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Adrian Soller

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Academic year: 2022

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Impressum

www.ernstmagazin.com, ISSN 2504-4222, Mühlestrasse 5, 8400 Winterthur

Redaktion Adrian Soller (Leitung), Frank Keil, Ivo Knill, Martin Schoch, Anna Pieger, Anita Zulauf redaktion@ernstmagazin.com, +41 (0) 76 720 34 00 Lektorat Peter Anliker, Ruggero Ponzio

Erscheint 4-mal jährlich

(März, Juni, September, Dezember) Auflage 2000 Exemplare Abonnemente +41 (0) 71 388 81 92, abo@ernstmagazin.com

Abonnementspreis 4 Ausgaben Fr. 80.– / € 70.–

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Inserateschluss 15. Feb., 15. Mai, 12. Aug., 7. Nov Herausgeber Verein MZ, Burgdorf

Druck Cavelti AG, Gossau, www.cavelti.ch Gestaltung Kaspar Eigensatz, www.eigen-satz.ch Schriften Lexik von Thomas Hirter und Euclid Flex von Swiss Typefaces Titelbild Anina Ung

Da sitzt du also da, die Hände ineinander gefaltet und

wartest. In dir drängt eine Idee, angeschwollen auf die Grösse eines Universums schiebt und stösst sie, rüttelt an deiner Seele, ungeduldig, zappelnd, bereit, die unfertigen Überlegun- gen der Anderen in einem Orkan der Begeisterung vom Tisch zu fegen.

Du musst gelernt haben, zu warten. Es wird nicht einfach gewesen sein. Denn du bist einer von ihnen, das weiss ich jetzt, ein Engagierter, ein Getriebener. Immer suchst du das Tun, das dein Sein verdichtet. Brennt in deinem Innern keine Idee wie eine Fackel in der Sommernacht, fühlst du dich scheitern.

Man kann dir vorwerfen, du seiest egoistisch. Du kreisest nur um Dich. Man läge damit nicht falsch, griffe aber zu kurz. Denn nicht dich machst du gross, sondern deine Sache.

Du gehst für etwas ständig und stetig voraus. Du willst die Welt verändern! Zum Guten. Und nicht allein. Du siehst klar,

hast den Mut, die Dinge durchzudenken.

Du stehst auf der richtigen Seite der Geschichte. Wahr- scheinlich denkst du bei alledem an deine Kinder, auch an Ruhm? Ein Sich-aufbäumen wird es sein, ein innerer Aufstand.

Du setzt dich ein. Wie es dir gelang, dich für dein Vorwärts- drängen und deinen Stolz nicht mehr zu schämen, nimmt mich wunder. Und wie es dir gelingt, nicht zu erstarren, auch.

So lässt dich, was nicht gut läuft, Flüchtlingspolitik und Klimaschutz, nicht in Lethargie zurück, es treibt dich an.

Im Unfertigen siehst du deine Mission. Du bist einer, der erschafft, für dich, für andere, mit deinen Händen schraubst und lötest du an der Welt.

Auch grämst du dich. Vielleicht haderst und zauderst du.

Aber nie ohne Hoffnung. Weil ja – du bist einer, der immer hofft, der immer glaubt, an Gott vielleicht, aber sicher daran, dass alles einen Sinn verdient. Und was keinen Sinn ergibt, dem schreibst du einen zu. Um deine Akribie weiss ich nicht.

So gut kenn’ ich dich nicht. Ich kann mir vorstellen, dass du deine Erfolge katalogisierst, als Ansporn für nächste. «Erfolge gehörten gefeiert», höre ich dich sagen, obwohl du das so vielleicht gar nie sagtest.

Ich weiss nicht viel. Ich weiss nur, du bist einer von ihnen, einer, der sich engagiert, sich engagieren muss: Du bist ein Begeisterter. Und in deiner Begeisterung liegt das Leben.

Adrian Soller

redaktion@ernstmagazin.com

Engagiert Euch!

(3)

Editorial

Klettern für Menschenrechte

4–7

Denn das Leben liegt

in der Begeisterung

8–13

Hin und zurück: Volunteers

14–17

«Jedes Jahr fahre ich

zwei Wochen nach Griechenland»

18–19

Die Armee wollte Adolf Besmer

enteignen.

20–23

Das letzte Gedicht

24–27

Wir bleiben!

28–31

Brenne! Stinke! Blute!

32–33

Geschlecht und Gesellschaft

ab 34

Sinn und Sinne

ab 46

Engagiert Euch!

(4)

Klettern für

Menschen-

rechte

(5)

Engagiert Euch!

Klettern für

Menschen- rechte Während einer

CS-Generalversammlung hat sich Umweltaktivist Steven vor tausenden von Kleinaktionären von der Decke des Hallenstadions abgeseilt, um ein Protest- banner zu entrollen. Ein

Tischgespräch über Kletter- Aktionen, Unsicherheit –

und Salatsauce.

Interview: Thomas Manz, Illustration: Anina Ung

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Lieber Steven, wir kennen uns seit über zwanzig Jahren, nicht selten sehen wir uns aber nur einmal im Jahr, beim Weihnachtsapéro unseres gemeinsamen Treuhänders.

Nun hast du mich zum ersten Mal zum Mittagessen eingeladen. Du kochst sehr gut, die Salatsauce ist echt speziell.

Das freut mich. Zu Essig und Öl habe ich Sojasauce und etwas mildes Curry beigegeben. Das ist alles. Das gibt die fruchtige Note.

Das Essen war nicht nur gut, es war natürlich auch:

vegetarisch. Würdest du dich eigentlich als Grünen bezeichnen?

Nicht unbedingt. Ich bin eher pragmatisch als grün.

Weil’s mir gut tut, ess ich gerne mal Schokolade.

Da kann ich mir schlimmere Umweltsünden vorstellen.

Naja. Ich nehme auch dann und wann ein Vollbad. Mein grösster Luxus besteht darin, aus den Bergen zurückzu- kommen, zu kochen und in der Badewanne zu essen. Als ich noch Fleisch ass, gab es mal Spinat und Bratwurst. Da fiel mir der Teller aus der Hand. Die Bratwurst schwamm im Wasser. Das sah übel aus. Das Wasser wurde grasgrün.

Es ging ewig, bis ich den Spinat wieder aus den Haaren heraushatte.

Auch wenn du Pragmatiker sein magst, setzt du dich für grüne Anliegen ein. Wie hast du in der Nacht auf den 28. April 2017 eigentlich geschlafen?

Kurz und eigentlich gut. Am Morgen habe ich dann einen Tee getrunken, schon begannen die Räder zu drehen. Ich stellte nichts mehr infrage. Ich wusste, was zu tun war.

Ich agierte relativ emotionslos. Ich erinnere mich aber nicht mehr an alles. Wie das Wetter war, weiss ich nicht mehr.

Ein paar Stunden später hingst du während der CS-Gene- ralversammlung im Zürcher Hallenstadion in den Seilen.

Und das vor rund 3000 bis 4000 Menschen.

Dass mir und meinem Kletterpartner das gelang, dürfte eigentlich gar nicht möglich sein. Es hatte unheimlich viele Sicherheitsleute vor Ort. Wenn ich ehrlich bin, habe ich an diesem Morgen an unserem Vorhaben gezweifelt.

Und das Vorhaben war?

«Stop Dirty Pipeline Deals» stand auf dem Banner: Es war eine der spektakulärsten Aktionen, an der ich bisher teilgenommen habe. Wir wollten die Verwicklung der Schweizer Grossbank CS in die Dakota Access Pipeline anprangern. Die CS spielte eine Schlüsselrolle bei der Finanzierung des Projekts. Wir fanden, dass die Aktionä- rinnen und Aktionäre ein Anrecht darauf haben, zu wissen, dass das damals hochumstrittene Projekt Indige- nen-Rechte verletzt, das Trinkwasser von Millionen Men- schen gefährdet – und die Klimakrise verschärft.

Und dann hingst du also über dem Verwaltungsrat … Das war der Moment, als ich realisierte: jetzt können sie uns nicht mehr aufhalten. Ich empfand eine unglaubliche Freiheit und Leichtigkeit. Wir hatten es geschafft.

Wie lange hingst du in der Luft?

Eine Viertelstunde, eine kleine Ewigkeit. Wir wären länger geblieben, aber man drohte uns mit ernsthaften juristischen Konsequenzen. Ausserdem war die Bot- schaft platziert.

Euer Publikum, die Aktionäre und Aktionärinnen, hat während des Auftritts applaudiert.

Das hat mich überrascht. Es waren offenbar viele besorgte Anleger und Anlegerinnen anwesend; Leute mit kleinem Portfolio, die sich auf das Sandwich in der Pause freuen und die durchaus kritisch auf das Unternehmen blicken.

Der Applaus und dieses Meer von Leuten waren schon surreal, so einen Auftritt werde ich im Leben wohl nie mehr haben.

Hast du das Klatschen also wahrgenommen?

Klar doch. Es war bizarr. Ich konnte in den Teleprompter des CEOs schauen und mitlesen.

Tidjane Cheick Thiam unterbrach seine Rede mit der Aussage, er sei auch für freie Meinungsäusserung – und

sprach dann einfach weiter.

Eine fast schon abgründig-professionelle Reaktion, ja.

Total distanziert. Ich bin überzeugt, dass sie einen auf dieser Führungsebene gut auf solche Ereignisse vorbereiten.

Etwas später kam von Thiam dann der Hinweis, dass bei den Excel-Diagrammen, die nun projiziert würden, nicht alles lesbar sei, da wir ja zwischen Projektion und Leinwand hän- gen würden. Man müsse die Inhalte halt ergänzen. Das war wunderbar dadaistisch.

Hast du bei solchen Aktionen Angst vor Unfällen?

Kurz gesagt: ja! Ich bin gerne gut vorbereitet. Vor einer Aktion ist die Ungewissheit stressig und kann mich einiges an Schlaf kosten. Bin ich mittendrin, funktioniere ich einfach.

