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Zeitgeschichte und Internationale Geschichte

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Academic year: 2022

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Elisabeth Röhrlich

1. Einleitung

In seiner großen Studie zur Geschichte der Zweiten Republik hat Oliver Rathkolb vom österreichischen Solipsismus gesprochen: vom Hang zur Selbstbezogenheit.1 Lässt sich Rathkolbs Vorwurf auch auf die österreichische Zeitgeschichte übertra- gen? Oder ist die Disziplin offen für internationale Themen, Fragestellungen und Kooperationen? Diesen Fragen möchte ich in diesem kurzen Überblicksbeitrag nachgehen. Zu Beginn erläuterte ich kurz, warum die Disziplin Zeitgeschichte  – nicht nur in Österreich – traditionell vor allem auf die Geschichte des jeweils ei- genen Landes geschaut hat. In einem zweiten Schritt skizziere ich kurz die Unter- schiede zwischen den beiden historischen Teildisziplinen Internationale Geschichte und Globalgeschichte und erkläre, warum diese Unterschiede – bei allen Gemein- samkeiten – für die Zeitgeschichte relevant sind. Im Anschluss übertrage ich meine Überlegungen auf den österreichischen Forschungskontext und fasse institutionelle Entwicklungen und aktuelle Forschungstrends in groben Zügen zusammen. Ich erhebe dabei keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit. So streife ich die in diesem Zusammenhang so zentrale Rolle der Forschung zum Kalten Krieg nur am Rande, da sie ein eigenes größeres Forschungsfeld darstellt. Abschließend ziehe ich ein kurzes Fazit, in dem ich stichwortartig auf zukünftige Entwicklungsmöglichkei- ten eingehe.

2. Zeitgeschichte als Problemgeschichte der Gegenwart

Das Fach Zeitgeschichte, welches sich mit der „Vorgeschichte der Gegenwart“ be- schäftigt, hat eine viel offensichtlichere Relevanz für gesellschaftliche und politische Fragen der Gegenwart als andere historische Disziplinen.2 Für den deutschsprachi-

1 Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik: Österreich 1945 bis 2015, München 2015, 26.

2 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegen- wart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.

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gen Raum gilt das in ganz besonderem Maße. In der Bundesrepublik liegen die An- fänge der institutionalisierten Zeitgeschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

1949 wurde in München das Institut für Zeitgeschichte gegründet (anfangs noch unter anderem Namen), um den Nationalsozialismus und die Vorgeschichte der Weimarer Republik wissenschaftlich zu erschließen.3 In Österreich formierte sich das Fach Zeitgeschichte etwa zehn Jahre später. Ein erster wichtiger Fokus lag auf der Geschichte des österreichischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

Die Auseinandersetzung mit der österreichischen Geschichte war in weiten Teilen das Projekt einer „Koalitionsgeschichtsschreibung“, welche die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik untermauern wollte.4 Erst in späterer Folge gerieten das Dollfuß- Schuschnigg-Regime und der österreichische Anteil am Nationalsozialismus in die zeithistorische Perspektive. Aus den geschichtspolitischen Motivationen, welche die Anfänge der wissenschaftlichen Zeitgeschichte in Österreich und Westdeutschland begleiteten, folgte, dass sich in beiden Ländern das Fach Zeitgeschichte zunächst vor allem auf die jüngste Geschichte des jeweiligen Landes konzentrierte. Ernst Hanisch hat in diesem Zusammenhang von einer „nationalstaatlichen Verengung der Zeit- geschichte“ gesprochen.5

Noch immer widmet sich die österreichische Zeitgeschichtsforschung zu großen Teilen der Geschichte des Nationalsozialismus und der österreichischen Geschichte.

Die Innsbrucker OrganisatorInnen des Österreichischen Zeitgeschichtetags 2020 zeigen dies anschaulich in einer grafischen Wortwolke, die sie aus den Schlagwör- tern zu den für den Zeitgeschichtetag angenommenen Beiträgen erstellt haben. Die beiden Begriffe Nationalsozialismus und Österreich befinden sich in großer Schrift in der Mitte der Wortwolke.6 Josef Ehmer, der die Programme der Zeitgeschich- tetage des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts vor einigen Jahren ausgewertet hat, ist zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: Österreichische Geschichte und NS-Geschichte waren in dem von ihm untersuchten Zeitraum die prägendsten The- men.7 Andere Bereiche der Neuesten Geschichte, so Ehmers Befund weiter, wür- den dagegen von ZeithistorikerInnen vernachlässigt. Stattdessen überließen sie

3 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: His- torisches Jahrbuch 113 (1993), 98–127, 101.

4 Ernst Hanisch, Österreichische Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft, in: Ale- xander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, 54–77.

5 Hanisch, Österreichische Zeitgeschichte, 75.

6 Programm des Österreichischen Zeitgeschichtetags 2020, Universität Innsbruck, URL: https://

www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/zgt20/programm.html.de (abgerufen 15.02.2020).

