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Einleitung. A. Allgemeines

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Einleitung

A. Allgemeines

Seit dem Jahr 1999 sind in den Rechtssachen Centros Ltd.1, Überseering B. V.2 und Inspire Art Ltd.3 im Abstand von ungefähr jeweils zwei Jahren drei Grund- satzurteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften im europäischen Binnenraum ergangen. Noch nie zuvor hat es innerhalb des deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttums derart zahlrei- che wie kontroverse Reaktionen auf Entscheidungen des EuGH gegeben. In Bezug auf die drei oben genannten Urteile ist nicht selten von drei „Hammer- schlägen“4 die Rede, die zum einen die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaf- ten im europäischen Binnenraum gestärkt, zum anderen jedoch das so wohl ge- ordnet scheinende System des deutschen GmbH-rechtlichen Gläubigerschutzes ins Wanken gebracht haben sollen.

Mit dem o. g. Entscheidungstrias hat der EuGH gleichsam den Startschuss zu einem europäischen „Wettlauf der Gesellschaftsformen“5 gegeben, die fortan um die attraktivsten Rahmenbedingungen für Existenzgründer konkurrierten. Als größte Nutznießerin dieser Rechtsentwicklung ist zweifelsohne die Rechtsform der englischen private company limited by shares (Ltd.) anzusehen, die sich zwischenzeitlich auch im deutschen Rechtsraum immer größerer Beliebtheit erfreut.

Die Ltd. kann als Äquivalent zur deutschen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) angesehen werden, die mit bundesweit aktuell ca. 900.000 registrierten Gesellschaften die mit Abstand verbreitetste deutsche Kapitalgesell- schaftsform darstellt und daher als das „Rückgrat des deutschen Mittelstandes“

bezeichnet werden kann. Die plötzliche Beliebtheit der englischen Ltd. lässt sich in erster Linie darauf zurückführen, dass sie ihren Gesellschaftern eine Haf-

1 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, GmbHR 1999, 474 ff; EuGH Slg. 1999, I-1459 – Centros.

2 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00, GmbHR 2002, 1137 ff; EuGH Slg. 2002, S. I-9919 ff. – Überseering.

3 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, GmbHR 2003, 1260 ff; EuGH Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art.

4 Ulmer in: KTS 2004, 291 (291).

5 Vgl. Eidenmüller/Rehm in: ZGR 2004, 159 (159).

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tungsbeschränkung auf das Gesellschaftskapital bietet, ohne die für die Rechts- form der GmbH typische Erbringung eines Mindestkapitals zu fordern6. Vor diesem Hintergrund wäre es theoretisch sogar denkbar, das Kapital einer Ltd. nur mit einem Penny zu beziffern. In der Praxis beträgt das anfängliche Kapital einer Ltd. zumeist 100 britische Pfund (GBP).

Das fehlende Mindestkapitalerfordernis verbunden mit der mangelnden Be- reitschaft vieler Gesellschafter, ihre Gesellschaft freiwillig mit dem zur Auf- rechterhaltung eines geordneten Geschäftsbetriebes notwendigen Kapital auszu- statten, hatte alsbald eine Welle von (häufig masselosen) Insolvenzverfahren über das Vermögen in Deutschland domizilierender Ltds. zur Folge. Während die Zahl der GmbH-Insolvenzen im April 2009 im Vergleich zum Vorjahresmo- nat „lediglich“ um 17,5% gestiegen ist, verzeichnete die Ltd. innerhalb des iden- tischen Zeitraums einen prozentualen Zuwachs von 72,3%7. In der öffentlichen Wahrnehmung haftete der Rechtsform der englischen Ltd. daher rasch das Etikett einer Gesellschaftsform für „Pleitiers und halbseidene Gründer“8 an. Aber auch das rechtswissenschaftliche Schrifttum und die deutsche Rechtsprechung bemüh- ten sich nach Kräften, die „klassischen Gläubigerschutzinstrumente“ des deut- schen GmbH-Rechts wie z. B. das Eigenkapitalerhaltungs- bzw. ersatzrecht oder die Insolvenzverschleppungshaftung auf zugezogene Ltds. fruchtbar zu machen.

