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Vom Rhein ans Mittelmeer von Basel zur Rhonemündung

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Vom Rhein ans Mittelmeer – von Basel zur Rhonemündung

(Juni 2012, 800 km, 5’700 Hm)

Diese Velotour ist schon lange auf dem Programm. Letztes Jahr fuhr ich den „Loire-Radweg - vom Atlantik bis Basel“, doch musste ich in Besançon wegen schlechten Wetters abbrechen. Bei der nun geplanten Tour könnte ich die Lücke zwischen Besançon und Basel schliessen, wenn auch in umge- kehrter Richtung.

Bis Basel mit dem Zug, dann flott aufs Rad und durch die hügelige Landschaft der Juraausläufer Rich- tung Montbéliard. Anfänglich ist man im Elsass, was die deutschsprachigen Ortsschilder und die gu- ten Restaurants verraten. Ganz knapp streift man den schweizerischen Pruntruter-Zipfel, kurz bevor man zum Rhein-Rhone-Kanal hinstrebt, den man in Montbéliard erreicht – wo übrigens der Kanal in den Doubs mündet. Diese erste Etappe erweist sich als eher langweilig, die Landschaft nicht beson- ders abwechslungsreich, kulturell nichts zu entdecken. Montbéliard: Eine Industriestadt, ziemlich öde. Die verfügbaren Hotels sind rar; das Bristol in der Altstadt ist einfach, aber dafür offen. An der kleinen Bar machen sich vier Prostituierte für den Abend fit: Sie trinken Champagner mit irgendei- nem roten Saft gemischt. Drei der vier sind rabenschwarze Afrikanerinnen. Ich mache mich auf die Suche nach einem Restaurant, bin aber erfolglos. Alles geschlossen, ausser zwei-drei billige Bars. Es ist Pfingstmontag. Die Altstadt ist ausgestorben, nur ein grösserer Parfumerieladen hat offen, doch ausser dem Personal ist niemand da. Die Bausubstanz der Innenstadt gleicht jener bei uns in den fünfziger Jahren – nur war es bei uns damals sauberer. Die Reception im Hotel erklärt mir, wo das einzige offene Restaurant zu finden ist: ein Billigrestaurant mit äusserst dürftiger Speisekarte, und selbst das darauf Angebotene ist nur unvollständig lieferbar. Die Bedienung ist schleppend und lust- los. Im ganzen Ort keine Kinder, keine jungen Leute, kein fröhliches Gesicht. Ich bin etwas deprimiert und nehme mir vor, dass ich ein solches Frankreich maximal zwei oder drei Tage aushalte, dann flie- he ich nach anderswo.

Anderntags ist die Ausfahrt aus Montbéliard unerwartet kompliziert. Ich verfahre mich tatsächlich 15 km – ärgerlich. Dann aber fasse ich Tritt, komme mit Karte und GPS zurecht und erlebe eine zauber- hafte Doubs-Flusslandschaft. Bis Besançon sind es fast 100 km. Der Doubs und seine Seitenkanäle sind wenig befahren. Nur vereinzelt sieht man ein Hausboot, meist ein umgebauter Frachtkahn, das Langzeitreisenden für ihre Fahrten durch Europas Kanäle dient. In Besançon unterquert man den Burghügel in einem Tunnel, der für einen Kanal und einen Geh- sowie Radweg gebohrt wurde. Da fahre ich hindurch und setzte mich nach dessen Ausgang in die Wiese zwecks Kartenstudiums. Nach wenigen Minuten bin ich umzingelt von drei jungen Radlern, die sich als Velo-Guides ausweisen und mir mit Karten und Tipps weiterhelfen, inkl. Hotelempfehlung im 30 km entfernten Ornans, einem Ort an der Loue im französischen Jura. „Mais ça monte!“ ist ihre Warnung – was ich in den folgenden zwei Tagen noch öfters höre. Die Gegend ist landschaftlich reizvoll, die Loue ein sauberes Juragewäs- ser mit Fischen und Wasservögeln, Ornans ein zivilisatorisch zurückgebliebenes Städtchen. Im Hotel freut man sich auf den Neuankömmling, die Buchungsquote ist noch gering, in den Sommerferien soll es besser sein. Beim Nachtessen sitze ich neben einem Paar, das sich offensichtlich in allen Punkten uneinig ist. Die Frau – schmale Lippen, blitzende Augen, drohender Zeigfinger, schrille Stimme, unge- ordnete Haarpracht - sucht immer wieder den Streit, und er sucht visuell bei mir Hilfe. Ich verstehe