Habt ihr euch eigentlich als Security-Leute ins Hallenstadion reingeschmuggelt?

Das möchte ich im Detail nicht verraten. Es war aber nicht allzu schwer. Nur so viel: Es hat mich 15 Franken gekostet.

Woher nimmst du eigentlich die Gewissheit, dass es richtig und wichtig ist, Aktionen wie diese zu machen?

Mit einer gewissen Unsicherheit muss ich leben. Wo ich Wissenslücken habe, vertraue ich Leuten, die in den ent- sprechenden Themen sattelfest sind. Manchmal spüre ich einfach, dass ich nahe an der Wahrheit dran bin. Das muss reichen, und ich versuche, mich für den grösseren Zusammenhang zu engagieren. Ich bin kein konfrontati- ver Mensch. Das Provokationspotenzial, das gewisse Aktionen haben, ist mir eher unangenehm.

Aber du bist schon stolz auf deine Aktionen?

Stolz ist das falsche Wort. Die Aktionen geben meinem Leben Sinn und Erfüllung. Sie fühlen sich richtig an, und ich bereue sie nicht.

(7)

Engagiert Euch! Zurück am Boden seid ihr an jenem Tag

im April vor vier Jahren von Sicherheitsleuten empfangen worden. Die haben euch wohl kaum beklatscht.

Das haben sie wirklich nicht. Wir wurden in die Katakomben des Hallenstadions geführt und der Polizei übergeben. Die Polizei war äusserst professionell und korrekt. Auch sie hatten ein klares Drehbuch, dem sind sie ge- folgt. Nach einer Belehrung und einem Ray- onverbot übergaben sie uns unsere Kletter- sachen und haben uns weggewiesen. Wir sassen dann im Anzug mit Klettergurt in der Hand an der Tramstation und haben mit dem nächsten Tram den Ort des Geschehens ver- lassen. Ich habe jetzt Hausverbot bei der Grossbank. Ich darf in kein Gebäude und an keinem Anlass des Unternehmens teilneh- men. Aber pssst, nicht weitersagen: Als Akti- onär werde ich aber trotzdem jedes Jahr wieder eingeladen.

Verdienst du bei solchen Aktionen eigentlich etwas?

Was für eine Frage! Natürlich nicht.

Du steigst manchmal auch auf Kirchtürme.

An der Marienkirche in Bern stand «Wake up», an der Pauluskirche hing ein riesiges Transpa- rent für die Konzerverantwortungsinitiative.

Einmal hast du am Grossmünster in Zürich legal ein Transparent mit der Aufschrift «Gott ist eine Frau» aufgehängt. Hast du vor dem Aufstieg gebetet?

Nein, ich bin nicht religiös, mich interessiert weniger, ob Gott ein Mann oder eine Frau ist.

Mir ging es um die Geschlechterfrage in der Kirche.

Was löst das Klettern als körperliche Tätigkeit aus?

Es ist anstrengend, und es kostet stets Über- windung, mich der Höhe auszusetzen. Man gewöhnt sich aber recht schnell an das Expo- niertsein. Das erstaunt mich immer wieder.

Vor unserem Tischgespräch hast du mir auf deinem Smartphone ein Bild eines Dachses gezeigt, ein schönes Schlussbild für dieses Gespräch, wie ich finde. Wie ist dir dieser Schnappschuss gelungen?

Ich gehe am Abend lieber in den Wald als in Bars und Beizen. Vor einer Weile habe ich beim Biken einen Dachsbau entdeckt. Seither steig ich dort immer wieder mal auf einen Baum und warte und warte. Wenn ich Glück habe, sehe ich die Dachsfamilie. Wenn die Tiere aus ihrem Bau kommen und ich bei ihnen sein kann, unsichtbar und ganz nahe, ist das wunderbar. Ich finde, es lohnt sich, für unseren Planeten einzustehen.

(8)

Der im Sommer 1887 geborene Dorfpfarrer Don Agostino Sennhauser gründete

eine Arbeiter-Krankenkasse, eine Abend- schule und ein Blasmusik-Orchester,

richtete eine Bibliothek ein, hielt hunderte, wenn nicht tausende von Messen,

machte während der Spanischen Grippe Krankenbesuche – und vieles mehr:

Ivo Knill schreibt die Lebensgeschichte seines Grossonkels, eines eifrigen Erschaf- fers, der Freunde wie Feinde hatte,

dessen Grundmotiv für das Leben der Tod war und der stets an die Wichtigkeit

seines Tuns glaubte.

Von Ivo Knill, Fotos: zVg

(9)

Engagiert Euch!

I

Nasce ad Albino (Bg.) il 15 Agosto 1887 col nome Agostino Felice Giuseppe alle ore 22.

Mein Grossonkel Zio Don Agostino kam am 15. August 1887 in Albino, in der Provinz Bergamo mit dem Namen Agostino Felice Giuseppe Sennhauser zur Welt, und zwar um 22 Uhr.

Ich habe ihn als Kind noch gekannt, als er ein Mann von über achtzig Jahren war. Sein Haar war weiss, seine Hände zitterten. Ich weiss nicht, ob er uns Kinder, seine Grossnef- fen und –nichten, auseinanderhalten konnte. Wir waren fast dreissig Cousins und Cousinen, die als Kinder seiner Nichten allesamt in der Schweiz zur Welt kamen, als er noch in Grumello del Monte Priester war. 1958 trat Don Agostino in den Ruhestand und zog in die Schweiz, wie sein Bruder, mein Grossvater Nonno Tomaso. Ich erinnere mich, dass er in Bruggen im Haus meines Onkels, Zio Alphonso, wohnte.

Seine Schwester, Zia Annetta, machte ihm den Haushalt, wie sie es schon während seines Priesterlebens die ganze Zeit gemacht hatte. Die Wohnung war dunkel und mit Möbeln und Teppichen aus einer anderen Zeit vollgestellt. Don Agostino trug auch die schwarze Kleidung eines Priesters.

Meine Mutter stellte mich vor ihn, und er zeichnete mir mit Weihwasser das Kreuz auf die Stirne und flüsterte die Worte des Segens, in denen er ganz und gar versank. Ich erinnere mich an ihn, wie er an Sonntagen zu Besuch kam, immer zusammen mit seinem Bruder, Nonno Tomaso, und seiner Schwester, Zia Annetta. Nonno Tomaso steckte sich zum Essen die Serviette in den Kragen, um sein perfekt gebügel- tes Hemd zu schützen. Den Wein mischte er mit Wasser, das beobachtete ich als Kind ganz genau. Sie sprachen Italie- nisch miteinander. Ich verstand sie nicht, aber das war auch nicht nötig, um im Klang ihrer Stimmen und Geschichten geborgen mitzuschwimmen. Wenn sie da waren, war die Welt ganz, und sie stellten in grossen Säcken die Geschich- ten der Herkunft in unsere Stube, die nichts Italienisches an sich hatte. Die Begegnungen mit Don Agostino waren selten, aber sie machten einen tiefen Eindruck auf mich.

Don Agostino starb im Jahr 1975. Ich war elf Jahre alt.

Vorne rechts in der Kirche Bruggen war sein reich mit Blumen geschmückter Sarg aufgestellt. Ich glaube mich zu erinnern,

dass ich zwischen den vielen Leuten in der Kirche zum Sarg ging, an dem ein Fenster angebracht war, durch das man sein Gesicht sehen konnte, was mich faszinierte und be- schäftigte: Ein Fenster zum Tod. Wenn ich daran denke, wird mir klar, dass ich mir vorstellte, dass er hinter diesem Fenster weiterlebte, einfach im Tod, denn das wurde uns in der Kirche ja immer gesagt: Dass es ein Leben nach dem Tod gebe. Also vermutete ich, dass Agostino hinter seinem Fens- ter sein Leben als Toter führte. Ich weiss nicht, ob ich mich bis ganz nach vorne zum Sarg zu gehen traute. Aber ich war mir gewiss, dass Agostino mitsamt seinem Sarg, den Blumen und dem Kirchenmarmor, der alles umfasste, in das ewige Leben übergehen würde.

Vor dreieinhalb Jahren, im Herbst 2017, begegnete ich Don Agostino wieder. Er erschien mir beim Schreiben. Ich erinnerte mich an ihn, an den körperlichen Eindruck, den er mir gemacht hatte. Seine segnenden Hände waren alt, warm und von deutlich hervortretenden Adern gezeichnet. Sie hatten für mich etwas Vitales, sie waren, schrieb ich, zum Segnen ebenso geeignet wie zum Ohrfeigen austeilen. Sein Mund war feucht, die Worte kamen aus der Tiefe seines Kör- pers. Ich weiss nicht, ob es wirklich die Erinnerung an ihn war, die mich dies denken liess, oder ob es ein Ankommen in meinem eigenen Körper war, der mit den Jahren der Kör- per eines durch das Leben gewanderten Mannes geworden war, in dem sich das Alter abzuzeichnen begann. Jedenfalls:

Ich begegnete Don Agostino, ich sah das Bild vor mir, wie er in seinem Sarg in einem Fluss schwimmend durch eine Au- enlandschaft fuhr, um sich dann an einer Anlegestelle zu erheben, auf sein Fahrrad zu schwingen und in seine Pfarr- gemeinde zu fahren, oder unter den hohen Pappeln über die Wiese zum Wald zu eilen, in dem er verschwand. Dieses Ver- schwinden war mir eine Erlösung aus dem strengen Marmorhimmel, in den ich ihn seit seiner Beerdigung in der Kirche Bruggen versorgt hatte.