7 Josef Ehmer, Sozialwissenschaftler/innen oder Zeithistoriker/innen: Wer schreibt die Geschichte des 20.  Jahrhunderts, in: Heinrich Berger/Melanie Dejnega/Regina Fritz/Alexander Prenninger

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diese den SozialwissenschaftlerInnen. Laut Ehmer habe das dazu geführt, „dass die Zeitgeschichte zu vielen aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen nichts zu sagen hat“.8

Während sich die oben beschriebene nationalstaatliche Schwerpunktsetzung der Zeitgeschichte aus der Entstehungsgeschichte des Fachs ergibt, verlagerten sich die Interessensgebiete in den letzten Jahren teilweise, trotz klarer Kontinuität bei den stärksten Forschungszweigen. Diese Entwicklung lässt sich sowohl innerhalb Öster- reichs als auch in anderen Ländern beobachten. Anstöße zu dieser Neuperspektivie- rung kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Zum einen ist die Zeitgeschichte, je näher sie mit ihren Untersuchungen an die Gegenwart rückte, zu einer „Prob- lemgeschichte der Gegenwart“ geworden, um es in Anlehnung an eine viel zitierte Überlegung Hans Günter Hockerts zu formulieren.9 Hier ist etwa das vermehrte Forschungsinteresse an der Geschichte der 1970er-Jahre zu nennen. Gesellschaftli- cher Wandel, Ölpreiskrise, die Anfänge der Umweltbewegung – all das sind Themen, welche die Genese aktueller Problemstellungen freilegen können. Zur Erfahrung der 1970er-Jahre gehörte auch die sich immer komplexer gestaltende – und im Alltag immer erfahrbarer werdende – wirtschaftliche und gesellschaftliche Globalisierung.

Ein 2010 von Niall Ferguson, Charles S. Maier, Erez Manela und Daniel J. Sargent herausgegebener Sammelband zur Geschichte der 1970er-Jahre hieß daher treffend:

„The Shock of the Global“.10

Die österreichische Zeitgeschichtsforschung hat sich zuletzt stärker gegenüber Fragen der internationalen und globalen Geschichte geöffnet. In den letzten zehn Jahren haben sich in Österreich forschende und lehrende ZeithistorikerInnen etwa zunehmend mit der außereuropäischen Geschichte und den Nord-Süd-Beziehun- gen beschäftigt. Auch die klassische Diplomatiegeschichte erfährt – methodisch er- neuert und auf Basis multiarchivalischer Recherchen – einen neuen Aufschwung.

Häufig, aber nicht immer, haben diese Forschungen gleichzeitig weiterhin einen Bezug zur österreichischen Geschichte und fragen beispielsweise nach den Bezie- hungen Chinas und Österreichs im Kalten Krieg.11 Für den Forschungsstandort Ös-

(Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien 2011, 59–72, 63.

8 Ehmer, Sozialwissenschaftler/innen oder Zeithistoriker/innen, 64.

9 Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland, 124; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael (Hg.), Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 22010, 25.

10 Niall Ferguson/Charles S. Maier/Erez Manela/Daniel J. Sargent (Hg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge (MA) 2010.

11 Maximilian Graf/Wolfgang Mueller, Austria and China, 1949–1989: A Slow Rapprochement, in:

Valeria Zanier/Marco Wyss/Janick Schaufbühl (Hg.), Europe and China in the Cold War, Leiden 2019, 19–41.

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terreich hat die zeithistorische Auseinandersetzung mit internationalen und globa- len Themen und Fragestellungen eine besondere Relevanz, die nicht völlig neu ist.

So haben sich insbesondere im Bereich der Kalte-Krieg-Forschung österreichische ZeithistorikerInnen früh – und auch außerhalb Österreichs gut sichtbar – in der In- ternationalen Geschichte positioniert. Das Interesse an diesem Thema hat sich nicht zuletzt aus der spezifischen Lage Österreichs an der Grenze zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges und der Neutralität des Landes ergeben. Als Sitz inter- nationaler Organisationen und Austragungsort wichtiger diplomatischer Kongresse ist die Geschichte der internationalen Beziehungen aber auch außerhalb des Kalte- Krieg-Kontexts für Österreich und die hiesige Forschungslandschaft nach wie vor relevant.12 So ist in den letzten Jahren auch Österreichs Rolle in den internationalen Beziehungen nach 1989/1991 verstärkt zum Gegenstand der Forschung geworden.13 Jüngere Ereignisse, wie das im Sommer 2015 in Wien abgeschlossene sogenannte Atomabkommen mit dem Iran und die Rolle der ebenfalls in Wien ansässigen In- ternational Atomic Energy Agency (IAEA) bei der Verifikation dieses Abkommens sind nur zwei Beispiele hierfür. Sich mit der Frage des Verhältnisses von Zeitge- schichte und Internationaler Geschichte in Österreich eingehender zu beschäftigen, scheint daher auf der Hand zu liegen.

3. Globalgeschichte und Internationale Geschichte

Zunächst ist eine begriffliche Differenzierung zwischen Globalgeschichte und In- ternationaler Geschichte nötig. Das ist der wissenschaftlichen Genauigkeit geschul- det, birgt aber auch eine gewisse Brisanz. Denn, soviel sei vorweggenommen, im Vergleich zur Globalgeschichte ist die Internationale Geschichte, zumindest unter diesem Label und in institutionalisierter Form, in der österreichischen Wissen- schaftslandschaft deutlich weniger sichtbar. Das bildet sich auch in der Klassifikati- onsdatenbank der Statistik Austria (ÖFOS) für die Wissenschaften ab. Wer als Wis- senschaftlerIn ihre/seine Arbeiten mit Schlagwörtern versehen will, hat die Begriffe

12 Eric Frey, Konferenzplatz Wien: Vienna as an International Conference Site, in: Günter Bischof/

Fritz Plasser/Anton Pelinka/Alexander Smith (Hg.), Global Austria. Austria’s Place in Europe and the World (Contemporary Austrian Studies 20), Innsbruck/New Orleans 2011, 147–160.

