufbauende Lehre muss also dringend aus- gebaut werden, um den Studierenden mit Blick auf ihre kommenden Füh- rungsaufgaben in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft gerecht zu werden.

7. Gemeinsam Freiräume schaffen

Für beides gilt es letztlich innerhalb des Universitätsalltags Freiräume zu schaffen: für kreatives Forschen wie für das Ausprobieren innovativer Lehrkonzepte.

9 Vgl. Wilhelm Krull: Bildung und Wettbewerb. In: A. Schlüter und P. Strohschneider (Hg.): Bildung?

Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert. Berlin 2009, S. 194-207.

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18 Beides wird im deutschen Wissenschaftssystem nur dann eine verlässli-

che Zukunft haben, wenn zumindest für die „philosophischen Köpfe“ unter den Studierenden wie den Lehrenden die Rahmenbedingungen entschei- dend verbessert und ihnen möglichst optimale Voraussetzungen dafür ge- boten werden, ihre wissenschaftliche Neugier und ihre Vorstellungskraft voll entfalten zu können. Angesichts der demographischen Entwicklung und schwindender finanzieller Spielräume der öffentlichen Hand wird dies nur an wenigen, ausgewählten Universitäten realisierbar sein. Diese müs- sen sich durch die folgenden sieben Charakteristika auszeichnen:

• ein klares Lehr- und Forschungsprofil sowie ein gemeinsames Ver- ständnis möglichst aller Mitglieder von den Zielen und Aufgaben der jeweiligen Institution;

• Organisationsformen, die fächerübergreifende Kooperationen in Forschung und Lehre begünstigen;

• eine hohe Attraktivität für die besten Studierenden und das Recht, sich die Studierenden selbst auswählen zu können;

• eine proaktiv gestaltete und sich durch ein hohes Maß an Qualitäts- sicherung auszeichnende Berufungspolitik, die Wert darauf legt, Persönlichkeiten zu identifizieren und zu rekrutieren, die sowohl als Forschende wie auch als Lehrende überzeugen;

• international attraktive Studienangebote und Curricula, die den Herausforderungen, denen sich die künftigen Führungskräfte in der digital vernetzten Wissensgesellschaft ausgesetzt sehen, gerecht werden;

• Partnerschaften, Verbünde und Netzwerke, die sowohl an der Schnittstelle zu Wirtschaft und Gesellschaft als auch im Kontext in- ternationaler Zusammenarbeit zusätzliche Entwicklungschancen eröffnen;

• finanzielle Ressourcen aus öffentlichen und privaten Quellen, die von der infrastrukturellen Ausstattung bis hin zu den Professoren- gehältern flexible und international konkurrenzfähige Entwick- lungsmöglichkeiten eröffnen.

(19)

19 Um die Universitäten dabei zu unterstützen, diese Rahmenbedingungen

zu schaffen, sind auch die Geldgeber in der Pflicht: Durch die Wahl ihrer Förderangebote und

-instrumente können sie Universitäten dabei unterstützen, ihre Strukturen zu erneuern, und es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermögli- chen, mehr Raum für ihre Forschung und dadurch zugleich neue Inspirati- on für ihre Lehre zu gewinnen.

Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, wenn ich dies an Beispielen aus der Förderung der VolkswagenStiftung illustriere: Mit dem Förderangebot Opus Magnum eröffnet die VolkswagenStiftung Geistes- und Gesell- schaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Möglichkeit, bis zu zwei Jahre ausschließlich der Arbeit an einem Buchprojekt zu widmen.

Der Lehrstuhl wird in dieser Zeit von einem jüngeren Kollegen oder einer jüngeren Kollegin vertreten, so dass dieses Förderangebot gleichzeitig der Qualifikation des herausragenden „wissenschaftlichen Nachwuchses“

dient. Diesen auf seinem Weg zur Professur zu unterstützen, ist ein be- sonderes Anliegen der VolkswagenStiftung. Sowohl das Förderangebot Lichtenberg-Professur als auch die in diesem Jahr erstmalig ausgeschrie- benen Freigeist Fellowships eröffnen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Perspektiven über einen Zeitraum von 5-8 Jahren an einem Forschungsprojekt, das sich zwischen den etablierten Disziplinen bewegt, zu arbeiten.