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2 nur einen Bruchteil der laut geführten Unterhaltung und habe keine Ahnung, worum es geht. Der Wein ist gut, das Lamm grilliere ich zuhause besser. Die Streitenden gehen, Bonsoir sagen beide, und er würde ganz offensichtlich gerne mit mir tauschen … ich nicht.

Die streitende Frau

Aus dem recht tiefen Tal der Loue hinauf auf die Jurahöhen: grosse Landschaften, steile Abfahrten in Täler und Wiederanstiege bis Arbois. Der Wetterbericht sagt für den Nachmittag Regen voraus, was die Tagesstrecke verkürzt. Der Regen trifft dann nicht ein. Das einzige Dreisternhotel in der Region mit freien Zimmern ist das „Castel Damandre“, ziemlich abgelegen in einem Seitental. Nun, wieso nicht. Die einzige Angestellte weist mir ein bescheidenes kleines Zimmer zu. Zu Essen gibt’s ab 19:30 Uhr und vorher auch nichts zu Trinken. Wo sind eigentlich die 10 % arbeitslosen Franzosen? Also hier nicht – und anderswo habe ich sie auch nicht gesehen. Der Zimmerpreis mit Frühstück beträgt für eine Person stolze 162 Euro. Positiv zu vermerken sind die Ruhe und die Wiesen, Wälder und Bäche rund um das Hotel.

Die Tagesetappen werden immer schöner, die Zeit auf dem Rad von Tag zu Tag interessanter. Arbois nach Bourg-en-Bresse ist gewaltig bezüglich Landschaften, Jurawiesen, Wälder, Moor- und Stauseen, schmale und steile Täler, ja eigentliche Schluchten, einsame Gegenden. Längere Zeit radle ich im oder über dem Tal der l’Ain. Wundervolle Getreidefelder, vielfältiger Ackerbau – es hat von allem.

Nur wenn man in den Bereich grösserer Ortschaften kommt, wird der Verkehr intensiver. Industrie und Gewerbe konzentrieren sich in den wenigen Städten. Radfahrer sind in geringer Zahl unterwegs, vor allem lokale Rennvelofahrer, zwei-drei Tourenfahrer mit unterschiedlichen Zielen. – In Bourg-en- Bresse finde ich ein neues Hotel einer amerikanischen Hotelkette, das sich als recht angenehm er- weist mit vernünftigem Preis-Leistungsverhältnis. Zwischen dem Hotel und der belebten Strasse resi-

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3 dieren einige Clochards mit einem Hund. Der Hund ist der Frühaufsteher der Gruppe: um 8 Uhr - der Rest der Gruppe ruht noch. – Sehenswert ist die gotische Kathedrale und das Kloster von Brou (ist Ortsteil von Bourg-en-Bresse). Ausser mir sind nur noch zwei Schulklassenmit 7-jährigen da.

Gewaltige Spätgotik in der Kathedrale von Brou1

Fährt man von hier Richtung Süden weiter, so muss man einen grossen Bogen um die Agglomeration Lyon schlagen, um dem dortigen Verkehr auszuweichen. Mir gelingt das mit meiner Ostumfahrung nicht so richtig. Es ist die verkehrsreichste Etappe dieser Tour und ich komme an vielen modernen Logistik- und Industrieunternehmen vorbei, der Verkehr ist entsprechend intensiv, die Strassen breit – alles ganz anders als auf dem Land. Unterbrochen wird die etwas mühsame Fahrt von einigen Be- sichtigungen, zum Beispiel der mittelalterlichen Altstadt von Pérouges mit ihrer herrlichen gotischen

1 „Wegen seiner harmonischen Gesamtgestaltung, der Fenster mit interessanten historischen und religiösen Sze- nen, der Grabmäler im Inneren der Kirche und vor allem wegen seiner einzigartigen Steinmetzarbeiten ist Brou ein Bauwerk von höchstem künstlerischen und historischen Rang.“ (Wikipedia)

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4 Kirche. Die gut erhaltene bzw. restaurierte Kleinstadt gilt als eine der schönsten dieser Art in ganz Frankreich. Man zählt jährlich 400‘000 Besucher. Bei meinem Besuch heute sind es vor allem Fer- nöstler.