Schließlich sah sich auch der deutsche Gesetzgeber in der Pflicht und hat in Form des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) ein umfangreiches Reformgesetz auf den Weg gebracht, das einerseits die Intention verfolgt, die Attraktivität der Rechtsform der GmbH zu erhöhen, sie andererseits aber auch effektiver vor Missbräuchen zu schützen9.

Im Rahmen dieser Gesetzesreform haben zwei „alteingesessene“ Gläubiger- schutzinstrumente, die Insolvenzverwaltern traditionell zur Wiedererlangung abhandengekommener Verteilungsmasse dienen, teilweise weitreichende Ände- rungen erfahren. Hierbei handelt es sich auf der einen Seite um die Insolvenzver- schleppungshaftung gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 64 Abs. 1 GmbHG a.F, bzw. das sog. Zahlungsverbot i.S.d. § 64 Abs. 2 GmbHG a.F., sowie auf der anderen Seite um das Eigenkapitalersatzrecht gem. §§ 32a, 32b GmbHG a.F.

Die nachfolgende Untersuchung stellt daher einen Vergleich der jeweiligen Konzeptionen der vorgenannten Gläubigerschutzinstrumente vor und nach ihrer Neufassung durch das MoMiG an, und arbeitet in diesem Zusammenhang zu-

6 Just, Die englische Limited in der Praxis, S. 56 Rn. 211.

7 Niemeier in: Status:Recht 2009, 165 (165).

8 Scheytt in: Brand Eins 2004, S. 138 ff.

9 Vgl. Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, S. 3 Rn. 5.

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nächst die jeweiligen Konsequenzen für den Gläubigerschutzstandard im Allge- meinen heraus. In einem zweiten Schritt wird zudem erörtert, inwieweit der Reformgesetzgeber sein ausgegebenes Ziel, vorgenannte Instrumente auf im Inland domizilierende Ltds. anwendbar zu machen, erreicht hat.

B. Gang der Darstellung

Im Rahmen des ersten Kapitels dieser Arbeit wird daher zunächst die Rechtspre- chungslinie des EuGH nachgezeichnet, die einen identitätswahrenden Zuzug ausländischer Kapitalgesellschaften in das Gebiet der Bundesrepublik Deutsch- land überhaupt erst ermöglicht hat.

Im Anschluss daran, rückt die Europäische Insolvenzverordnung (EuInsVO) in den Fokus der Betrachtung. Ihr kommt insbesondere entscheidende Bedeutung hinsichtlich der Beantwortung der Frage zu, welche nationalen Rechtsnormen in einem deutschen Insolvenzverfahren über das Vermögen einer ausländischen Kapitalgesellschaft zur Anwendung gelangen.

Das dritte Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten Kern- punkte des MoMiG-Reformgesetzes und bietet gleichzeitig einen rechtsverglei- chenden Seitenblick auf die Gesellschaftsrechtsreform innerhalb des englischen Rechtsraumes, die sich in Form des Companies Act 2006 (CA 2006) zeitlich weitestgehend parallel vollzogen hat.

Im Rahmen der drei darauf folgenden Kapitel werden jeweils die als primäre Untersuchungsgegenstände ausgewählten Gläubigerschutzinstrumente der Insol- venzverschleppungshaftung, bzw. des Zahlungsverbots sowie des Eigenkapita- lersatzrechts einer eingehenden Betrachtung unterzogen und die mit Inkrafttreten des MoMiG vollzogenen Änderungen herausgearbeitet. Die abschließende Be- wertung der jeweiligen Neuregelungen erfolgt dabei stets auf zwei verschiedenen Ebenen. Zunächst werden die Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelungen jeweils in ihrem nationalen Kontext bewertet („nationale Dimension“). In einem zweiten Schritt werden die novellierten Tatbestände auf ihre „internationale Dimension“ hin untersucht. Hinter dem Begriff der „internationalen Dimension“

verbirgt sich nach der hier vertretenen Leseart dabei die Intention des Reformge- setzgebers, die novellierten Gläubigerschutzinstrumente auch im Rahmen eines deutschen Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer im Inland domizilie- renden ausländischen Kapitalgesellschaft zur Anwendung gelangen zu lassen. Im Hinblick auf ihre praktische Relevanz innerhalb des deutschen Rechtsraumes wird in diesem Zusammenhang jeweils die englische Ltd. als Untersuchungsge- genstand herangezogen. Diese drei Kapitel bilden den inhaltlichen Schwerpunkt

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der nachfolgenden Untersuchung, die sodann mit einer abschließenden Gesamt- betrachtung ihr Ende findet.