Vor einigen Wochen ist er mir erneut erschienen, leibhaf- tiger und lebendiger, als ich es mir je hätte vorstellen kön- nen. Ich war auf der Suche nach Dokumenten zu meiner Herkunftsgeschichte – denn daran leide ich, an einem Man- gel an Herkunft – darauf gestossen, dass im Kantonsarchiv

Denn

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St. Gallen Dokumente über ihn aufbewahrt sind. Ich liess mir Kopien kommen und fand darunter den handgeschrie- benen Lebenslauf von ihm, schwungvoll übertitelt mit «Memorie di Don Agostino Sennhauser, fu Tomaso». Ich druckte das Dokument aus und geriet für mehrere Wochen in einen regelrechten Rausch des Entzifferns und Verste- hens. Der Text war in Handschrift und auf Italienisch ge- schrieben, das mir kaum mehr als ein poetisches Rauschen aus der Kindheit geblieben ist.

Nun war es an mir, mich im Fluss der Worte im Manuskript zu verlieren, stecken zu bleiben bei unentzifferbaren Passagen, mich im Strudel des Verstehens um mich selbst zu drehen und mit wachsender Kenntnis des Textes mehr und mehr Einblick in das Leben meines Vorfahren zu gewinnen, der in bemerkenswert akkurater Schrift mit einer unglaublichen Präzision Bericht über sein Leben abgelegt hatte, und zwar in der dritten Person.

Geboren im Jahr 1887, durchlief er, nachdem er bei Non- nen in den «Asylo» gegeben worden war, die ersten Schul- jahre in der deutschsprachigen Schule in der kleinen italie- nischen Gemeinde Albino. Diese Schule war vom Patron der Textilfabrik eingerichtet worden, die sich als Zweig der Schweizer Firma Honegger im Tal niedergelassen hatte, das in der Folge einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung verzeichnete. Agostinos Vater, mein Urgrossvater, war aus der Schweiz nach Italien

ausgewandert und war in der Firma als «Assistente»

beschäftigt, was eine leitende Stelle umschrieben haben muss. In der vierten Klasse vernahm Agostino den Ruf zum Priestertum und wech- selte in die italienische Schule

des Ortes, um Italienisch und Latein zu vertiefen. Er erhielt Unterricht vom Pfarrer, schaffte die Prüfung ins Lyceo und besuchte anschliessend das Priesterseminar. Seine Schul- und Studienzeit war gekennzeichnet durch lange Krankheitsunterbrüche. Lungenentzündungen – insgesamt sechs an der Zahl – zwangen ihn für Wochen und Monate ins Krankenbett. Er lernte zuhause, und es gelang ihm, die Prüfungen erfolgreich abzulegen. 1910, mit 23 Jahren, wurde er zum Priester geweiht. Nach einigen Jahren in wechseln-

den Gemeinden kam er mit zweiundreissig Jahren in jener Kirchgemeinde an, in der er dann über vierzig Jahre wirkte.

Er führte das Leben eines italienischen Priesters. Und er führte, wie ich nach und nach zu verstehen beginne, das Leben eines Begeisterten.

Die «memorie» meines Grossonkels sind in einer schö- nen, regelmässigen und sehr runden Schrift verfasst. Der Stil ist ein Staccato der Fakten. Es gibt kein Ereignis, das nicht exakt datiert, einem Ort zugewiesen und mit nament-

lich erwähnten Akteuren ausgestattet ist. Zu jeder Lungen- entzündung wird die Zeit des Auftretens, der Arzt und bei der letzten auch die heilsame Medizin angegeben. Die Schweizer Schule in Albino befindet sich zwischen der Kapelle der Maria del Pianta und der Stickereifabrik. Schwel- gerisch oder frömmlerisch sind die Eintragungen nie, ihr Pathos ist das der präzise diktierten Fakten und der knap- pen, kurzen Sätze:

Nel 1918 scappia la spagnola: Giorno e notte in mezzo agli ammalati, di giorno confessarli e di notte portarli al Cimit- ero. Per di più ha in casa la sorella Maria e il fratello Tomaso pure colla spagnola. La mamma era morta nel marzo del 1917 e il papà pure nel giugno dello stesso anno. Povero pre- tino! Deve andare allo Spaccio comunale per il pranzo.

Ciònostante la salute è sempre state attissime. Il buon dio mi aiutava. Ad Albino nel negozio c’era solo la sorella Anna.

1918 brach die Spanische Grippe aus («la spagniola»), berichtet mein Grossonkel und bereichte, wie immer von sich in dritter Person sprechend, dass er Tag und Nacht unter den Kranken war. Tagsüber nahm er ih- nen die Beichte ab, nachts begleitete er die Verstorbenen zum Friedhof. Die Schwester Maria und der Bruder Tomaso sind zuhause, ebenfalls an der Spanischen Grippe erkrankt. Zudem vermerkt er, dass im Jahr zuvor die Mutter im März, und der Vater im dessel- ben Jahr gestorben waren. «Armer kleiner Priester!», seufzt er. Das Mittagessen muss er bei der Essensabgabe holen.

«Trotzdem war die Gesundheit immer bestens. Der gute Gott hat mir geholfen. In Albino im Geschäft war nur die Schwester Anna.»

In seiner Autobiografie ging er nicht auf die vielen Todesfälle in seiner Familie ein.

das Leben liegt

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Engagiert Euch! Der Bericht über die Spanische Grippe wirft Schlaglichter

auf die Lebenszeit meines Onkels. Drastisch beschreibt er, wie er die Epidemie als Priester durchläuft, lakonisch ver- zeichnet er den Tod der Eltern im Vorjahr. Er verweilt nicht bei ihrem Tod, sowenig, wie er in seiner Autobiografie auf die vielen verstorbenen Geschwister eingeht: Dem von ihm angelegten Stammbaum ist zu entnehmen, dass er als 8.

von 12 Kindern geboren wird. Von den sieben vor ihm gebo- renen Geschwistern lebt als Einzige noch die zwölf Jahre ältere Maria. Auf ihn folgen vier weitere Geschwister, von denen Anna (die ihm später den Haushalt führen wird) und Thomas (mein Grossvater Nonno Tomaso) das Kindesalter überleben werden. Vier von zwölf Kindern, die meine Urgrossmutter zur Welt brachte, überlebten.

Und woran lässt sich die Begeisterung meines Grosson- kels ablesen? Ganz sicher in der Akribie seiner Aufzeich- nungen: Immerhin ist er in seinen Achtzigern, als er seine Aufzeichnungen verfasst. Dass er so detailliert über die Be- gebenheiten seines Lebens Bescheid geben kann, heisst doch, dass er das, was in seinem Leben passierte, für wichtig und bemerkenswert hielt. Er legte eine alphabetische Liste von allen 38 mit ihm eingeseg- neten Abgängern des Priester- seminars an, die Sterbedaten führte er nach, bis nur noch er übrigblieb. Mag sein, dass der Tod hier wieder als Grundmo- tiv seines Lebens durchschim- mert, aber zu sehen ist doch auch, dass er sich für seine ehe- maligen Mitstudenten interessierte und mit ihnen soweit verbunden blieb, dass er ihren Tod erfuhr. Genauso akri- bisch führt er auf, was er an seinen wechselnden Pfarrstel- len für Arbeiten zu übernehmen hatte. Da mussten Messen gelesen, Beichten abgenommen, Beerdigungen gemacht werden. Vor allem aber setzte er sich mit Elan für die jungen Gemeindemitglieder ein. Als er in Grumello del Monte, sei- ner späteren Lebensstelle, ankam, bemerkte er, dass das

«Oratorio», also das Kirchgemeindehaus für die Jungen, «in disordine» war. Er trat die Stelle nur an unter der Bedin- gung, dass die Gebäude wieder instandgesetzt würden und legte schliesslich selbst Hand an, bis es eine Bühne, einen Saal für die Theatergruppe und eine Bibliothek gab, die er selbst anlegte und mit Büchern ausstattete. Die Renovatio- nen wurden über eine «colossale fiera die Beneficienza» be- zahlt. Das «Oratorio» wurde, wie er vermerkt, im Durch- schnitt von 350 Besuchern frequentiert. Er gründete eine Sparkasse (die drei Prozent Zinsen gewährte) und brachte es zuwege, dass ein Jahr nach seinem Stellenantritt ein Ka- russell mit sechzehn Pferden seine Runden drehte. Don Agostino wollte bewegen, bewirken, in Gang bringen und anstossen – und er tat es auch. Noch im Jahr seiner Ankunft in Grumello gründete er eine «Banda musicale», also eine Musikgruppe, und zwar, wie ich erst langsam zu verstehen begann, eine Blasmusik. Die Instrumente beschaffte und re- parierte er in Bergamo, und schon am 28. Dezember 1919 hatte er seine «Banda» so weit, dass man ein Konzert zur Feier der Heiligen Maria Ausiliatrice geben konnte.

Der Auftakt zu seinem Wirken in der Pfarrgemeinde war fulminant. Die Liste seiner Arbeiten bleibt lange: «Scuole di Catechismo alle 11.30 e alle 15.30 in tutti classi communi del paese. Catechismo quotidiano dopo la Messa delle ore 8 nell Istituto Pallazzolo in Grumello. Scuole autumnale per tutti

le classi maschili et femminile in Agosto e Settembre.» Er liest die Messe in der Kirche des Ortes, besucht und betreut die Ordensschwestern, die im Ort ein Spital betreiben, er betreut, hilft und sorgt, aber nicht nur fürs Seelenheil: Er leitet einen Chor für Gregorianische Musik, engagiert sich für die Theatergruppe, er probt mit seiner Blasmusik, er er- öffnet eine «scuola di disegno festivo per giovani di Grumel- lo». Er eröffnet und unterrichtet eine fünfte Klasse der Ele- mentarschule, die von Kindern aus der ganzen Umgebung besucht wird und die sie für die Prüfungen zu weiterführen- den Schulen vorbereitet. So lese ich es aus seinen Aufzeich- nungen heraus, die sich wieder und wieder in Auflistungen und Aufzählungen verzweigen, von denen ich nicht weiss, ob sie Heilige oder Heilige Messen bezeichnen, aber ich muss nicht alles verstehen, um zu sehen, dass da ein Mensch im unablässigen Wirken und Schaffen aufgeht.