Pérouges – mittelalterliche Kleinstadt mit beeindruckender Gotik der Kirche

Bemerkenswert sind die neuen Eisenbahnlinien und Strassen, auf die man in der Umgebung von Lyon trifft. Offensichtlich wurde in dieser wirtschaftlichen Hotspot-Region viel in die Infrastruktur inves- tiert. Frankreich-Kenner werden dazu wohl anmerken, dass das typisch für dieses Land sei, wo die Zentren gefördert werden, hingegen die ländlichen Gebiete sich selbst überlassen bleiben. Während in den Zentren die Bausubstanz neueren Datums ist, findet man das auf dem Land weniger. Vielmehr sind in ländlichen Gebieten die Altbauten schlecht renoviert, mit alten Fenstern und Türen (wie bei uns in den 1950er Jahren), mit elektrischen Leitungen auf dem Verputz verlegt, Sanitärleitungen ebenso, Böden hobbymässig verlegt mit entsprechenden Abschlüssen, Lampen in den Hotels wie in meiner seinerzeitigen Studentenbude.

Meine nächste Unterkunft ist in Vienne, einer alten Industriestadt südlich von Lyon. Die Véga fliesst hier in einem engen Tal in die Rhone. Das Gefälle der Véga wurde früher für die Industrialisierung genutzt. Heute stehen die alten Anlagen teils verlottert da. Trotzdem ist die Altstadt recht hübsch und vor allem belebt. Eine Velospazierfahrt macht vor allem dem architektonisch interessierten Auge richtig Spass. Obwohl sich die Gebäude und Gassen im eben beschriebenen Zustand befinden, ist das Ambiente (bei schönem Wetter) trotzdem attraktiv, zum Verweilen einladend. Einige Stadteinwoh- ner feiern gerade ein römisch-keltisches Fest und ziehen in entsprechender Aufmachung durch die Gassen, um anschliessend den so geförderten Durst ungehemmt-ausgiebig löschen zu können. Ein Teil der Innenstadt ist von Marktfahrern und Bauern besetzt, die ihre vielfältigen Waren anbieten.

Ein buntes Bild. Daneben gleich die gotische Kathedrale, von aussen nichts Besonderes, im Inneren dagegen sehenswert. Einige wenige Touristen interessieren sich auch dafür. Das römische Amphithe- ater ist geschlossen und von hohen Zäunen umgeben. Es wird ab und zu für Konzerte genutzt. – Am Rande der Altstadt finde ich ein neueres Viersternhotel, eines, das zum Relais Château gehört. Der Übernachtungspreis ist ziemlich hoch, aber noch akzeptabel. Doch das Restaurant: Unter 250 Euro ist ein dreigängiges Nachtessen für eine Person nicht zu haben. Mich haut’s fast um. Trotzdem ist das Restaurant voll von ganz gewöhnlichen Leuten, die meisten ohne Krawatte, die Frauen nicht beson- ders chic gekleidet. Insgesamt kostet hier der Aufenthalt für eine Nacht inkl. Nachtessen und Frühs-

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5 tück doppelt so viel wie im Schlosshotel Chastè in Tarasp, das ja bezüglich Preis auch nicht gerade als billig bezeichnet werden kann, indessen ein gutes Preis-Leistungsverhältnis aufweist.

Mit dem Weiterfahren nach Süden ändert sich auch die Bevölkerungsstruktur. Ich sehe mehr türki- sche Restaurants, mehr verschleierte Frauen, auch in kleineren Städten.