13 Günter Bischof/Ferdinand Karlhofer (Hg.), Austria’s International Position after the End of the Cold War (Contemporary Austrian Studies 22), Innsbruck/New Orleans 2013.

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Zeitgeschichte und Globalgeschichte zur Auswahl, jedoch nicht Internationale Ge- schichte.14

Wie verhalten sich Internationale Geschichte und Globalgeschichte zueinander?

Der Boom der Disziplin Globalgeschichte, die Zunahme transnationaler Perspek- tiven in der historischen Forschung und die verstärkte Analyse von Verflechtungs- und Transferprozessen haben dazu geführt, dass in den vergangenen rund 15 Jahren zahlreiche Standortbestimmungen erschienen sind, die sich mit der Frage beschäf- tigen, was denn überhaupt Globalgeschichte sei. Dabei geht es neben methodischen Aspekten um die Frage, wie sich die Globalgeschichte zu Nachbardisziplinen wie den Area Studies verhält. Es wird außerdem kontrovers diskutiert, ob es sich bei Globalgeschichte um eine Forschungsperspektive handelt, die aller historischen Forschung gemein sein sollte, oder um ein eigenes Fach, das sich genuin globalhis- torischen Forschungsgegenständen widmet.15 Ein großer Teil dieser Arbeiten geht auch auf das Verhältnis zur Internationalen Geschichte ein. Letztere konzentriert sich traditionell besonders auf staatliche Akteure sowie die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Regierungen und die Geschichte des Staatensystems. Die klassi- sche Internationale Geschichte ist daher vor allem Diplomatiegeschichte.

Viele der oben angesprochenen globalhistorischen Standortbestimmungen spre- chen sich dennoch dagegen aus, zwischen der Globalgeschichte und der Interna- tionalen Geschichte eine klare Trennlinie zu ziehen. Wie etwa der an der Harvard University lehrende Akira Iriye in seiner Arbeit über die Geschichte internationaler Organisationen anschaulich gezeigt hat, werden internationale Beziehungen nicht nur von DiplomatInnen gemacht, sondern von einer Vielzahl transnationaler Ak- teurInnen, darunter zivilgesellschaftliche Organisationen, WissenschaftlerInnen und andere ExpertInnen sowie Unternehmen.16 Kulturhistorische Fragenstellungen und Ansätze der Frauen- und Geschlechterforschung dienen nicht nur einer Mo- dernisierung der Disziplin Internationale Geschichte, sondern sind dringend nötig, will man außenpolitische Entscheidungsprozesse und internationale Beziehungen

14 Klassifikationsdatenbank, Wissenschaftszweige, Statistik Austria, URL: http://www.statistik.at/

KDBWeb/kdb_Einstieg.do?NAV=DE (abgerufen 20.02.2020).

15 Als einige Beispiele von vielen seien genannt: Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt  a.  M./New York 2007; Andrea Komlosy, Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien/Köln/Weimar 2011; Roland Wenzl- huemer, Globalgeschichte schreiben. Eine Einführung in 6 Episoden, Konstanz/München 2017;

Benedikt Stuchtey, Zeitgeschichte und vergleichende Imperiengeschichte. Voraussetzungen und Wendepunkte ihrer Beziehung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), 301–338.

16 Akira Iriye, Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Con- temporary World, Berkeley/Los Angeles 2002.

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in ihrer Vielschichtigkeit verstehen.17 Diplomatie, einst klassisches Themengebiet der Internationalen Geschichte, ist damit auch zum Gegenstand der Globalge- schichte geworden.18 In diesem Sinne argumentieren auch Barbara Haider-Wilson, William Godsey und Wolfgang Mueller in einem vom Institut für Neuzeit der Ös- terreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen großen Band zur Standortbestimmung der Internationalen Geschichte. Bereits das breitgefächerte Inhaltsverzeichnis zeigt die Vielfalt der Themen und Ansätze, die hier unter Interna- tionale Geschichte zusammengefasst werden. In ihrer Einleitung zum Band spricht sich Haider-Wilson deutlich gegen eine Trennung von Internationaler Geschichte und Globalgeschichte aus, die sie für nicht zweckdienlich hält. Sie fasst hinsichtlich transnationaler und internationaler Perspektiven pointiert zusammen: „Ergänzung und nicht Gegenkonzept lautet hier die Losung.“19