Vierzig Jahre wird er in seiner Gemeinde bleiben. Und vierzig Jahre wird er seine Banda Musicala leiten.

II

Vor mir liegt die Chronik von Grumello del Monte über die Jahre 1882 bis 1982. Seit ich weiss, dass der auf dem Titelbild abgebildete Priester der Probst war, der versucht hatte, meinen Grossonkel «in omni via» aus der Gemeinde zu verdrängen, verstehe ich meinen Widerwillen, den ich ihm gegenüber empfand. Antipathie überspringt Genera- tionen. Aber ich habe in Agostinos «Memorie» eben auch gelesen, dass mein Grossonkel diesen Versuchen wider- stand, genauso wie er auch kluge Distanz gegenüber den Fascisti wahrte, deren Aufkommen er mit dem Hinweis ver- merkt, dass der Bürgermeister des Ortes gehen musste.

Während der Probst, wie die Chronik umständlich festzu- halten nicht umhinkommt, es als vaterländische Pflicht empfand, sich mit der nun mal bestehenden Regierung zu arrangieren. Agostino nicht: Einmal ging er hin und machte die auf dem Fussballfeld spielenden Faschisten darauf auf- merksam, dass Sonntag und damit Zeit für den Kirchgang war. Dies führte zum zweiten Versuch, ihn von seinem Ort wegzuweisen. Der Bischof ging nicht auf die Vorstösse der Faschisten ein, die sich, brav der Ordnung folgend, an ihn wandten. Don Agostino blieb und hält fest, dass der Probst seine Gesellschaft, ob er wollte oder nicht, mehr als dreissig Jahre aushalten musste. Die Dorfchronik zu Ehren des Probstes, den ich auf den ersten Blick nicht mochte, zeigt auf Seite 93 Don Agostino Sennhauser mit einer Gruppe Ministranten auf einer Wiese vor dem Dorf, das im Hinter- grund mit Kirche und dem Rustico der Villa Camozzi-Verto- va zu sehen ist. Agostino ist ergraut, sein Blick ist bestimmt, zuversichtlich und voller Lebenskraft. Die Ministranten, Schulkinder, wären gewöhnliche Flegel, hätten sie nicht ein Lächeln und einen verwegenen Glanz des Heiligen im Ge- sicht. Auf Seite 109 ist wiederum mein Grossonkel abgebil- det, der Bürgermeister Zaccharia Patelli nestelt am Kragen seiner Robe – er aber lächelt verschmitzt aus dem Bild. Freu- de, Triumph und etwas Buffomeskes mischen sich im Blick:

Schaut her, was unser kleiner Priester geschafft hat. Im Hin- tergrund ist ein applaudierender Mann zu sehen. Auf Seite 94 ist die ganze Szene zu sehen, mehr Publikum ist im Raum, wir sind in Albino, es ist der 27 August 1969, und mein Grossonkel ist, 82-jährig, aus der Schweiz angereist, wo er seit zehn Jahren den Ruhestand verbringt. Bürgermeister Zaccharia Patelli befestigt am Revers seiner Robe die «Medaglio d’oro» und anerkennt damit die Verdienste von

dessen vierzig Jahre währendem Wirken in Grumello del Monte. In der Rede streicht er die vielen wohltätigen Aktivi-

das Leben liegt

(12)

täten von hohem gemeinschaftlichem Wert heraus: Die Gründung der Krankenkasse (Mutua Medica) für die Arbeiter und Landleute im Jahre 1919, die Gründung der «Cassa di Risparmio», die Einrichtung der Bibliothek, die Gründung der Abendschule und vieles mehr. Am Vorabend der Medail- lenübergabe fand ein Gottesdienst statt, begleitet von der Banda Musicala, die Don Agostini fünfzig Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte.

Das Wirken meines Grossonkels, da besteht kein Zweifel, wirkte noch ein Jahrzehnt nach seiner Emeritierung fort.

Und noch mehr erfahre ich in der Chronik: Monsignore Giovanni Battaglia erinnert sich in einem Schreiben an mei- nen Grossonkel mit den Worten: «… ich muss sagen, dass er ein aussergewöhnlicher Arbeiter war: Er war immer eifrig im harten Amt des Beichtstuhls; er war bereit für jeden Ruf der Kranken, um ihnen während der gesamten Krankheits- dauer mit häufigen Besuchen zu helfen und den Trost der Sakramente zu spenden. Ihm entging keiner! Grosszügig war er in der Kreditvergabe für die Bedürfnisse von Familien, er half bei der Unterbringung heikler Fälle, er unterstützte bei der Arbeitssuche; er war brillant in der Führung des Oratoriums, immer pünktlich im Gottesdienst, auch als Kaplan am Palazzolo-Institut; sehr gut – obwohl er nicht mehr so gut hörte – als Direktor des Schola Cantorum und der Band, die er auf ein sehr hohes Niveau bringen konnte:

kurz gesagt, er war ein wirklich eifriger Priester und von einer aussergewöhnlichen Tätigkeit und immer voller Har- monie mit mir.»

Auf der Fotografie anlässlich der Ordensverleihung ent- decke ich Nonno Tomaso – Agostinos Bruder und mein Grossvater. Agostino spricht mit ernster Miene, und ich den- ke, es gelingt ihm, den Anlass als einen grossen Anlass zu würdigen. Seine Haltung erinnert mich an meinen Bruder Paolo, und da wir viele Ähnlichkeiten haben, dürfte auch ich

in ihr zu erkennen sein. Geneigter Kopf, ein Innehalten im Suchen nach dem richtigen Wort, das sich als Geste bereits andeutet, sich über Hände und den richtigen Ausdruck des Gesichtes seinen Weg bahnt, den es aus unterirdischer Tiefe gehen muss, um ans Licht zu kommen. Ich verstehe, jetzt, da ich dies schreibe, die Tränen meiner Mutter, als sie mich bei einer Rede sah, die mir gelang: Ganz sicher wurde in ihr etwas Vertrautes wach, ein Gruss von Don Agostino erreichte sie.

Die Überreichung des Ordens waren Triumph, Befriedi- gung und tiefe Genugtuung für meinen Grossonkel. Die Be- geisterung, die ihn ein Leben lang angetrieben hatte, war aufgeblüht, hatte in langen Jahren der Arbeit Früchte getra- gen, die anerkannt wurden. Was kann ein Mensch mehr erreichen? Er hatte mit zwölf Jahren den Wunsch, das Leben eines Priesters zu führen. Er hatte lange Monate lebens- bedrohender Krankheiten überstanden, sein Studium gemacht, Lehrjahre absolviert und den Ort seines Wirkens gefunden und gegen Anfeindungen aus eigenen und fremden Reihen verteidigt. Er war nicht hart geworden im Leben, sondern leichter, und immer, immer hatte es ihn in die Kirche gezo- gen. In seinem Ruhestand in St Gallen hatte er nicht aufge- hört, die Messe zu lesen und Beichten abzunehmen. In den sechziger Jahren, als er gegen Achtzig ging, hörte er nach und nach auf, nachdem er, er muss Buch geführt haben, zweihundertsoundsoviele Messen da und da, dreihundert und etwas Messen dort, und so viele Sonntage im Dienst der Sakristei verbracht hatte. Ihm blieben – und so lernte ich ihn kennen – die Messen für die Familie in seiner Wohnung in Bruggen. Im Lebensbericht vermerkt er 1972, mit nun etwas zittriger Schrift, dass er froh ist, nicht mehr 83 Trep- penstufen in seine Wohnung hinaufgehen zu müssen. Die Kraft reicht noch für den täglichen Besuch der Kirche in Bruggen, wo er verweilt und innehält.

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Engagiert Euch! Bei seinem Tod im Jahre 1975 mit 88 Jahren bin ich dabei

– und zwei Autobusse aus der Gemeinde Grumello mit An- gehörigen der Gemeinde kommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In Grumello aber findet ein voll besetzter Got- tesdienst zu seinen Ehren statt. Ein Trompeter der Banda Musicala, die er als dreissigjähriger junger Priester gegrün- det hatte, tritt vor; ich denke, ein Strahl der Sonne fällt auf ihn, als er, nachdem er das letzte Rauschen eines Kleides und das allerletzte Sich-im-Bank-Zurechtrücken abgewartet hat, mit grosser Geste die Trompete ansetzt und «Il silen- cio» anstimmt.

III

Selbstverständlich ist auch dieses Lied nur einen Mausklick und eine Google-Suche weit entfernt. Es ist ein grossartiges Trompetenstück von Nini Rosso, mit dem er in den Sechzigerjahren die Hitparaden Deutschlands und Italiens eroberte. Ich höre es und höre den Sound meiner Kindheit, finde in der Playlist «La Montanara», das sie bei unseren Familienfesten, die riesig waren aufgrund der Zahl von Zios, Zias und Cousins, anstimmten, um für zwei Stun- den nicht mehr zu verstummen. Lied um Lied sangen sie, die sonst gestrengen Eltern, Ernst war ihr Blick beim Singen, aber der Optimismus, mit dem sie in ihr Leben eingestiegen waren, klang über dem mehrstimmigen Gesang durch. Es ist die Begeisterung für das Leben. Sie hatte sie nicht vor Schicksalsschlägen bewahrt, hatte nicht gegen den Tod und das Sterben geholfen, aber sie hatte sie Kraft für das Leben finden lassen.

Tagelang höre ich Nini Rosso, ich begeistere mich an der Musik, ich gehe auf in der Erinnerung an eine Zeit, die ich nun als gross ansehen kann. Bei einem Kurs über Fake News, der online stattfindet, stehle ich mich davon und gebe, nur so zum Spass, Don Agostino Sennhauser und Grumello ein und finde unter www.bandagrumello.com die Homepage des Corpe Musicala die Don Sennhauser. Flötistinnen, Tuba-, Trompeten- und Saxophonspieler blicken mir aus Fotografien entgegen, sehr gegenwärtig, denn die Banda Musicala besteht noch immer und hat sich zur Musikschule mit breitem Angebot gemausert. Ihre Aktivi täten teilt sie auf dem Facebookprofil «Corpo Musicale Don Sennhauser».

in der Be-

geisterung

Jetzt bin ich vollends ergriffen: Der Mann, der mir als Greis das Kreuz zur heiligen Kommunion auf die Stirn zeichnete, führt ein Nachleben auf Facebook. Das Fenster in seinem Sarg hält, was es mir versprach. Das Leben geht weiter.