In Romans, meinem nächsten Aufenthalt, lobe ich wieder mein Velo als das geeignetste Transport- mittel für die Altstadtbesichtigung. Die Kathedrale ist auch hier ein Attraktor. Es ist Sonntag. Zwei stämmige Rotkreuz-Sammlerinnen stehen links und rechts vom Hauptportal, beide mit einer grossen weiss-roten Sammlerbüchse in der Hand. Ich stelle mein Fahrrad neben sie und schreite frohgemut zum grossen Portal, bringe es aber nicht auf. So bitte ich die karitativen Damen, mir mit Rat oder noch besser mit Tat zu helfen, was sie auch tun. Und so stellen wir gemeinsam fest, dass die Kirche geschlossen ist! Peinlich für die beiden. Sie standen offenbar schon einige Zeit mit leeren Büchsen da.

Nun ziehen sie ziemlich verlegen und mit gebückten Köpfen in unterschiedliche Richtungen ab. Ich musste schallend lachen. Habe mich auf dieser Reise nie mehr so amüsiert wie in diesem Augenblick.

Velofahren ist meist ein grosses Vergnügen, ausser wenn es zu Regnen anfängt. Und das passierte an diesem Tag. Ich schaffte es mehr oder weniger trocken gerade noch bis Valence zum Bahnhof. Der Ort schien mir nicht attraktiv genug für einen Regentag, und so bestieg ich mit meinem Rad einen Regionalzug bis Avignon. Dass es da etwas zu Sehen gibt, haben wir schon in der Schule gelernt: Der Papst hatte hier während einiger Zeit seine Residenz, später auch der sogenannte Gegenpapst, weil die Franzosen diese Pfründe nicht mehr hergeben wollten. Heute ist es ein Unesco-Weltkulturerbe.

Der Papstpalast ist natürlich ein Muss, die Besichtigung mit Audio-Guide gut organisiert. Mir scheint der ganze Gebäudekomplex etwas klobig. Im Audio-Guide ist viel von Geld, Gold und Macht die Rede sowie vom Zeremoniell zwecks Demonstration von Prunk und Macht. Das wirkt auf mich ziemlich befremdlich und erinnert mich an Inges Vatikanbesuch mit Renata, von dem sie ernüchtert berichte- te, sie habe sehr wenig von Religion und dafür sehr viel mehr von Machtgier und Prunk gesehen.

Merkwürdig – und doch auch heute immer noch so gegenwärtig in Religion und Politik. (Man schaue sich nur einmal das neuer Kanzleramt in Berlin an oder die Zeremonie im Elysée bei irgendeinem Staatsbesuch, oder den Auftritt des Papstes bei seinen Auslandsbesuchen.) Nachdem das Bankwesen seinerzeit noch nicht so entwickelt war, mussten die Wertsachen des Papstes im Palast aufbewahrt werden. Es gab dafür eine Schatzkammer, recht geräumig in Länge, Breite und Höhe. Unter dem Bo- den war noch ein Zwischenboden eingezogen, wo besonders heikle Vermögenswerte versteckt wer- den konnten. Vielleicht wird diese Zwischenboden-Aufbewahrungsmethode wieder aktuell, wenn unsere Banken sich weiterhin in unregelmässigen Abständen mit Milliarden verspekulieren und auch sonst das Vertrauen der Einleger mit Füssen treten. – Zum Schluss der Besichtigung gibt’s ein gewal- tiges Gewitter. Man bleibt besser noch etwas im Palast. Eine alleinreisende Fernöstlerin neben mir auf der Wartebank vertreibt sich die Zeit mit einem Computerspiel auf ihrem iPhone. Es ist das Froschspiel, mit dem auch die fünfjährige Nicole gerne ihre Geschicklichkeit prüft - was darauf hin- weist, dass der alte Papstpalast für die Fernöstlerin wenig Anlass zu geistvoller Nachbearbeitung bot.