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1. Kapitel: Grenzüberschreitende Sitzverlegung im europäischen Binnenraum

In einem ersten Schritt soll zunächst die Rechtsprechungslinie des EuGH ausge- hend von der Rechtssache Centros Ltd. über die Entscheidung in Sachen Über- seering B. V. bis zur Rechtssache Inspire Art Ltd. und ihre Auswirkung auf das deutsche internationale Gesellschaftsrecht nachgezeichnet werden.

A. Situation des deutschen internationalen Gesellschaftsrechts vor der jüngeren Rechtsprechung des EuGH

In diesem Zusammenhang ist jedoch zunächst das Augenmerk auf die Situation des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts vor den jüngeren Entscheidun- gen des EuGH zu lenken, um die rechtliche Dimension des Entscheidungstrias vollumfänglich würdigen zu können.

I. Der Gegenstand des Internationalen Gesellschaftsrechts

Das Internationale Gesellschaftsrecht findet seinen Ursprung im allgemeinen Internationalen Privatrecht10. Um den exakten Regelungsbereich des Internatio- nalen Gesellschaftsrechts zu bestimmen, empfiehlt es sich daher, zunächst den Inhalt des allgemeinen Internationalen Privatrechts in gebotener Kürze zu umrei- ßen.

Das Internationale Privatrecht im engeren, technischen Sinne (sog. Kolli- sionsrecht) enthält die Regeln, nach denen zu entscheiden ist, welchen Staates Privatrecht auf bestimmte als privatrechtlich einzustufende Rechtsverhältnisse anzuwenden ist11. Es regelt die auslandsbezogenen Sachverhalte jedoch nicht unmittelbar, sondern dadurch, dass es auf eine der insoweit berührten Rechtsord- nungen verweist12. Anders ausgedrückt umgrenzt das Internationale Privatrecht den Anwendungsbereich der einzelnen Rechtsordnungen, und zwar sowohl der

10 Assmann in: Großkomm. AktG, Einl. Rn. 519; K. Schmidt, GesR, § 1 II.

11 Behrens in: Hachenburg, GmbHG, Einl. Rn. 106.

12 Kropholler, IPR, S. 1.

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inländischen wie der fremden, soweit diese im Inland zur Anwendung gelan- gen13.

Dies vorausgeschickt, erhält auch die Regelungsmaterie des Internationalen Gesellschaftsrechts klarere Konturen. In Anlehnung an die Funktion des Inter- nationalen Privatrechts befasst sich das Internationale Gesellschaftsrecht in Sachverhalten mit Auslandsberührung folglich mit der Frage, welchem nationa- len Recht die jeweilige Gesellschaft und die mitgliedschaftlichen Beziehungen ihrer Gesellschafter unterliegen14. Es liefert also – im Sinne eines Gesellschafts- kollisionsrechts – die Anknüpfungspunkte, anhand derer sich ihr Gesellschafts- statut (sog. lex societatis) bestimmt15. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Beantwortung der Frage, nach welcher Rechtsordnung sich die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft, ihre Liquidation, ihre Insolvenz oder die Haftung ihrer Ge- schäftsführer oder Gesellschafter richtet16.

Im Mittelpunkt der Diskussion auf dem Gebiet des Internationalen Gesell- schaftsrechts steht mithin die Kernfrage, wie das auf Gesellschaften anzuwen- dende Recht, das sog. Gesellschaftsstatut, zu ermitteln ist.

Da der deutsche Gesetzgeber, anders als beispielsweise in Österreich oder in der Schweiz17, die Grundlagen des Internationalen Gesellschaftsrechts nicht gesetzlich geregelt hat18, haben Rechtsprechung und Literatur im Wesentlichen zwei Theorien für die Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts entwickelt.