Trompeter, stemme die Rechte in deine Seite, die Linke aber führe das Instrument mit Schwung zum Munde. Spiel, denn das Leben ist Begeisterung!

Nini Rosso – Il Silencio Juni 1965

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Engagiert Euch!

Hin und zurück:

Für ihren Film «Volunteer» hat Anna Maria

Thommen Freiwillige vor und nach ihrem Besuch in Griechenland interviewt. Ein Gespräch

über ihr künstlerisches Engagement, das immer auch ein gesellschaftspolitisches ist.

Interview: Anna Pieger, Foto: Kim Maurer

ERNST: Du bist bei einem breiteren Publikum mit dem Film «Neuland» bekannt geworden. Für diesen im Jahre 2013 erschienen Film hast du zwei Jahre lang eine Integrationsklasse begleitet. Was hat dich an dieser Filmidee gereizt?

Anna Maria Thommen: Ich gehe nie bewusst auf Ideensu- che, bin niemand, der die Zeitung aufschlägt und sucht:

«Wo ist eine Geschichte, die ich erzählen kann?» Viel eher begegne ich Menschen, die mich inspirieren. Bei Neuland habe ich den Lehrer kennengelernt, Herrn Zingg, der die Schulklasse leitet. Ich habe ihn und seine Schülerinnen und Schüler megaspannend gefunden. Der ausschlagge- bende Punkt, so eine Integrationsklasse zu begleiten, war, dass ich fand, dass sich in einem Schulzimmer die ganze Welt spiegelt. Es ist eine Geschichte über Migration, sie zeigt, woher und wieso Menschen zu uns in die Schweiz kommen, aber auch, wie die Schweiz mit diesen Leuten umgeht. Und das alles findet in einem Raum statt, im Klassenzimmer. Das finde ich immer spannend, wenn du im Kleinen etwas Grosses erzählen kannst.

Wie viel Zeit hast du in diesen zwei Jahren mit der Klasse verbracht?

Wir hatten ja zwei Jahre Zeit, weil diese Schule so lange dauert. Es war von Anfang an klar, dass wir vom ersten bis zum letzten Schultag filmen. Ich wusste durch Vorre- cherchen, was ungefähr zu welchem Zeitpunkt im Schul- jahr drankommt. Ich habe beschlossen, immer dann zu filmen, wenn unsere Gesellschaft, also die Schweiz, etwas zu feiern hat, wenn es ein Ritual gibt, das uns prägt, wie Herbstmesse, Fasnacht und Weihnachten. Der Film zeigt, wie die Schülerinnen und Schüler als «Aussenseiter», die neu in das Land kommen, die Schweiz kennenlernen.

Hast du dich – über das Filmen hinaus – für die Schüle- rinnen und Schüler eingesetzt?

Ich habe mich mega involviert. Das wäre auch gar nicht anders gegangen, denn wir wollten Teil dieser Klasse wer- den, wir wären sonst gar nicht so nah an die Schülerinnen und Schüler herangekommen. Um das Vertrauen zu ge- winnen, damit sie sich öffnen und wir filmen konnten, war es wichtig, sich auch persönlich einzubringen. Jede Regie macht das anders, aber ich bin präsent als Person, als Anna, nicht nur als Regisseurin. Das beinhaltet auch, dass ich meine Kontakte genutzt habe. Ehsanullah hat nach Abschluss des Films noch eine Kochlehre gesucht, und bei jedem Q&A im Kino haben wir gesagt: «Apropos, der Ehsanullah sucht noch eine Kochlehre». So ist er dann tat- sächlich durch ein Publikumsgespräch zu seiner Kochlehre im Hotel Krafft gekommen. Ich könnte nie nur beobachten und nichts tun. Alleine indem man dort ist, nimmt man Einfluss. Das muss man auch gar nicht verstecken.

Inwiefern nimmst du als Regisseurin von Dokumen - tar filmen durch den Akt des Filmens Einfluss auf die Umgebung und die Personen, die du filmst?

Natürlich verändert eine Filmcrew, die Technik, und ich als Gegenüber die Umgebung und Person. Die Protago- nisten «flirten» mit der Kamera, glänzen vielleicht mehr, alles bekommt eine grössere Wichtigkeit und Intensität.

Ich denke, es ist ein Trugschluss zu glauben, man beob- achte eine objektive Wirklichkeit. Vielmehr zeige ich mei- ne subjektive Wahrnehmung auf die Situation. Ich zeige die Bilder, die mich an der Szene und den Menschen inte- ressiert, ich mache dort Schnitte, wo ich es als richtig empfinde, eventuell füge ich Musik dazu und kreiere ein filmisches Universum.

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Wie kamst du vom Thema «Integration» zum Thema «Flüchtlingskrise», um die es in deinem Film

«Volunteer» geht?

Auch dieses Thema hat mich «angesprungen». Mit Flücht- lingen verstopfte Strassen auf den griechischen Inseln, Gummiboote am Horizont und dem toten Jungen am Srtand: Wie viele, habe auch ich mich im Jahr 2015, als man in den Nachrichten diese Bilder gesehen hat, gefragt:

«Wie könnte ich mich persönlich engagieren?» Trotz der Ohnmacht und Überforderung, die man dann auch ver- spürt, habe ich gedacht: «Was kann ich tun?» Man hat damals auch gesehen, wie die Staaten versagen. Staaten wie die Schweiz, in der ich lebe. Das Ohnmachtsgefühl hat mich sehr beschäftigt, ich hatte ein kleines Kind, war zum zweiten Mal schwanger und dadurch in meinen Möglichkeiten, zu helfen, eingeschränkt. Dann rief mich Lorenz Nufer an, der Schauspieler und Theaterregisseur, der mit mir Co-Regie gemacht hat. Er wollte ein Theater- stück machen über das humanitäre Engagement seines Cousins Michael Räber und bat mich um Unterstützung.

Lorenz hatte das Engagement seines Cousins so erstaunt, der Hauptmann in der Schweizer Armee ist und IT-Spe- zialist und vorher mit Hilfswerken gar nichts am Hut hatte.

Plötzlich stampfte er ein eigenes Hilfswerk aus dem Bo- den und involvierte seine ganze Familie in das Projekt.

Lorenz ging dann mit Michael nach Griechenland und knüpfte dort Kontakte zu Freiwilligen in Hilfsorganisati- onen, mit der Idee im Hinterkopf, diese für das Theater- stück zu interviewen. Diese Volunteers haben wir nach ihrer Rückkehr in der Schweiz zum Kaffeetrinken getrof- fen, und alle haben mich mega überrascht. Ich hätte von vielen vom Typ her nicht erwartet, dass sie sich engagie- ren und war auch beeindruckt, was die Einsätze vor Ort mit dem Mensch machten. Es war so eine Intensität in diesen Erzählungen, und ich hatte den Eindruck, dass die Freiwilligen wie geläutert zurückkamen. Als hätten sie eine Wahrheitspille geschluckt.

Mir war es wichtig, diesen Zeitzeugen zuzuhören, und ich fand es schade, nur ein Theaterstück zu machen. Und so ist die Idee für den Film entstanden. Es war eine Aus- einandersetzung mit dem Thema Flucht, um mir eine Meinung bilden zu können. Das hat mir auch sehr gehol- fen, mich politisch zu positionieren.

Wegen deiner Schwangerschaft und deiner noch sehr kleinen Kinder konntest du ja nicht selbst vor Ort sein…

Wir haben die Freiwilligen zweimal interviewt, einmal im Sommer 2016, kurz nach ihrer Rückkehr von ihren Ein- sätzen in Griechenland, da war alles noch ganz frisch, und dann ein Jahr später, um zu erfahren, wie es ihnen hier in der Schweiz nach der Rückkehr ergangen ist und wie die Erlebnisse sie verändert haben. Ausserdem haben wir Archivmaterial, das die Volunteers auf ihren Einsätzen selbst gedreht haben, verwendet. Auch haben wir begon-

nen, das Engagement zu filmen, das die Protagonisten danach in der Schweiz aus ihren Erfahrungen heraus ent- wickelt haben.

Du könntest ja auch Kleider- oder Nahrungsmittel- spenden organisieren. Warum engagierst du dich gerade im Medium Film?

Du kannst mit einem Film Emotionen transportieren und etwas zugänglich machen, auch für Menschen, die noch nicht so sensibilisiert sind. Ich war gerade letzthin in einer Gymiklasse und habe über «Volunteer» geredet.

Ein Gymischüler hat sich gemeldet und mir gesagt, der Film habe sein Leben völlig verändert. Er sei nicht mehr der Gleiche, das Thema habe ihn total beschäftigt, und er sei jetzt dran, sich zu engagieren. Im Schlusswort des Filmes sagt ja Sarah, die Freundin des Protagonisten Hirschi, dass es einen eigentlich nicht verändere, sondern viel- leicht werde man einfach wieder derjenige, der man ist.

Drückst du mit deinen Filmen deine Werte aus?

Ja, es hat natürlich etwas Persönliches, in dem Sinn, dass ich selbst Neugier und Lust habe, mich mit der Welt aus- einanderzusetzen. Ich betrachte über das Filmen die Welt immer wieder aus neuen Blickwinkeln. Ich entdecke, wie die Welt ist, wie sie sein kann und wie wir uns darin bewegen sollten. Ich bin immer getrieben und will etwas herausfinden, aber es geht auch darum, dasjenige, das ich erfahren habe, anderen zu kommunizieren.