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6 Die Weiterfahrt ist ein besonderer Genuss: Die Provence ist ja bekannt für ihre Schönheit, vor allem auch für ihre typisch provenzalischen Landschaftsbilder und –gerüche. Im späten Frühling sind die Gerüche noch ausgeprägter als in den anderen Jahreszeiten, und der vorangegangene Regen wirkt als Geruchsverstärker: Pinien, Lavendel, frisch geschnittenes Gras, Jasmin, Zitronen, Rosen, Rosmarin und viele weitere Wohlgerüche ziehen an meiner Nase vorbei. Mein erstes Ziel ist das Château von Barbentane, 350 Jahre alt, immer noch von der Familie Barbentane bewohnt, weitgehend original erhalten, weil nie durch Krieg, Brand, Plünderung o.ä. verwüstet. Ein Teil des Schlosses kann man im historischen Zustand besichtigen, allerdings nur mit Führung. Die Dame, welche solches tut, hat aber ihre bestimmten Zeiten. Die nächste Führung soll in einer halben Stunde stattfinden. Nachdem ich ihr erklärt habe, dass ein „Cycliste“ keine Zeit zum Warten hat, macht sie für mich eine Privatführung – verkürzt zwar, für mich aber genau richtig, weil ich nicht bei jedem Stuhl oder Tischtuch die genau Herkunft und Benutzungsgeschichte wissen möchte. Die historischen Räume sind nicht geheizt, also im Winter nicht bewohnbar. Die Übergangszeit im Frühling ist in solchen ungeheizten Herrschafts- häusern bekanntlich kritisch, weil sich an den Wänden Feuchtigkeit bildet. Hier in der Provence aller- dings löst der trockene Mistral das Problem innert wenigen Tagen.

Schloss Barbentane

Nicht weit entfernt ist das Kloster St. Michel de Frigolet mit einer romanischen Kapelle und einer neugotischen Basilika. Das Kloster ist noch in Betrieb, aus irgendeinem Grunde wird in der Kapelle gerade eine Hochamt gefeiert, vier Priester sind im Einsatz, viel Weihrauch, es wird auch festlich ge- sungen, doch sind nur etwa zehn Messebesucher anwesend.

Nicht weit davon entfernt liegt Glanum, eine ausgegrabene römische Stadt, die vor den Römern be- reits von Kelten (Salyer, auch Salluvier genannt) und von Griechen bewohnt war. Ihre Lage am Nord- rand der Alpilles-Kette und an einem Kreuzpunkt damaliger Handelswege, ihre Heilquelle und die

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7 sichere Wasserversorgung waren wohl die Gründe, welche der Stadt ihre Jahrhunderte lange Bedeu- tung sicherten. Die Römer bauten hier im 1. Jahrhundert v. Chr. die erste Bogenstaumauer der Welt, 15 m hoch und 28 m lang.2 Man sieht heute leider nichts mehr davon.

Die Region besitzt eine gute touristische Infrastruktur: zahlreiche Restaurants und Hotels, Wander- wege, beschilderte Sehenswürdigkeiten etc. Man spürt auch die lockere Lebensweise Südfrankreichs, den Überfluss der Natur, man sieht den gepflegten Baustil und schätzt die relative Sauberkeit und Ordnung im öffentlichen Raum, die verkehrsarmen Nebenstrassen.

Der Weiterweg geht über die Alpilles-Kette, eine pinien- und eichenbewaldete Kalksteinkette mit Erhebungen bis gegen 500 m, teils stark zerklüftet und bizarr. In der gemütlichen Abfahrt nach Süden kommt man zuerst in grosse Olivenhaine, dann in Rebengebiete. Ich nehme noch die Abzweigung nach Les-Baux-de-Provence und schiebe dort mein Velo durch die Touristenmassen zur Burg, verzich- te aber auf den Rundgang durch diese selbst. Der Ort ist klassifiziert als eines der Plus beaux villages de France, und so kann es nicht ausbleiben, dass zahlreiche Cars die Touristen heranführen. In der Nähe von Baux findet sich ein braun-violettes Mineral, das man im Jahre 1822 als Grundstoff für Aluminium erkannte und danach Bauxit nannte.3

2 Eine Bogenstaumauer ist technisch einer römischen Brücke sehr ähnlich, und Brückenbau war ja eine Speziali- tät der Römer.