Bei anderen stößt dieses Verwischen der Grenzen zwischen Internationaler Ge- schichte und Globalgeschichte hingegen auf Widerstand. Joseph Maiolo, Professor für Internationale Geschichte am King’s College London, hat kürzlich argumentiert, dass die Grenzen zwischen den beiden Disziplinen wichtig und wieder stärker zu betonen seien. Maiolo erinnert in diesem Zusammenhang an die institutionellen Anfänge der Geschichte der internationalen Beziehungen, deren entscheidende Wurzeln er – trotz der diplomatiegeschichtlichen Vorläufer im 19. Jahrhundert – vor allem in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sieht. Geprägt von der Erfahrung des Krieges und inspiriert von der Gründung des Völkerbundes un- terstützten liberale Denker und Stiftungen die politikwissenschaftliche und histori- sche Auseinandersetzung mit den großen Fragen von Krieg und Frieden. Als Fach setzt sich die Internationale Geschichte seit diesen institutionellen Anfängen eng mit der Theorie der Internationalen Beziehungen auseinander und hat daher eine Nähe zur Politikwissenschaft. Was in Maiolos Sicht die Internationale Geschichte aber vor allem auszeichne, sei ihr Potenzial, zu einem besseren Verständnis aktueller internationaler Konflikte beitragen zu können: „what defines international history is its focus on the origins, structures, processes, and outcomes of international politics,

17 Glenda Sluga/Carolyn James (Hg.), Women, Diplomacy, and International Politics Since 1500, London/New York 2016.

18 Madeleine Herren, Diplomatie im Fokus der Globalgeschichte, in: Neue Politische Literatur 61 (2016) 3, 413–438.

19 Barbara Haider-Wilson, Humpty Dumpty, die Geschichtswissenschaft und der Pluralismus: Ein- lassung auf die historische Subdisziplin „Internationale Geschichte“, in: Barbara Haider-Wilson/

William D. Godsey/Wolfgang Mueller (Hg.), Internationale Geschichte in Theorie und Praxis/In- ternational History in Theory and Practice (Internationale Geschichte 4), 9–61.

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above all the causes of war and the conditions of peace“.20 Angesichts solcher Kritik hat der italienische Historiker Leopoldo Nuti sogar von einer Kluft zwischen Glo- balhistorikerInnen und DiplomatiehistorikerInnen gesprochen. Beide Seiten hätten unterschiedliche Vorstellungen von der Wichtigkeit staatlicher AkteurInnen (deren Bedeutung die GlobalhistorikerInnen unterschätzen würden, so Nuti). So wirft er der Globalgeschichte beispielsweise vor, dass sie Fragen der Sicherheits- und Rüs- tungspolitik vernachlässige.21

Die hier kurz angerissenen Positionen mag man als akademischen Schulenstreit abtun, in dem es in erster Linie um die Verteidigung der eigenen Forschungsinter- essen und -schwerpunkte geht, aber es steckt doch mehr dahinter. Tatsächlich war- nen auch eingeschworene GlobalhistorikerInnen wie Jürgen Osterhammel davor, diese Themen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu vernachlässigen:

„the burning issues of war, peace, and the military […] do not feature prominently enough in current global history“.22 Osterhammels große Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts, „Die Verwandlung der Welt“, enthält hingegen auch Kapitel zur Diplomatie oder den internationalen Organisationen.23 Einige LeserInnen, so Oster- hammel, hätten sich über diese Themen in einer globalhistorischen Studie gewun- dert, gelte Internationale Geschichte doch als veraltete Disziplin: „a redundant relic of an out-of-date type of historiography“.24 Auch Günter Bischof macht zu Beginn eines Themenheftes der „Contemporary Austrian Studies“ eine ähnliche Beobach- tung: „In the historical profession today diplomatic history and foreign relations are not considered sexy and fashionable topics. Many colleagues think it is a hidebound field.“25 Doch wie sieht es aktuell in Österreich mit der Bearbeitung dieser Themen aus? Ist Internationale Geschichte tatsächlich so altmodisch? Und wie verhält es sich mit der Trennung von Internationaler Geschichte und Globalgeschichte in der For- schungspraxis?

20 Joseph Anthony Maiolo, Systems and Boundaries in International History, in: The International History Review 40 (2018), 576–591, 577.

21 Leopoldo Nuti, The Making of the Nuclear Order and the Historiography of the 1970s, in: The International History Review 40 (2018), 965–974, 971.

22 Jürgen Osterhammel, Arnold Toynbee and the Problems of Today, in: Bulletin of the GHI 60/2017, 69–87, 86.

23 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.

24 Osterhammel, Arnold Toynbee, 86.

25 Günter Bischof, Preface, in: Bischof/Karlhofer (Hg.), Austria’s International Position, ix.

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4. Zeitgeschichte und Internationale Geschichte in Österreich

Die von Ehmer konstatierte, weiter oben bereits angesprochene Arbeitsteilung zwi- schen SozialwissenschaftlerInnen und ZeithistorikerInnen bei der wissenschaftli- chen Auseinandersetzung mit der gegenwartsnahen Zeitgeschichte zeigt sich bereits in der Vielzahl der Institutionen, an denen Zeitgeschichte in ihren internationalen und globalen Kontexten erforscht wird. Wer sich für österreichische Forschung zu diesen Themen interessiert, wird diese nicht an einem Ort gebündelt finden. For- schung zur internationalen Zeitgeschichte beschränkt sich auch keineswegs nur auf die Zeithistorischen Institute der österreichischen Universitäten. Um es am Wiener Beispiel, das ich am besten kenne, zu zeigen: Spannende zeithistorische Forschung, die sich mit internationalen und globalhistorischen Themen und Fragen beschäftigt, wird nicht nur am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien betrieben, son- dern beispielsweise auch am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, am Ins- titut für Osteuropäische Geschichte und am Institut für Geschichte. Auch außerhalb der Historischen Institute wird zeithistorisch geforscht: von den KollegInnen der Area Studies, der Internationalen Entwicklung oder auch der Europäischen Ethno- logie kommen wichtige Impulse.