«Volunteer» lief an mehreren Festivals und hat Filmpreise gewonnen. Wie wichtig ist dir diese Anerkennung deiner künstlerischen Arbeit?

Sie ist mir wichtig. Es ist mein Beruf und es hängt vieles von dieser Anerkennung ab; sie entscheidet mit, ob ich Erfolg habe oder nicht. Denn du musst ja immer schauen, dass der Film dann auch finanziert ist. Du musst Einga- ben machen an Wettbewerben, an denen es viele andere Eingaben gibt, und es steht und fällt auch damit, welche Erfolge du mit deinem Vorgängerfilm vorweisen kannst.

Insofern ist diese Art von Erfolg wichtig, damit du über- haupt Projekte umsetzen kannst. Es tut mir natürlich auch gut und gibt mir Befriedigung, wenn es funktioniert.

Aber ich mache Filme nicht nur für mich, Filme sind Kommunikationsmittel. Ich denke beim Machen immer ans Publikum, damit das, was ich kommunizieren will, auch ankommt. Wenn diese Kommunikation funktio- niert und ich mich verstanden fühle, ist das schön.

Die Flüchtlingskrise ist auch einige Jahre nach dem Erscheinen des Films nicht gelöst. Engagierst du dich heute noch für Flüchtende?

Ich versuche Freunde zu unterstützen, die sehr engagiert sind. Ich helfe, Spendengelder oder Unterschriften zu sammeln. Um mich voll zu engagieren, habe ich selbst

Volunteers

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Engagiert Euch!

«Alles, was mich

interessiert, ist im Film- schaffen enthalten.»

Filmemacherin Anna Maria Thommen, 40 Jahre alt, geboren in Maisprach in Baselland, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kin- dern in Riehen bei Basel. Für Thommen vereint das Filmschaffen alle krea- tiven Prozesse, die sie faszinieren:

von Schreiben übers Fotografieren, Bilder Generieren bis hin zum musi- kalischen Rhythmisieren und der psychologischen Dimension einer Geschichte. Deshalb studierte sie nach ihrer Ausbildung zur Primarleh- rerin und dem Vorkurs erst an der HGK in Luzern Video und absolvierte dann den Master in Dokumentar- filmregie an der ZHdK. In ihren preis- gekrönten Dokumentarfilmen be- handelt sie gesellschaftspolitische Themen emotional packend und visuell überzeugend. Ihr Kinofilm

«Volunteer» (2019), den sie zusam- men mit Lorenz Nufer als Co-Regis- seur über den Einsatz Schweizer Freiwilliger während der Flüchtlings- krise in Griechenland gedreht hat, ist über Streamingdienste zugäng- lich (www.volunteer-film.ch).

nicht Zeit. Ich engagiere mich für die Vermittlung des Films, besuche Gesprächsrunden und spreche an Schu- len über den Film. Da habe ich das Gefühl, dass meine Arbeit auf nahrhaften Boden fällt. Gegenüber Fremden bin ich offen und begegne ihnen mit einem Lächeln, sicher auch, weil ich darauf sensibilisiert bin. Ich schlies se Freundschaften und versuche Geflüchtete auf einer menschlichen Ebene zu integrieren. Ein humanitäres Engagement im engeren Sinn betreibe ich nicht.

Was braucht es, um ein engagiertes Leben zu führen?

Darum geht es ja auch im Film, es kann auch Engagement im ganz kleinen Rahmen sein. Ileana aus dem Film ist sehr engagiert, indem sie regelmässig eine Flüchtlingsfa- milie besucht, die hier in der Schweiz gelandet ist, etwas vorbeibringt und sich um die Menschen kümmert, die jetzt hier sind. Kleider sammeln und schicken kann man auch, das habe ich auch schon gemacht. Das Wichtigste ist: wachsam sein. Ich bin sensibilisiert durch den Film, andere weil sie in Kontakt sind mit Flüchtenden, die jetzt hier leben oder weil ihre Kinder sich engagieren, wieder andere, weil sie viel darüber lesen. Man kann sich auf ver- schiedene Arten für das Thema sensibilisieren. Ich glaube, am Schlimmsten ist, wenn man das Thema Flucht ver- drängt oder ignoriert, vielleicht auch aus Angst, dass man sonst etwas an seinem eigenen Leben verändern müsste.

Wie schafft man es, nicht in Ignoranz, Angst oder Überforderung zu erstarren angesichts der herrschenden Missstände an den Grenzen Europas?

Es ist schwierig! So viele Volunteers sind irrsinnig enga- giert, geben alles – und es passiert trotzdem nichts. An einem Filmgespräch habe ich mich mit der Nationalrätin Mattea Meyer von der SP unterhalten, und sie verzweifelt fast, denn es liegt wirklich an einzelnen Personen, die einfach auf stur schalten, dass nichts passiert. Man kann sich tatsächlich fragen, was man denn tun muss, damit etwas passiert. Es gab schon so viele Petitionen. Oder ganz konkret: Das Lager in Moria, das gebrannt hat, wur- de durch ein neues ersetzt, das noch viel schlimmer ist.

Als das Lager brannte und Kinder auf der Strasse lagen und fast verhungerten, meinten alle: «Jetzt muss man handeln.» Es gab Petitionen an Bundesrätin Karin Keller- Sutter. Die Schweiz hätte die 14 000 betroffenen Flüch- tenden aufnehmen können, es gab leerstehende Asylhei- me. Aber wir leben in den Zeiten von Abschreckungspo- litik, man hat Angst, ein Willkommenszeichen zu setzen.

Dass einfach nichts passiert ist, hat mich erschreckt. Man darf nicht das Gefühl haben, man lebe in einem Sozial- staat, in dem die Menschenrechte selbstverständlich der höchste Wert sind. Für die Menschenrechte muss man immer kämpfen! Persönlich engagierte Menschen sind toll, aber es müssen auch politische Entscheide gefällt und Rechtsabwägungen gemacht werden, darum ist es zentral, richtig abzustimmen und Petitionen mit Unter- schriften und Geld zu unterstützen. Es gibt so viele Men- schen, die sich engagieren, da muss man nur mitziehen.

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Immer wieder hält sie’s in Zürich nicht aus, immer wieder packt Maria die Koffer und geht als Freiwillige in griechische Flüchtlingslager arbeiten.

Die engagierte Mutter fragt sich: Was ist das richtige Mass an Mitgefühl?

Von Adrian Soller

Da gab es diese eine Dia-Show. So könnte man diese Ge- schichte beginnen. Maria war vielleicht zehn Jahre alt, sass auf einem Kissen am Boden und schaute zu. Wer es war, der diese Bilder aus einem afrikanischen Waisenhaus zeigte und wo das war, weiss Maria heute nicht mehr, sie weiss nur noch, und darum könnte man ja eben gut und recht den Anfang der Geschichte dort behaupten, dass dieser Vortrag etwas in ihr auslöste. Naja. Gewiss könnte man die Ge- schichte auch mit ihrem ersten Feldeinsatz beginnen oder erzählen, was um die Geburt von Lukas alles so passierte, um sie herum und in ihr drin. Doch wahrscheinlich müssen wir uns damit begnügen, dass diese Geschichte keinen Anfang hat, dass Geschichten überhaupt nur einen An- spruch auf ihr Ende haben.

Bei Maria war der Wunsch, zu helfen, immer schon da.

Musste ein Kind im Kindergarten weinen, weinte sie mit, und das so bitterlich und so lange und so oft, dass man be- fand, dass das irgendwie nicht ganz normal sei, dass man die kleine Maria, wie man ihren Eltern damals mitteilte, «abklä- ren lassen sollte». Gründe für diese Sensibilität, der die Ex- pertinnen, Psychiater und Ärzte im Laufe der Zeit verschie- dene Namen geben sollten, könnte man, wollte man, bei ihrem Vater suchen gehen. Wagte man aber diesen Gang, müsste man auch bei ihrem Vater auf die Suche nach Grün- den gehen, und so weiter und so fort, und man wäre bis in alle Ewigkeit gut damit beschäftigt, Gründe zu suchen. Mit neunzehn Jahren jedenfalls packte Maria die Koffer, sie hatte gerade das KV abgeschlossen, und ging als Praktikantin auf ihren ersten Feldeinsatz, um dort an einer Schule in einem Slum am Stadtrand von Lima zu arbeiten. Maria konnte nicht Spanisch, wusste nichts über Peru oder Lima, aber das alles war nicht so wichtig. Maria musste einfach weg.

Das alte Paar, das die Schule aufgebaut hatte, vertraute ihr.

Dieses Vertrauen war, wie Maria heute sagt, einfach schön, so schön, wie dann auch ihr Gefühl war, endlich etwas gegen

«das Elend in der Welt» unternehmen zu können. Nach dem Jahr, sie konnte jetzt ganz gut Spanisch sprechen und hatte auch sonst viel dazu gelernt, ging Maria nur widerwillig in die Schweiz zurück. «Bei meiner Rückkehr aber waren die Dämme gebrochen», wie sie heute sagt. Maria arbeitete dann zwar noch im Büro, «irgendwas mit Projekten, China und Motoren», ging aber von ab da an regelmässig zu Aus- landeinsätzen.

Später arbeitete sie im Fundraising für eine NGO. Und auch als das mit René angefangen hatte, hörte sie nicht auf damit, Kambodscha und Kolumbien, immer wieder ging Maria, und er liess sie ziehen oder kam mit. Dann wurde sie schwanger. Und auch wenn Maria sich manchmal selber nicht mehr helfen konnte, die Hochzeitsreise in Costa Rica, schon wieder schwanger, mit Zwillingen, es ging alles so schnell, wollte sie anderen helfen. Sie kümmerte sich um Lukas, René, die Familie also – und um den Planeten mit sei- nen Menschen darauf.