3 Bauxit enthält eine Aluminiumverbindung, aus der durch Elektrolyse reines Aluminium gewonnen werden kann.

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8 Meine nächste Unterkunft ist in Arles, der „Hauptstadt“ der Camargue. Hauptstadt ist eigentlich falsch, denn die Camargue gehört zu Arles. Und damit ist Arles mit 760 km2 die flächenmässig gröss- te Gemeinde von Frankreich. Sie misst ein Drittel der Fläche des Kantons St. Gallen. Auch Arles ist wie Avignon ein Unesco-Weltkulturerbe. Und das zu Recht. Mein Hotel liegt zwischen dem Amphitheater und dem Antiken Theater, also mitten in der Altstadt. Es gibt viel aus der Römerzeit und Neueres zu sehen, vor allem die Kathedrale und das daneben stehende Kloster. Dieses wird gerade restauriert, es könnte schön werden, vor allem der Kreuzgang. Zurzeit kann man seine Schönheit nur erahnen, sind doch die originalen Steinmetzarbeiten an den Säulen und Bögen weitgehend zerfallen. – Im Ho- tel herrscht reges Treiben. Es wird vor allem von Langzeitreisenden benutzt: Engländer, Amerikaner, Fernöstler, auch Franzosen, Junge, Mitteljunge und Senioren – ein buntes Gemisch. Man mag sich gegenseitig, was fröhliche interkulturelle Gespräche zeigen. Die fünf Internetstationen des Hotels sind ständig besetzt, Free WiFi4 wird eifrig mit iPad und iPhone genutzt. Mauersegler, Schwalben und Dohlen sowie sehr grosse Möwen unbekannter Art geniessen den Abend, der Himmel ist eigenartig schön, man sagt, der blau-föhnige Himmel sei vom Mistral gezeichnet.

Van Gogh hat hier mehrere Hundert Bilder gemalt, man ist heute stolz auf diesen zeitweisen Stadt- bewohner, während man ihn damals, im Jahre 1889, aus der Stadt vertrieben hat. Er war den Bür- gern zu unkonventionell. Die Stadt ist auch heute noch ein Künstlerort. Der Appenzeller Carl Walter Liner-Rüf (1914-1997) hat hier in der Nähe5, wenige Kilometer nördlich von Arles, während ca. 40 Jahren in einer eigenen Liegenschaft zeitweise gemalt. Seine Ehefrau hat das alte Anwesen mit Turm dann der Stadt vermacht. Es hat heute eine Erinnerungstafel6, der Gebäudekomplex ist geschlossen und scheint sich selbst überlassen zu sein.

Erinnerungstafel an Carl Liner jun.

Ein Altstadtbummel durch Arles lässt den Zauber dieser Stadt spüren: Gassen, Plätze, Museen, Bist- ros, Cafés, Einwohner und Touristen. Vor allem fallen die vielen spielenden Kinder auf, die sich mit Bällen, Velos, Rackets oder einfach streitend unterhalten.

4 Gibt es in allen französischen Hotels, die ich besucht habe. Da hat die Schweiz noch Nachholbedarf!

5 In Fontvieille, rund 10 km nördlich von Arles. Liner wurde 1996 Ehrenbürger von Fontvieille und erhielt 1983 einen Kunstpreis der Stadt Arles. – In Fontvieille hat auch Alphonse Daudet (1840-1897) Spuren hinterlassen.

Briefe aus meiner Mühle soll in dieser Gegend entstanden sein, eine Mühle steht noch und ist ihm gewidmet. Er ist auch der Autor des Schauspiels L’Arlésienne, zu dem Georges Bizet die Bühnenmusik schrieb. Am bekann- testen sind wahrscheinlich seine Geschichten Tartarin von Tarascon.