II. Zwei Wege zur Ermittlung des anwendbaren Rechts:

Gründungs- contra Sitztheorie

Ohne Gefahr zu laufen, den Vorwurf der Unvollständigkeit zu begründen19, lässt sich feststellen, dass zum aktuellen Zeitpunkt zwei sich diametral gegenüber-

13 Kropholler, IPR, S. 1.

14 Assmann in: Großkomm. AktG, Einl. Rn. 532; Behrens in: Hachenburg, GmbHG, Einl.

Rn. 106; K. Schmidt, GesR, § 1 II; Hueck/ Windbichler, GesR, § 1 Rn. 18.

15 Kindler in: MüKo, IntGesR, Einl. Rn. 1; Paefgen in: Westermann, Handbuch der PersG., I. Rz. 4101.

16 Jasper/ Wollbrink in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, § 75 Rn. 1.

17 Für die Kodifikation im schweizerischen Internationalen Gesellschaftsrecht vgl. Art. 154 Abs. 1 CH-IPRG der formuliert: „Gesellschaften unterstehen dem Recht des Staates, nach dessen Vorschriften sie organisiert sind.“

18 Großfeld in: Staudinger, Kommentar zum Int. GesR. Rn 4.

19 An dieser Stelle noch sei ergänzend noch die sog. Kontrolltheorie erwähnt, die zur Bestim- mung des anwendbaren Rechts statt auf die Gesellschaft auf die hinter der Gesellschaft ste- henden natürlichen Personen abstellt.

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stehende Grundpositionen hinsichtlich der Beantwortung dieser Kernfrage des Internationalen Gesellschaftsrechts miteinander konkurrieren.

1.) Gründungstheorie

Auf der einen Seite steht die sog. Gründungs- oder auch Inkorporationstheorie.

Die Gründungstheorie unterwirft eine Gesellschaft der Rechtsordnung, nach welcher sie gegründet worden ist, gleichgültig in welchem Staat sie domiziliert20. Sie knüpft das Gesellschaftsstatut insofern an den Willen der Gründer an, als es deren Entscheidung überlassen wird, nach welchem Recht eine Gesellschaft

„entstehen und leben“21 soll.

Die Gründungstheorie geht historisch auf die Wirtschaftsinteressen des kapi- talexportierenden Englands im 18. Jahrhundert zurück22. Sie ermöglichte es, die Gesellschaft im vertrauten Rechtskreis zu gründen und dann den Sitz in die Ko- lonien zu verlegen, ohne dass etwaige Zweifel an der Rechtsfähigkeit dieser Gesellschaft im Ausland geltend gemacht werden konnten23. Auf diese Art und Weise half die Gründungstheorie England in seiner Stellung als Kolonialmacht, den in England gegründeten Gesellschaften einen effektiven Schutz für deren überseeische Wirtschaftsaktivitäten zu gewähren24. So verwundert es nicht, dass die Gründungstheorie auch zum heutigen Zeitpunkt vorwiegend im anglo- amerikanischen Rechtskreis vorherrscht. Ihr wird jedoch auch in einigen konti- nental-europäischen Staaten wie beispielsweise in der Schweiz, den Nieder- landen und Dänemark gefolgt.

Hauptargument der Befürworter der Gründungstheorie ist, dass sie ein proba- tes und einheitlich anwendbares Kriterium für eine zweifelsfreie Ermittlung des Gesellschaftsstatuts anbietet, da das Land der Inkorporation durch die Grün- dungsdokumente leicht feststellbar ist25. Ferner diene es der Rechtssicherheit, wenn bei Erfüllung der Normativbestimmungen des Gründungsstaates die Ge- sellschaft rechtsfähig sei, unabhängig davon, ob sie ihren effektiven Verwal- tungssitz im Inkoporationsstaat habe und/oder beibehalte26.

Kritiker der Gründungstheorie mahnen hingegen, eine volle Ausschöpfung der durch die Gründungstheorie eröffneten Möglichkeiten könne dazu führen,

20 Behrens in: Hachenburg, GmbHG, Einl. Rn. 125.

21 Behrens in: Hachenburg, GmbHG, Einl. Rn. 125.

22 Bechtel, S. 9.

23 Kindler in: MüKo, IntGesR, Einl. Rn. 8.

24 Kindler in: MüKo, IntGesR, Einl. Rn. 8.

25 Kindler in Müko, IntGesR, Rn. 341.

26 Kindler in Müko, IntGesR, Rn. 341.

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dass die Gründer einer juristischen Person bewusst eine Rechtsordnung wählen, in deren Rahmen der Schutz nationaler und individueller Interessen deutlich schwächer ausgeprägt ist als in der Rechtsordnung des Staates, in dem sie ihre wesentlichen Aktivitäten entfaltet27.