Die Zwillinge kamen auf die Welt. René plante und ver- kaufte Solaranlagen, ging jeweils früh aus dem Haus, und Maria musste irgendwie den Tag mit den drei kleinen Kindern durchstehen. Nicht selten wünschte sie sich am Morgen schon den Abend herbei. Muss ich jetzt die Windeln wech- seln? Soll ich wirklich die Wohnung verlassen? Darf er so viel Sand essen? Hat er Hunger? Oder warum, warum schreit der denn nun so?! Manchmal stand Maria im Coop und wusste nicht mehr, wo sie war. Es war eine schwierige

«Jedes Jahr fahre ich zwei Wochen

nach Griechenland»

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Engagiert Euch!

Immer wieder hält sie’s in Zürich nicht aus, immer wieder packt Maria die Koffer und geht als Freiwillige in griechische Flüchtlingslager arbeiten.

Die engagierte Mutter fragt sich: Was ist das richtige Mass an Mitgefühl?

Von Adrian Soller

Zeit. Für sie. Für René. Für die Beziehung. An das meiste davon kann sich Maria heute nicht mehr erinnern. Die ganze Zeit über engagierte sie sich, wie schon gesagt, weiter. Sie musste sich engagieren. Mit Freunden organisierte Maria Fundraising-Events. Sie schaffte, dass sich die halbe Stadt bewegte. Über 100 000 Franken haben sie und ihre Freunde in all den Jahren schon zusammengebracht. Wenn dann aber der Partyabend anbrach, alles bereitstand, alles geschafft war, alles von selber zu laufen begann, fühlte sie sich seltsam leer.

Vor sechs Jahren begann dann das mit Griechenland.

«Wir schaffen das!», sagte die Merkel und von «Willkom- menskultur» war die Rede. Maria sah dieses Bild einer syri- schen Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm in der Zeitung, während Maria selber eines ihrer Kinder in den Armen hielt.

Am selben Abend noch suchte Maria im Internet nach Organisationen, die Helferinnen suchten. Die Kinder, schon etwas älter, die Zwillinge grad drei geworden, konnte sie gut mal mit René alleine lassen, und Maria könnte also, über- legte sie, nach Griechenland, gehen, das ginge doch, und so ging sie, es war im Jahre 2016, das erste Mal in ein Flücht- lingslager.

Sie verteilte Essen und Kleider und schminkte Kinderge- sichter. Und man könnte nun, ja man müsste vielleicht sogar, all die Geschichten erzählen über die leeren Augen der Väter und Mütter oder über das Gerangel an der Essensausgabe.

Man könnte nun, ja man müsste vielleicht sogar, über den Jungen berichten, der seinen Kopf immer so lange gegen eine Hausmauer schlug, bis er bewusstlos war. Vielleicht brauchen wir ja genau diese Geschichten, doch sie schrei- ben sich nicht einfach so, und wir wissen ohnehin um sie, ohne sie kennen zu müssen. Maria kennt sie und kriegt sie nicht mehr aus ihrem Kopf. Oft träumt sie davon, oder sie träumt, dass ihr Arm zu kurz ist, dass sie darum immer wieder vergebens nach diesem Kind greift, das fällt. Sie träumt und träumt immer wieder, wie sie in diesem Taxi

sitzt, bei dem die Türen und Fenster verriegelt sind, und darum eben nur zuschauen kann bei dem, was da draussen alles passiert, und es passiert eben viel, wie sie da so sitzt, wie wir da so sitzen, diesen Text lesen oder ihn schreiben.

Ja, die Maria. Fast jedes Jahr fährt sie seither für eine, zwei Wochen nach Griechenland, um sich dort vor Ort zu enga- gieren. René und die Kinder fuhren auch schon mit. Wäh- rend den Zigarettenpausen, man kann sich’s gut vorstellen, sprach Maria mit Geflüchteten über Träumen und Hoffen.

In Thessaloniki wollte sie mit René im Privatauto einen der Syrer über die Grenze nach Italien schmuggeln, sah, nur ihrer Kinder wegen und in letzter Minute, davon ab. Maria sagt heute: «Ich bin die falsche Person für diese Arbeit – und ich bin die Richtige.» Die Falsche sei sie, weil sie sich

nicht abgrenzen könne, weil sie alles zu persönlich nähme, und die Richtige sei sie eben auch deswegen. So gäbe es nur wenige Helfende, die die Koffer packen und genug distan- ziert seien. Nicht wenige versuchten, die Welt und sich sel- ber zu flicken. Und man könne jetzt viel über den Egoismus der Helfenden, über die Hilfsbedürftigkeit der Helfer, oder den Helfertourismus sagen, und man hätte ja nicht unrecht damit, doch es würde nichts daran ändern: «Jemand muss einfach da hin. Jemand muss etwas tun.»

«Jedes Jahr fahre ich zwei Wochen

nach Griechenland»

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Sein Hof sollte zum Zielgelände des Waffen platzes Rothenthurm werden. Ein Bundesrat nannte Besmer

«einen Hampelmann».

Text: Rolf Wespe, Fotos: Luca Bricciotti

Die Armee

wollte Adolf Besmer

enteignen.

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Engagiert Euch! Unbekannte drohten ihm, seinen Hof

abzufackeln, und man forderte ihn auf, nach Moskau oder nach Sibirien aus- zuwandern. Was hat den inzwischen siebzig Jahre alt gewordenen Bauern motiviert, sechzehn Jahre lang Wider- stand zu leisten?

Stiefel, grüne Hosen, grüner Hut und eine blaue Stalljacke. Der Bio-Bauer auf dem «Nesseli» in Rothenthurm ist siebzig Jahre alt geworden. Schlank, fröhlich, voller Energie begrüsst er mich.

Ich hatte ihn interviewt, als er ein junger Bauer war (siehe Kasten) und im tollkühnen Widerstand das Angebot des Militärs für Ersatzland ablehnte. «Ihr wollt mir ein Kind wegnehmen und bietet mir ein anderes, angeblich schö- neres an», erklärte Besmer den Enteig- nern. Was hat ihn motiviert, sechzehn Jahre lang (1971 bis 1987), für seinen Hof zu kämpfen? War es die Lage, die Aussicht? «Nein», lacht der Bauer auf 960 Meter über Meer. «Nein, die Aus- sicht bringt kein Geld. Ich bin mit dem Land verbunden, auf jedem Quadrat- meter haben wir gearbeitet, da ein Hügelchen abgetragen, dort Bäume ge- pflanzt, den Stall neugebaut und das Wohnhaus renoviert».

Die Aussicht ist phänomenal. Vor uns das geschützte Hochmoor, gelb- braune Streu, grüne Flächen, Moor, Fichten, die in weiten Schlingen mäan- drierende Biber und vereinzelte Ried- hüttli, in denen einst der Torf gelagert wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite fährt der goldene SOB-Panorama- Zug von Rothenthurm nach Biber- brugg. Da – in der schützenswerten Landschaft von nationaler Bedeutung – wollte das Eidgenössische Militärde- partment (heute BVB) die Kaserne bauen.

Und Pisten für Radfahrer und Schüt- zenpanzer mit Brücken – ausgelegt auf fünfzehn Tonnen pro Achse –ins Moor bauen und betonieren. Die Truppen sollten vorrücken und das «Nesseli»

ins Visier nehmen. Der Bauernhof mit den dreissig Hektaren war als Zielge- lände des Waffenplatzes vorgesehen.

Besmer hat damals geschworen, er werde das Land nicht verlassen, «auch wenn ihm die Kugeln um die Ohren pfeifen».

Besmer besitzt nur das Haus und die Scheune, er war und ist Pächter. Das Land gehört der Kor- poration Oberägeri. Das Militärdepartement (heute BVB) hatte ihm Ersatz angeboten. Er schlug das aus. Der Bund leitete das Enteignungsverfahren ein. Zwangsweise verkau- fen sollte auch die Korporation. Sie war Besitzerin des Pachtlandes. Woher nahm Besmer die Kraft für seinen toll- kühnen Widerstand? Das wollte ich herausfinden. Darum habe ich ihn nochmals besucht.

Achtzehn Kühe mit Hörnern in einer Reihe, fixiert im Fress- gitter, mustern mich. Besmer holt Heu mit der Gabel und verteilt das Futter. Plötzlich brechen zwei Kühe aus, verlas- sen den Stall, er rennt hinterher, fängt sie wieder ein, und die Tiere galoppieren zurück in den Stall. «Das kommt davon, wenn man nicht voll bei der Sache ist», sagt Besmer und schliesst die Stalltüre. Ich habe ihn abgelenkt. Insgesamt 45 Tiere, Kühe, Rinder und Kälber stehen in dem Stall. Und ein Stier mit dem Namen «Hoppla», zweieinhalb Jahre alt und 900 Kilo schwer. Besmer tätschelt den Koloss auf den Rücken und sagt: «Ich merke schon, dass ich weniger Kraft habe, wenn ich den Stier am Nasenring führen muss. Ich bin nicht mehr zwanzig Jahre jung.»

Der Bauer führt mich ins Moor hinunter zu einer der vie- len Schleifen der Biber. Er will mir zeigen, wie er mit Greifer und Stahlseilen Weiden-Stöcke ausreisst. Die Stauden hän- gen ins Wasser und bremsen die Biber. Sie sind ortsfremd und müssen mit den Wurzeln aus der Erde gerissen werden.

Er tut das im Auftrag des Zuger Amtes für Raum, Natur und Landschaft.

Hier im Moor stellte er einst den Militärminister und zuständigen Bundesrat Georges-André Chevallaz zur Rede.

Besmer war sauer auf ihn. «Besmer ist der Hampelmann der Armeegegner», hatte der Bundesrat in einer Rede erklärt.

Die linksextremen Armee-Abschaffer hätten den Bauern vor den Karren gespannt. «Sie sind nicht nur klein von Ge- stalt», hatte er dem Bundesrat an den Kopf geworfen. Er hat nie erfahren, ob der Westschweizer Bundesrat ihn wirklich verstanden hat. Die Wut der Militärs auf den Prä- sidenten der «Arbeitsgemeinschaft gegen den Waffenplatz Rothenthurm» (AWAR) ist nachvollziehbar. Der parteilose junge Bauer kam daher wie ein freundlicher SVP-ler, der um sein Land kämpfte - und dabei nur von den Sozial- demokraten unterstützt wurde. Besmer wurde zum Aus- hängeschild in der Kampagne der Landschaftsschützer.