6 Seine Ehefrau hiess Rüf - nicht Ruff, wie auf der Erinnerungstafel geschrieben.

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9 Wenige Kilometer nördlich von Arles findet man die Abtei Montmajour, historisch interessant, weil von ihr aus die Trockenlegung der Sümpfe der Gegend organisiert und bezahlt wurde. Leider ist auch diese Abtei noch in Renovation; es dürfte noch einige Jahre und einige Millionen Euro brauchen, bis das Sehenswerte wieder sichtbar gemacht ist. Doch gleich daneben findet sich eine besondere Kapel- le im romanischen Stil, umgeben von offenen Steingräbern: Ste-Croix wurde im 12. Jahrhundert als Friedhofs- und Pilgerkapelle erbaut, und zwar im Tetraconchos-Stil, den man sehr selten antrifft. Er wurde seinerzeit aus Armenien übernommen.

St. Croix, rund tausend Jahre alt

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10 Arles ist in Künstlerkreisen bekannt wegen der schönen Frauen. Ich habe keine gesehen, doch die Arlésienne von Bizet, die gefällt mir wirklich. Auffallend ist die Kussfreudigkeit der Bevölkerung. Sie nimmt von Norden nach Süden zu und ist hier, in Arles, extrem. Man küsst sich bei der Begrüssung, beim Abschied, beim Schichtwechsel im Bahnbetrieb, es küssen sich Frauen untereinander, Frauen die Männer und umgekehrt, aber auch Männer untereinander, Junge und Alte. Der Bakterienaus- tausch ist jederzeit und vollständig sichergestellt. Ich sitze in einem Strassenbistro, zwei Franzosen am Nebentisch sind zum Lunch auch hier. Nun kommen nach und nach zehn weitere Franzosen und Französinnen dazu. Wie oft wird geküsst, jeweils beidseitig auf die Wangen? Rechne!

Zum Schluss die Camargue-Rundfahrt. Mit dem Velo natürlich. Von Arles Richtung Süden treibt mich der Mistral. Ich erreiche bis zu 25 km/h ohne zu pedalen! Es läuft wie verrückt. Herrlich. Natürlich kommen mir Bedenken wegen der Gegenwind-Rückfahrt. Also esse ich zuerst mal ganz gemütlich in der Nähe der Rhonemündung, lege mich noch etwas im Windschatten einer Gebüschreihe ins Gras, schaue aufs Wasser hinaus und zögere die Nordfahrt hinaus. Nun denn, irgendwann muss es sein.

Also mit Kraft in die Pedalen und los. Anfänglich wirft’s mich manchmal fast vom Sattel, wenn eine Böe seitwärts einfährt, doch mit der Zeit wird es immer ruhiger, ja geradezu gemütlich: Der Mistral lässt nach. Glück gehabt.

Noch etwas zur Camargue: Die naturbelassenen Landschaftsteile sind wundervoll, Wasservögel sieht man zuhauf, vor allem auch die berühmten Camargue-Flamingos, man braucht nicht einmal ein Fern- glas. Die Salinen zur Salzgewinnung (Fleur de Sel) sind ebenfalls leicht zu sehen. - Grosse Teile der Camargue sind wohl unter Landschaftsschutz, nicht aber unter Naturschutz und werden deshalb landwirtschaftlich intensiv genutzt. Mir fallen Gemüsefelder, Obstplantagen und grosse Reisfelder auf; letztere werden mit dem Helikopter besprüht, wahrscheinlich mit irgendeinem Pflanzenschutz- mittel. Der Heli-Pilot ist so freundlich und lässt mich am Feld vorbeiradeln, bevor er 1-2 Meter über das Feld jagt und seine Agrochemikalie versprüht.

Die Radtour von Basel ans Mittelmeer ist ein Landschafts- und Kulturgenuss, der mit allen Sinnen wahrgenommen wird. Wenn auch anfänglich etwas mühsam, so entfaltet sich die Fahrt dann mehr und mehr zu einem Erlebnis für Geist und Körper, für Intellekt und Gefühl. Das mitgeführte iPad be- antwortet jeweils am Abend via Hotel-WiFi alle Fragen, die sich tagsüber stellen, und die Planung für den nächsten Tag wird mit diesem Instrument ebenfalls gut unterstützt. Klar: Das Wetter muss tro- cken und warm sein.

A.M.

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