Dagegen gibt es österreichweit an den universitären Zeithistorischen Instituten keine einzige Professur, die den Widmungsbereich Internationale Geschichte oder Geschichte der internationalen Beziehungen hat. Am nächsten kommt dem noch die Professur Oliver Rathkolbs in Wien, die sich der österreichischen Republikge- schichte im internationalen Kontext widmet.26 Unter Rolf Steininger setzte die Inns- brucker Zeitgeschichte von 1984 bis 2010 auf ein klares diplomatiegeschichtliches Profil. Steiningers Schriften umfassen Forschungsarbeiten, Einführungswerke und Synthesen zu Themen wie der Südtirolfrage, der Kubakrise, dem Kalten Krieg, dem Mittleren Osten und den amerikanisch-europäischen Beziehungen.27 Als die Uni- versität Graz Anfang 2019 die dortige Professur für Zeitgeschichte neu ausschrieb, konzipierte sie die Stelle als globale Zeitgeschichte und suchte nach BewerberInnen, die das Fach „in seiner ganzen Breite aus einer globalen Perspektive“ vertreten.28 Die

26 Maximilian Graf/Elisabeth Röhrlich, Von der Diplomatiegeschichte zur International History. Das Institut für Zeitgeschichte und die internationalen Beziehungen, in: Bertrand Perz/Ina Markova (Hg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien 1966–2016, Wien 2017, 334–354.

27 Für einen Überblick über Rolf Steiningers umfangreiches Schaffen siehe dessen Webseite, URL:

https://www.rolfsteininger.at/publikationen.html (abgerufen 27.02.2020).

28 Stellenanzeige „Professur für Zeitgeschichte“ der Universität Graz, in: Mitteilungsblatt der Karl- Franzens-Universität Graz Nr.  18 vom 13.02.2019, 244–245, URL: https://mitteilungsblatt.uni- graz.at/de/2018-19/18/pdf/ (abgerufen 30.11.2020).

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Stelle ist in der Zwischenzeit mit der Globalhistorikerin und Lateinamerikaexpertin Christiane Berth besetzt worden.

Interessanterweise forschen österreichische ZeithistorikerInnen, die sich mit der Geschichte der internationalen Beziehungen und der Diplomatiegeschichte beschäf- tigen, oft außerhalb der österreichischen Universitäten. Hier sind vor allem Michael Gehler an der Stiftung Universität Hildesheim und Günter Bischof an der University of New Orleans zu nennen, aber auch Vertreter einer jüngeren Generation, wie Ro- man Birke an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Maximilian Graf an der Karls-Universität in Prag. Auch außeruniversitäre Institute schenken der Interna- tionalen Geschichte teils größere Aufmerksamkeit als die universitären Institute, beispielsweise die Diplomatische Akademie in Wien oder das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz.

Ist diese Trennung ein Zufall oder gibt es dafür Gründe? Die Diplomatiege- schichte und die Internationale Geschichte haben, wie auch aus den weiter oben zitierten Anmerkungen von Bischof und Osterhammel hervorgeht, häufig den Ruf, methodisch altbacken und konservativ zu sein. Die Gründe für dieses Image sind fachhistorisch begründet, doch gelten sie für die meisten der aktuellen Forschungen aus diesem Bereich nicht mehr. Doch das alte Image wirkt nach und ist weniger attraktiv für die Einwerbung von Forschungsgeldern, bei denen methodische und theoretische Innovation verlangt werden. Außerdem scheint es unter HistorikerIn- nen (mit wichtigen Ausnahmen) mitunter eine gewisse Scheu zu geben, sich bei Themen zu positionieren, die eine tagespolitische Relevanz haben, sowie davor, de- zidiert policy-relevante Forschung zu betreiben. Solche Ansätze finden sich eher in den Sozialwissenschaften (wenn auch unter Beteiligung von HistorikerInnen), wie etwa dem Momentum-Kongress oder dem Österreichischen Institut für Internatio- nale Politik (ÖIIP).

Dennoch haben in den letzten Jahren internationale Fragestellungen auch an den österreichischen Zeitgeschichte-Instituten wieder vermehrt Aufmerksamkeit erfah- ren. An der Schnittstelle innenpolitischer und außenpolitischer Fragen ergeben sich hier besonders spannende Arbeiten der Zeitgeschichte, die helfen, das Fach neu zu positionieren und die Einseitigkeit der traditionellen Diplomatiegeschichte bzw. der Internationalen Geschichte zu überwinden. Ein wichtiges Forschungsfeld ist hier die Migrationsgeschichte, die spätestens seit der großen „Gastarbajteri“-Ausstellung im Wien Museum 2004 neues Interesse von ZeithistorikerInnen erfahren hat. Auch das Innsbrucker Institut für Zeitgeschichte unter Dirk Rupnow hat sich in diesem

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Bereich stark mit Forschungsprojekten positioniert.29 Das Thema Migration wird nicht nur in seinen gesellschaftlichen und sozialen Dimensionen erforscht, sondern auch in internationalen politischen Kontexten: So forscht etwa Sarah Knoll am Wie- ner Institut für Zeitgeschichte zur Rolle von NGOs und dem UNHCR beim Umgang mit Kommunismusflüchtlingen in Österreich 1956–1989/1990. Doch nicht nur beim Thema Migration rückt die Rolle internationaler Organisationen (einschließ- lich der Rolle von NGOs) aktuell vermehrt ins Forschungsinteresse. So haben Oliver Rathkolb und Petra Mayrhofer ein neues Forschungsprojekt zu internationalen „Ex- pert Clearing Houses“ in Wien konzipiert, in dem sie unter anderem die Geschichte des IIASA, des International Institute for Applied Systems Analysis, untersuchen.