2.) Sitztheorie

Den Gegenpol zur Gründungstheorie bildet die Sitztheorie. Die Sitztheorie un- terstellt die Gesellschaft derjenigen Rechtsordnung, die am Ort ihres tatsäch- lichen Verwaltungssitzes gilt28. Dieser ist nach der in ständiger Rechtsprechung gebrauchten Formel an dem Ort belegen, an dem die grundlegenden Entschei- dungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden29. Das so ermittelte Gesellschaftsstatut regelt einheitlich die gesellschaftsrechtlichen Beziehungen vom Beginn bis zum Ende der Gesell- schaft. Es bestimmt, unter welchen Voraussetzungen die Gesellschaft „entsteht, lebt und vergeht“30.

Nach dem Leitgedanken der Sitztheorie soll stets das Recht des Staates zur Anwendung kommen, der durch die werbende Geschäftstätigkeit der Gesell- schaft am meisten „betroffen“ ist. „Betroffenheit“ meint in diesem Zusammen- hang, dass im Regelfall mehr Direktoren, leitende Angestellte, Begünstigte, Anteilseigner und Gläubiger im Sitzstaat leben werden als in irgendeinem ande- ren Staat31. Dabei steht vor allem das Anliegen im Zentrum, die Kontroll- und Schutzinteressen eines Staates für die dort ansässigen Gläubiger und andere Dritte durchzusetzen32. Die Sitztheorie ist folglich in erster Linie eine „Schutz- theorie“, die das Recht des eigenen Staates bei territorial eng mit seinem Staats- gebiet verbundenen Gesellschaften durchsetzen soll, um so eine Umgehung wichtiger gesellschafts- und ordnungspolitischer Wertentscheidungen durch Wahl eines laxeren Gesellschaftsstatuts zu vermeiden33. Sie verschafft dem am meisten betroffenen Staat mithin eine Art „Wächteramt“34 darüber, welche Ge- sellschaftsformen in seinem Hoheitsbereich zugelassen sind.

27 Kindler in Müko, IntGesR, Rn. 348.

28 Kindler in: MüKo, IntGesR, Einl. Rn. 5.

29 BGHZ 97, 269 (272).

30 BGH NJW 1957, 1433 ff.

31 Kindler in: MüKo, Int. GesR., Rn. 401.

32 Großerichter in: DStR 2003, 159 (159).

33 Leible in: Michalski, GmbHG, Syst. Darst. 2, Rn. 5.

34 Leible in: Michalski, GmbHG, Syst. Darst. 2, Rn. 5.

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Diese Vermeidung etwaiger Schutzdefizite stellt zugleich das zentrale Argu- ment der Befürworter der Sitztheorie dar. Für die Kritiker der Sitztheorie liegt deren Hauptproblem in der Definition sachgerechter Kriterien für die inhaltliche Ausfüllung des Sitzbegriffes und in seiner konkreten Bestimmung35. Ferner sa- hen es die Gegner der Sitztheorie bereits vor der jüngeren Rechtssprechung des EuGH als problematisch an, dass sie – in einer Zeit der Öffnung der Märkte über die nationalen Grenzen hinweg – die Sitzverlegung einer Gesellschaft von einem Staat in den anderen verhinderte oder zumindest wesentlich erschwerte36.

Vertreter der Sitztheorie finden sich zumeist in den Staaten Kontinentaleuro- pas, so auch unter anderem in Frankreich, Luxemburg, Portugal, Belgien und Spanien.

III. Die Sitztheorie als Fundament des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts

In der Bundesrepublik Deutschland bildete seit dem neunzehnten Jahrhundert die Sitztheorie das Fundament des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts37. Nicht nur die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung bekannte sich eindeu- tig und konstant zur Anwendung der Sitztheorie38, auch der überwiegende Teil des Schrifttums bescheinigte ihre Gültigkeit39.