Diese Art der Forschungsförderung – jenseits der weit verbreiteten Hektik und Risikoaversion – ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal der Volks- wagenStiftung. Insbesondere beim Blick über den nationalen Tellerrand finden sich viele Beispiele dafür, wie Wissenschaftsförderer sich darum bemühen, aus der Falle der Kurzatmigkeit herauszukommen und Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern neue Forschungsfreiräume zu ver- schaffen. Genannt seien hier nur die Förderangebote des Wellcome Trust, der Mac Arthur Foundation und des Howard Hughes Medical Institute.

(20)

20 Kurzgefasst: Um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den nötigen

Freiraum zu verschaffen, müssen Universitäten und Geldgeber an einem Strang ziehen. Noch heute gilt dabei für jeden Wissenschafts- und For- schungspolitiker, was der scharfsinnige Aphoristiker Georg Christoph Lich- tenberg einst konstatierte: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber soviel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“10

Und so sollten Universitäten und Geldgeber gemeinsam Risikobereitschaft und Verlässlichkeit zeigen, etablierte Strukturen überdenken und eng zu- sammenarbeiten bei der Entwicklung von Förderinstrumenten, die die Kreativität der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht beschnei- den, sondern beflügeln. Auf diese Weise kann es – auch und gerade an einer forschungsstarken Universität wie Freiburg – gelingen, mitten im ge- wöhnlichen Universitätsalltag Außergewöhnliches zu ermöglichen.

Der aktuelle Status Quo der Universität Freiburg ist dabei nicht mehr und nicht weniger als eine Momentaufnahme, das Ergebnis vom Juni 2012 ist nur ein Zwischenergebnis. Letztlich kommt es im Lichte der Ewigkeit, wie folgender Witz mit einem Augenzwinkern illustriert, immer auf das Ender- gebnis an:

Ein Priester, ein Forscher und ein Investmentbanker, klopfen zur gleichen Zeit an das Himmelstor. Petrus öffnet ihnen und bittet alle drei, in den Himmel einzutreten und ihre neuen Gewänder anzulegen. Während der Priester und der Forscher nur ein normales Leinengewand erhalten, er- scheint unser Investmentbanker von oben bis unten in Gold gekleidet. Da- raufhin protestieren die beiden Erstgenannten heftigst und verlangen von Petrus eine Erklärung. „Nun“, sprach dieser, „hier im Himmel schauen wir uns stets das Endergebnis Eures Handelns an. Du lieber Priester, hast zwar viel Gutes getan, aber im Laufe der Jahre wurden Deine Predigten

10 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft K, 293.

(21)

21 immer langweiliger, bis schließlich kaum noch jemand zum Gottesdienst

erschienen ist und diese wenigen auch noch eingeschlafen sind. Du, lie- ber Forscher, hast zwar viele auf den Weg der Vernunft geführt und auch Neues herausgefunden; dabei bist jedoch weder Du selbst, noch sind Deine Studenten Gott näher gekommen. Bei ihm hingegen (und Petrus zeigte auf den Investmentbanker in seinem goldenen Gewand) sind am Ende Tausende auf die Knie gefallen und haben inständig zu Gott gebe- tet, er möge sie doch endlich von diesem Banker erlösen. Ihr seht also, wie sehr bei uns im Himmel das Endergebnis zählt.“

Die Universität Freiburg kann mit Stolz auf eine lange und große Ge- schichte zurückblicken, möge sie zu Beginn des akademischen Jahres 2012/2013 mit ebenso großer Zuversicht in die Zukunft schauen und die Herausforderungen, die diese mit sich bringt, mutig – und offen für den außergewöhnlichen Moment – anpacken!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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