Im Kalten Krieg war das Institut ein wichtiger Begegnungsplatz von ExpertInnen aus Ost und West. Es ist daher ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand, um internationale und transnationale Entwicklungen zusammenhängend zu analy- sieren.30 Meine eigenen Forschungen konzentrieren sich seit knapp zehn Jahren auf die Geschichte der größten und ältesten internationalen Organisation in Österreich, der IAEA. Als internationale Organisation ist die IAEA ein Schauplatz internationa- ler zwischenstaatlicher Diplomatie, aber zugleich ein wichtiges Forum, in dem sich ExpertInnen unterschiedlicher Länder austauschen und zivilgesellschaftliche Orga- nisationen Einfluss auf die Organisation und ihre Agenda erlangen.31 Auch die For- schungen Eva-Maria Muschiks am Wiener Institut für Internationale Entwicklung stärken das Wiener Profil in der Erforschung der Geschichte internationaler Orga- nisationen.32 Das ist für Wien als UN-Sitz ein besonders attraktives und relevantes Forschungsfeld. Einige dieser Arbeiten stehen dabei auch in einem Zusammenhang mit Fragestellungen, wie sie an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät

29 Ausstellungskatalog: Hakan Gürses/Cornelia Kogoj/Silvia Matti (Hg.), Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration, Wien 2004; FWF-Projekt P-24468-G18: „Deprovincializing Austrian Contem- porary History (MIGRANATION)“, Projektleitung: Dirk Rupnow (2012–2017).

30 FWF-Projekt P-32959: „Ideentransfers durch ‚Expert Clearing Houses‘ in Wien“, Projektleitung:

Oliver Rathkolb (2020–2022).

31 IAEA History Research Project, Projektleitung: Elisabeth Röhrlich (laufend), URL: https://iaea- history.univie.ac.at (abgerufen 27.02.2020).

32 Roman Birke, Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren (Schriftenreihe Menschenrechte im 20. Jahrhundert 5), Göttingen 2020;

Eva-Maria Muschik, Managing the World: The United Nations, Decolonization and the Strange Triumph of State Sovereignty in the 1950s and 1960s, in: Journal of Global History 12 (2018), 122–144.

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der Universität Wien epochen- und raumübergreifend unter dem Titel „Geschichte der Demokratie und der Menschenrechte“ erforscht werden.33

Auffallend ist ferner die wachsende Zahl von Forschungsarbeiten, welche die Untersuchung der Nachkriegsgeschichte und des Kalten Krieges aus der lange do- minierenden Fokussierung auf die Ost-West-Dichotomie lösen und mehr in Nord- Süd- und Süd-Süd-Perspektiven verankern möchten. In diesem Zusammenhang sind etwa Kerstin von Lingens Arbeiten zur internationalen Gerichtsbarkeit und den Kriegsverbrechertribunalen in Asien anzuführen.34 Eine Fülle von Einzelstu- dien trägt zum Wachstum einer solchen methodisch und perspektivisch erneuerten Internationalen Geschichte bei. Zu nennen sind etwa Berthold Unfrieds Arbeiten zur Rolle von Entwicklungshilfeexperten im Kalten Krieg,35 die Forschung Lu- cile Dreidemys zu westdeutschen und amerikanischen Stiftungen in der Entwick- lungshilfepolitik während des Kalten Krieges und die Arbeiten Eric Burtons zu den Ost-Süd-Beziehungen im Kalten Krieg, mit einer Schwerpunktsetzung in der afri- kanischen Geschichte. Diese Tendenz zur Erneuerung der Kalte-Krieg-Forschung in einem globalen Kontext – inspiriert durch die bahnbrechenden Arbeiten Odd Arne Westads36 – zeigt sich auch in den aktuell von Lucile Dreidemy und Katharina Kreuder-Sonnen initiierten Bemühungen, in Wien ein über die Institutsgrenzen hi- nausgehendes Kooperationsprojekt zu New Cold War Studies zu etablieren. Explizit geht es dabei darum, Nord-Süd- und Süd-Süd-Beziehungen verstärkte Aufmerk- samkeit zu schenken.

Während das Bewusstsein für die Relevanz außereuropäischer Perspektiven zu- nimmt, scheint die zeithistorische Forschung zur Geschichte der europäischen Inte- gration, wenn freilich auch mit wichtigen Ausnahmen – insbesondere den Arbeiten Michael Gehlers – in den letzten Jahren zurückgegangen zu sein, zumindest was

33 Siehe die Webseite der Forschungsgruppe Demokratie und Menschenrechte an der Historisch- Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, URL: https://menschenrechte-demokra- tie.univie.ac.at (abgerufen 27.02.2020).