Als Hauptbeweggrund für das deutsche Festhalten an der Sitztheorie ist in diesem Zusammenhang die Furcht vor der Umgehung der im GmbH-Gesetz normierten Gläubigerschutzvorschriften sowie der betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat40 durch zuziehende ausländische Kapitalge- sellschaften zu nennen.

35 Großfeld in: Staudinger, Kommentar zum Int. GesR. Rn 46.

36 Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, § 58 Rn. 10.

37 v. Bar, Int. GesR., Band II, § 5 Rn. 619; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, § 58 Rn. 3.

38 Vgl. BGHZ 25,134 (144); BGHZ 51, 27 (28); BGHZ 53, 181 (183); BGHZ 78, 318 (334), BGHZ 97, 269 (271).

39 Vgl. Kindler in: MüKo, Int. GesR., Rn. 338 m.w.N.

40 Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, § 58 Rn. 8.

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IV. Konsequenzen für zugezogene ausländische Kapital- gesellschaften

Rechtliche Probleme ergaben sich auf Grundlage der Sitztheorie stets dann, wenn eine ausländische Kapitalgesellschaft ihren effektiven Verwaltungssitz nach Deutschland verlegte. Ab dem Zeitpunkt, an dem der effektive Verwal- tungssitz der zugezogenen ausländischen Kapitalgesellschaft auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lag, war nach Maßgabe der Sitztheorie deutsches Recht auf sie anwendbar41. Da die zugezogene Gesellschaft nicht in Deutschland gegründet wurde, entsprach sie regelmäßig nicht den Gründungserfordernissen einer deutschen Kapitalgesellschaft etwa im Hinblick auf ein ausreichendes Stammkapital42. Des Weiteren fehlte es insbesondere an der für die Erlangung der Rechtsfähigkeit erforderlichen Eintragung in das deutsche Handelsregister.

Die zugezogene Gesellschaft wurde in ihrer Rechtspersönlichkeit nicht an- erkannt, weil sie nach einem aus deutscher Sicht „falschen Recht“ gegründet wurde43. Mit dieser Nicht-Anerkennung der zugezogenen Gesellschaft waren weitreichende Konsequenzen verbunden.

1.) Rechtliches „Nullum“ oder Umqualifizierung

Zu den Rechtsfolgen aus der Nicht-Anerkennung der im Ausland gegründeten und zugezogenen Gesellschaft wurden im Wesentlichen zwei Auffassungen vertreten.

a.) Rechtliches „Nullum“

Die Rechtsprechung sowie die überwiegenden Stimmen innerhalb der Literatur zogen aus der Nicht-Anerkennung der ausländischen Gesellschaftsform die Kon- sequenz, sie als „rechtlich inexistent“ einzustufen, d.h., ihr wurde die Rechts- fähigkeit abgesprochen. Als rechtliches „Nullum“ wurde ihr die Teilnahme am Rechtsverkehr somit unmöglich gemacht44. Plakativ formuliert, wurde die Ge- sellschaft – diesem Ansatz folgend – beim Überschreiten der Grenze von den Rechtsfolgen der Sitztheorie gleichsam „erschlagen“45.

41 Großerichter in: DStR 2003, 159 (160).

42 Großerichter in: DStR 2003, 159 (160).

43 Großerichter in: DStR 2003, 159 (160).

44 Weller in: IPRax 2003, 324 (325).

45 Knobbe-Keuk in: ZHR 1990, 325 (335).

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b.) Umqualifizierung

Nach anderer Auffassung wurde die zugezogene ausländische Gesellschaft ex lege je nach Geschäftsgegenstand entweder als deutsche Offene Handelsgesell- schaft (§§ 105 ff. HGB) bzw. Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) behandelt46. Die Sitztheorie besage schließlich nur, dass mit der Verlegung des Verwaltungssitzes nach Deutschland ab dem Zeitpunkt der Verlegung deutsches Gesellschaftsrecht zur Anwendung gelange47. Daraus folge, dass das deutsche Gesellschaftsrecht und nicht das Kollisionsrecht über die Frage entscheide, wel- cher Typ von Gesellschaft vorliege, und ob dieser Gesellschaft Rechtsfähigkeit zukomme48.