Der freundliche Held leistete einen wichtigen Beitrag zur überraschenden Annahme der Rothenthurm-Initiative.

Die Initiative zum Schutz der Hochmoore wurde vom WWF und den Schweizer Umweltorganisationen und der AWAR lanciert (siehe Kasten). Besmer wurde immer wie- der aufgefordert, er solle nach Moskau oder nach Sibirien auswandern. Man drohte ihm am Telefon, man werde sei- nen Hof anzünden.

Er erinnert stolz daran, wie er das Militär mit den eigenen Waffen geschlagen hat. Die Armee wollte beispielsweise zeigen, dass die Bauern keine Sorge zum Moor tragen. Sie verbreitete Bilder von Schrott und alten Kühlschränken bei einem Torfschuppen im Moor. Besmer machte publik, wem diese Sauerei gehörte. Das Grundstück gehörte bereits der Armee.

«Inoffiziell 1968 und offiziell 1978» übernahm Adolf Bes- mer den Hof von seinen Eltern – in der vierten Generation.

Schon als Knabe musste er mithelfen. Von der ersten bis zur sechsten Klasse besuchte er die Primarschule nur halbtags – wie damals in Rothenthurm üblich. Er hatte stets gute Noten. Die Aufnahmeprüfung in die Sekundarschule hat er mit Bravour geschafft. «Ich war so gut wie die Mädchen.»

Trotzdem war seine Schulkarriere nach der ersten Sekun- darschulklasse zu Ende. Er musste auf dem «Nesseli» arbei- ten. Auch als Landwirt blieb er Autodidakt. Er hat keine Bauernlehre absolviert. «Ich bin das fünfte von neun Ge- schwistern. Ich musste mich gegen oben und unten behaup- ten.» In dieser Familiensituation habe er viel gelernt.

Die Armee

wollte Adolf Besmer

enteignen.

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Raubvögel kreisen über dem «Nesseli», ein Mäusebussard und ein Milan. «Der mit dem Gabelschwanz ist der Milan», sagt der Bauer. Vom Waffenplatz hat er zufällig an der Fas- nacht 1971 erfahren. Ein Baggerführer hat ihm davon er- zählt. «Soldätli spielen und im Moor pflotschen. Ein fertiger Blödsinn!» fand Füsilier Besmer damals. Auf dem Rückweg bergauf zum Hof frage ich ihn: Wie hat er es ausgehalten, sechzehn Jahre lang in der Rolle des David gegen Goliath einen scheinbar aussichtslosen Kampf gegen das Militär zu führen? «Ich habe einfach nicht glauben können, dass man mir das Land wegnimmt. Niemand darf einem Bauern das Schlimmste antun und sein Land wegnehmen. Den Sowjets ist es schliesslich auch nicht gelungen, den Afghanen das Land wegzunehmen.» Und wie ist er mit der Drohung fertig geworden, man werde den Hof anzünden? Seine Familie hat das beschäftigt. «Ich habe nachts etwas genauer hingehört, aber trotzdem gut geschlafen.» Er sagt, die Armee wollte die Bauern zermürben, «aber wir haben sie zermürbt». Besmer und das «tolle Team» der AWAR haben das Waffenplatz- Projekt immer wieder mit neuen Rekursen verzögert.

Sein Sohn Beat Besmer (38) hat das Mittagessen gekocht.

Kartoffelgratin und Hacktätschli.

Bio-Fleisch vom eigenen Hof. Das Fleisch wird in Nicht- Corona-Zeiten unter anderem in die Rote Fabrik nach Zürich geliefert. Eine Verbindung, die dank dem Streit um den Waf- fenplatz zustande kam. Beat Besmer hat eine Lehre als Elek- troniker gemacht und an der Fachhochschule Chur als Inge- nieur abgeschlossen. Später hat er sich in einem Spezialkurs für Quereinsteiger zum Landwirt ausgebildet. Beat lebt und arbeitet eine halbe Woche in Zürich als Software-Entwick- ler und eine halbe Woche auf dem «Nesseli». Auch Beat ist ein begabter Handwerker. Sein jüngstes Werk ist ein einfa- ches Kästchen mit Elektronik und zwei Knöpfen, rot und grün. Damit kann seine kleine Nichte über Wlan einfach mit ihm reden. Er will eine ganze Serie bauen. Basteln habe er vom Vater gelernt. Adolf habe als Knabe mit dicken Brettern und Drei-Zoll-Nägeln ein Vogelhaus gebaut. Beat hat nie daran gedacht, den Hof zu übernehmen. «Es hat sich ein- fach ergeben.» So kam es zum Jobsharing von Vater und Sohn. Dank dem Engagement des Sohnes konnte Adolf das Pachtland behalten. Sonst hätte er es der Korporation zurückgeben müssen, als er 65 Jahre alt war.

Wir sitzen am Küchentisch und trinken Pulver-Nescafé.

An die Vergangenheit erinnert das olivgrüne «Gnägi-Libli», das Adolf Besmer trägt. Als Beitrag zur Rettung der Textil- Industrie hatte der damalige Militärminister Rudolf Gnägi (1968 bis 1979) die Fabrikation dieser Armee-Leibchen in Auftrag gegeben. Der ehemalige Füsilier Besmer hat einige davon. Sie wurden ihm von Bekannten geschenkt.

Sohn Beat erzählt, dass sein Vater die Schweiz nie verlas- sen hat. Nur einmal, bei einem Verwandten-Besuch in Kreuzlingen, fuhr er kurz über deutsches Staatsgebiet. «Ich weiss schon, das Nachbardorf Biberbrugg ist für mich schon Ausland», lacht Adolf. Hat er keine Lust, mal das Meer zu sehen? «Ich sehe das Meer im Fernsehen, und ich kann nicht schwimmen.» Besmer ist Vater von vier Kindern, Sohn Beat und drei Töchter im Alter zwischen 35 und 42 Jahren. Eine Tochter lebt in Australien. Seine Frau Annemarie hat sich 1997 von ihm getrennt und ist in eine Wohnung ins Dorf Rothenthurm gezogen. Die Kinder haben abwechselnd auf dem «Nesseli» und im Dorf gelebt. Fühlt er sich manchmal allein auf dem Hof? Nein, sagt er, als Bauer habe er immer etwas zu tun. Und in der Freizeit sei er manchmal zum Tanz

ins Café Biberegg gegangen. Wie hat er es ausgehalten sech- zehn Jahre lang einen Kampf gegen die Übermacht der Ar- mee zu führen? Sein Sohn nennt ihn einen «Chrampfer und Kämpfer». Das beantwortet meine Frage zum Teil. Dazu kommt der scheinbar realitätsferne Optimismus von Adolf Besmer. Paradoxerweise hat er damit eine neue Realität ge- schaffen, seinen Hof gerettet und der Armee eine bittere Niederlage beschert. Und er hat dazu beigetragen, dass die einzigartige Landschaft von Rothenthurm und weitere Hochmoore geschützt bleiben.

Biberbrugg ist schon Ausland.

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Engagiert Euch!

Ein unglaubliches Kapitel im Kalten Krieg

58 Prozent der Schweizer Stimmbürger sagten am Klaus tag 1987 Ja zur «Rothenthurm Initiative zum Schutz der Hochmoore». Nur drei Kantone lehnten ab: Schwyz (mit 52 Prozent), Wallis und Thurgau. Damit wurde der Waffen- platz Rothenthurm verhindert und alle Schweizer Hoch- moore unter Schutz gestellt. Die Initiative wurde vom WWF und allen Umweltverbänden der Schweiz lanciert.

Unterstützt wurde sie auch von den Langläufern. Die hätten ihre Runden auf dem Moor nur noch am Wochen- ende und an schiessfreien Wochentagen laufen können.

Die bürgerlichen Politikerinnen und Politiker luden die Debatte ideologisch auf. In der Abstimmungs-Schlacht im frostigen Klima des Kalten Krieges ging es angeblich um Sein oder Nicht-Sein der Armee. «Die Schweiz hat keine Armee, sondern sie ist eine Armee», hiess es damals.

Im Nationalrat sprachen dreissig Leute zum Thema in einer fünfstündigen Debatte. Von den grossen Parteien unter- stützten nur die Sozialdemokrateninnen und Sozialdemo- kraten die Initiative. Die bürgerliche Mehrheit kanzelte die Gegnerinnen und Gegner des Projektes gerne als Landes- verräter, Kommunistinnen und Armeeabschaffer ab.

Die Armee galt als unangreifbar und alles, was sie verlangte, wurde bewilligt. So gesehen haben die Schweizer Stimm- bürgerinnen und Stimmbürger den Eisernen Vorhang in Rothenthurm abgeräumt - zwei Jahre vor dem Fall der Mauer in Berlin.

Die politische Polizei diffamierte die Gegner des Waffen- platzes, die Opposition wurde vom Staatsschutz ob- serviert. Auf meiner Fiche wurde ich als «Exponent» und

«Angehöriger» der Arbeitsgemeinschaft gegen den Waffenplatz Rothenthurm (AWAR) bezeichnet. Und die NZZ hat mich als Helfershelfer der Armee-Abschaffer diffamiert. Kritischer Journalismus wurde mit falschen Etiketten und unwahren Behauptungen bekämpft. Ich war 1978 bis 1987 Innerschweizer Korrespondent des Zürcher Tages-Anzeigers und habe die Auseinandersetzung in insgesamt 110 Artikeln kritisch begleitet. Aus heutiger Sicht hat die Armee Geld gespart. Die Armee wurde verkleinert.

Der Waffenplatz wäre heute überflüssig.

Biberbrugg ist schon Ausland.

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