34 Kerstin von Lingen (Hg.), War Crimes Trials in the Wake of Decolonization and Cold War in Asia, 1945–1956: Justice in Time of Turmoil, Basingstoke 2016; dies. (Hg.), War Crimes Trials in Asia: Debating Collaboration and complicity in the aftermath of War, Basingstoke 2017; dies. (Hg.), Transcultural Justice: The Tokyo Tribunal and the Allied Struggle for Justice, 1946–1948, Leiden 2018.

35 FWF-Projekt P-25949: „Entwicklungsexpert/inn/en in der Zeit der ‚West-Ost‘ Systemkonkurrenz“, Projektleitung: Berthold Unfried (2013–2017).

36 Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of our Times, Cambridge 2005; Odd Arne Westad, The Cold War: A World History, London 2017.

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die Geschichte Westeuropas betrifft.37 Dies ist angesichts aktueller Ereignisse wie dem Brexit und dem sich stark wandelnden transatlantischen Verhältnis bedauer- lich, wäre die zeithistorische Perspektivierung doch höchst relevant. Ein aus einer Ringvorlesung des Masters Global Studies an der Universität Graz hervorgegange- ner Sammelband hat sich jüngst den Perspektiven auf die österreichische, europäi- sche und internationale Geschichte gewidmet.38 In Wien haben Claudia Kraft und Philipp Ther zuletzt durch die Einrichtung neuer Forschungsplattformen und For- schungszentren die Forschung zu Transformationsprozessen in der osteuropäischen Geschichte gestärkt.

Je mehr sich in Österreich forschende und lehrende ZeithistorikerInnen aber mit Themen wie den oben angesprochenen beschäftigen und sich von der Fokussierung auf Österreich lösen, umso mehr müssen sie sich fragen, in welcher Sprache die Er- gebnisse dieser Forschung publiziert werden und in welcher Sprache diese Art von Geschichte gelehrt werden sollte. Beides findet in erster Linie noch auf Deutsch statt.

Das hat wichtige Gründe, von der Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen für eine breite Öffentlichkeit in Österreich bis hin zur so wichtigen Ausbildung der Ge- schichtsstudierenden im Lehramt. Vor allem auf Masterebene wird Österreich aber auch für Studierende aus dem Ausland immer attraktiver, was sich beispielsweise im Erfolg des englischsprachigen Erasmus-Mundus-Programms „Global Studies: A Eu- ropean Perspective“ an der Universität Wien zeigt. Wissenschaftliche Publikationen zur internationalen Geschichte richten sich nicht mehr primär an österreichische (oder andere deutschsprachige) HistorikerInnen, sondern an ein internationales Fachpublikum.

Um die Besetzung zeithistorischer Professuren in Österreich gab es zuletzt immer wieder auch öffentlich geführte Diskussionen, die sich an der Frage entzündeten, ob zu viele deutsche WissenschaftlerInnen berufen würden. Die Debatte konzentrierte sich Anfang 2017 auf die letztlich gescheiterte Besetzung der Grazer Zeitgeschichte- Professur (die Stelle wurde 2019 neu ausgeschrieben, siehe oben).39 Ein Argument

37 Zum umfangreichen Werk Michael Gehlers siehe dessen Webseite, URL: http://www.gehler.at/in- dex.php?id=4000 (abgerufen 28.02.2020).

38 Walter M. Iber/Peter Teibenbacher (Hg.), Österreich, Europa und die Welt. Internationale Be- ziehungen im 20. und 21. Jahrhundert (Wissenschaft kompakt: Wirtschaft, Gesellschaft, Politik.

Schriften des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der Karl-Fran- zens-Universität Graz 1), Münster 2019.

39 Tanja Malle, Mehr Deutsche, weniger österreichische Zeitgeschichte?, ORF online, URL: https://

science.orf.at/v2/stories/2825061/ (abgerufen 15.02.2020); Barbara Mader, Neue deutsche Welle?

Die Germanisierung der österreichischen Universitäten, Kurier online, URL: https://kurier.at/

politik/ausland/die-germanisierung-der-oesterreichischen-universitaeten/400748118 (abgerufen 20.02.2020).

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in der Debatte lautete, dass es wichtig sei, das Zeitgeschichte-ProfessorInnen in Österreich auch österreichische Zeitgeschichte unterrichten und diese aus ihrer ei- genen Forschungspraxis gut kennen. Dies sei vor allem für die Lehrerausbildung wichtig. Es gibt berechtige Gründe für und gegen diese Position, aber es ist zumin- dest auffällig, dass nicht mit einer gleichen Selbstverständlichkeit danach verlangt wird, dass Zeitgeschichte-ProfessorInnen in Österreich europäische Geschichte und internationale Geschichte lehren. Es scheint, als habe in der österreichischen Zeit- geschichtsforschung die österreichische Geschichte noch immer Priorität vor der internationalen Geschichte.

5. Ausblick

Wie österreichspezifisch sollte Zeitgeschichte in Österreich sein? In ihren institu- tionellen Anfängen interessierte sich die österreichische Zeitgeschichte vor allem für österreichische Themen und Fragestellungen. Diese nationale Fokussierung –

„Verengung“, wie Hanisch es nennt – ergab sich aus der Entstehungsgeschichte des Faches und dem damit zusammenhängenden geschichtspolitischen Anspruch. Sie wurde lange kaum hinterfragt. Gleichwohl erklärte Erika Weinzierl bereits 1973 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „zeitgeschichte“, dass es die Aufgabe des neuen Fachorgans sei, auch „immer wieder über die Grenzen Österreichs und Europas hinauszublicken“.40 Dies war eine wichtige und zukunftsweisende Aufgabenstellung, deren Formulierung jedoch gleichzeitig zu erkennen gab, dass das Hauptinteresse nach wie vor der spezifisch österreichischen Zeitgeschichte galt.