Die ex lege-Fiktionsumwandlung einer ausländischen Kapitalgesellschaft, beispielsweise einer englischen Ltd., in eine deutsche Personengesellschaft (OHG oder GbR), hatte für die zugezogene Gesellschaft bzw. deren Gesellschaf- ter sowie Geschäftsleiter, weitreichende Folgen.

An erster Stelle ist der Wegfall der Haftungsbeschränkung auf das Kapital der ausländischen Gesellschaft zu nennen. Vor Verlegung des effektiven Verwal- tungssitzes nach Deutschland hafteten die Gesellschafter der zugezogenen Kapi- talgesellschaft lediglich in Höhe des von ihnen übernommenen Stammkapitals.

Die automatische Umwandlung der Kapital- in eine Personenhandelsgesellschaft ab dem Zeitpunkt des Zuzugs nach Deutschland ließ die Gesellschafter der aus- ländischen Gesellschaft nunmehr nach den OHG bzw. GbR-Haftungsregeln unbeschränkt und persönlich haften49.

Daneben wurde bei sog. Scheinauslandsgesellschaften die Auffassung vertre- ten, dass ihre handelnden Vertreter analog § 11 Abs. 2 GmbHG bzw.

§ 41 Abs. 1 S. 2 AktG dem deutschen Rechtsinstitut der „Handelndenhaftung“

unterliegen50. 2.) Fazit

Gleichgültig, ob man als Rechtsfolge der Nicht-Anerkennung des ausländischen Gesellschaftsstatus aufgrund der Sitztheorie die „Inexistenz“ der zugezogenen Gesellschaft oder deren ex lege-Umwandlung in eine deutsche Personengesell- schaft annahm, war dies für die betreffende Gesellschaft stets mit erheblichen

46 Eidenmüller in: ZIP 2002, 2233 (2235); Leible/ Hoffmann in: RIW 2002, 925 (927).

47 Roth in: ZIP 2000, 1597 (1599).

48 Roth in: ZIP 2000, 1597 (1599).

49 Großerichter in: DStR 2003, 159 (160); Eidenmüller in: ZIP 2002, 2233 (2235).

50 Großerichter in: DStR 2003, 159 (160); Eidenmüller/ Rehm in: ZGR 1997, 89 (99).

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Nachteilen verbunden. Im ersten Fall war die zugezogene Gesellschaft als

„rechtliches Nullum“ überhaupt nicht fähig, am Wirtschaftsleben im deutschen Rechtsraum zu partizipieren. Bei einer Umwandlung trafen sowohl die Gesell- schafter als auch die Geschäftsleiter der ausländischen Gesellschaft darüber hinaus persönliche Haftungsrisiken, denen sie nach ihrem Gründungsstatut gera- de entgehen wollten.

B. Die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Centros Ltd., Überseering B. V. und Inspire Art Ltd.

Diese bis dato im deutschen internationalen Gesellschaftsrecht gültigen Rechtss- ätze haben durch die nachfolgend skizzierten Entscheidungen des EuGH einen tiefgreifenden Wandel erfahren.

I. Die Rechtssache Centros Ltd.

Als erstes Urteil im „Entscheidungstrias“ des EuGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften im europäischen Binnenraum ist das Urteil in der Rechtssa- che Centros Ltd. zu nennen.

1.) Sachverhalt

Zwei dänische Staatsangehörige gründeten nach englischem Recht die Centros Ltd. mit Satzungssitz in England und mit einem Kapital in Höhe von 100 bri- tischen Pfund. Die Gesellschaft entfaltete in England keinerlei Geschäftstätig- keit, sondern unterhielt lediglich in London eine Postadresse. Geplant war, die gesamte Geschäftstätigkeit von Anfang an durch eine dänische Zweignieder- lassung auszuüben und mit dieser Konstruktion die Mindestkapitalanforderun- gen des dänischen Gesellschaftsrechts von damals 200.000 dänischen Kronen (ca. € 25.000) zu vermeiden.

Die dänische Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften versagte der Centros Ltd. daraufhin die Eintragung der dänischen Zweitniederlassung. Zur Begründung führte sie an, dass die vermeintliche Zweitniederlassung auf däni- schem Boden in Wahrheit die einzige Niederlassung der Centros Ltd. war, da die Gesellschaft ihre Geschäftstätigkeit ausschließlich in Dänemark entfaltete und

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