In den letzten Jahren hat sich Weinzierls Anspruch jedoch mehr und mehr erfüllt.

Angeregt nicht zuletzt durch den Aufschwung der Globalgeschichte befindet sich auch das Fach Zeitgeschichte aktuell in einer Umbruchphase, in welcher die Bear- beitung nichtösterreichischer Themen immer selbstverständlicher wird. Das ändert nichts daran, dass die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ho- locaust auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe der österreichischen Zeitgeschichte bleiben muss. Das hängt mit der gesellschaftlichen Bedeutung zeithistorischer For- schung zusammen, die sich beispielsweise in der Ausbildung zukünftiger LehrerIn- nen manifestiert. Die Zeitgeschichtsforschung in Österreich kann und muss hier eine Balance finden zwischen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit öster- reichspezifischen Themen und internationalen Entwicklungen und Fragestellungen.

40 Erika Weinzierl, Zeitgeschichte – Programm einer Zeitschrift, in: zeitgeschichte 1 (1973) 1, 3.

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Um es in Anlehnung an Barbara Haider-Wilson zu formulieren: Auch hier sollte Ergänzung und nicht Gegenkonzept die Losung sein.

Das Einnehmen internationaler Perspektiven hat aber nicht nur Konsequenzen für die behandelten Themen, sondern wirkt sich auch auf andere Aspekte histo- rischer Arbeit aus, etwa auf die Auswahl der Zeitschriften und Verlage, in denen Forschungsergebnisse veröffentlicht werden; auf die Entscheidung, ob diese auf Deutsch oder Englisch publiziert werden; auf die Frage, mit welchen Kooperati- onspartnerInnen Projekte durchgeführt und in welchen Ländern Archivrecherchen unternommen werden. Während nach wie vor ein großer Teil der österreichischen Zeitgeschichtsforschung mit internationalen oder globalgeschichtlichen Perspekti- ven zugleich einen thematischen Bezug zu Österreich aufweist (was angesichts der Nähe zu österreichischen Archiven und zeithistorischen Sammlungen auch durch- aus sinnvoll ist), werden sich die behandelten Themenfelder in den nächsten Jahren vermutlich noch vielfältiger gestalten und ein Österreichbezug nicht immer selbst- verständlich sein – auch deshalb, weil es immer üblicher wird, dass ZeithistorikerIn- nen aus anderen Ländern in Österreich forschen und lehren.

Etwas Weiteres kommt hinzu: Angesichts der von Ehmer angesprochenen Ar- beitsteilung zwischen SozialwissenschaftlerInnen und ZeithistorikerInnen liegt es nahe, vermehrt interdisziplinäre Herangehensweisen zu wählen. Doch während in wissenschaftsstrategischen Planungen oft die Förderung von Interdisziplinarität in den Vordergrund gerückt wird, werden interdisziplinär konzipierte Projekte in der Praxis mitunter bestraft: Eingereichte Drittmittelprojekte haben es teilweise – so scheint es zumindest – schwerer, in Begutachtungsprozessen positiv evaluiert zu werden. Für jüngere WissenschaftlerInnen, die sich früh auf interdisziplinäre For- schungen einlassen, kann die Karriereplanung noch unvorhersehbarer werden als ohnehin schon.

Neben der Forschung sollte eine methodisch und theoretisch erweiterte Ge- schichte der internationalen Beziehungen auch in der akademischen Lehre größere Aufmerksamkeit erhalten. Denn erstaunlicherweise finden sich in den Vorlesungs- verzeichnissen trotz der jüngeren Studienprogramme im Bereich der Global Stu- dies verhältnismäßig wenig Lehrveranstaltungen zur Geschichte der Außenpolitik, der Geschichte militärischer Konflikte im 20. und 21. Jahrhundert sowie der Ge- schichte internationaler Organisationen oder internationaler Sicherheitspolitik. Ein verstärktes Lehrangebot in diesen Feldern wäre nicht nur aufgrund des Anspruchs auf thematische Breite wichtig, sondern auch, um methodische und theoretische Herausforderungen kritisch zu reflektieren, beispielsweise folgende: Wie sollten HistorikerInnen mit WikiLeaks umgehen? Wie können international angelegte For- schungsprojekte organisatorisch bewältigt werden (Stichwort: Archivrecherchen

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in unterschiedlichen Ländern)? Wie verhält sich die Zeitgeschichte zu den Politik- wissenschaften? Und: Ist es die Aufgabe von ZeithistorikerInnen, „policy advice“

zu geben (und in welchen Formen kann dies geschehen?). Eine Vielzahl aktueller Forschungsprojekte, von denen ich hier nur einige wenige nennen konnte, zeigen eine zunehmende Pluralisierung des Fachs Zeitgeschichte in Österreich, die auch zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit Themen und Fragen der Internationalen Geschichte geführt hat. Für den Forschungsstandort Österreich wäre die Weiterent- wicklung dieser Initiativen ein großer Gewinn.

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