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Von "Bullen" und Polizisten

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Von "Bullen" und Polizisten

Wenn man spontan und ohne groß zu überlegen die Namen der Krimidetektive der guten alten Zeit aufschreiben wollte, könnte eine Liste wie diese entstehen: Sherlock Holmes, Father Brown, Anonymus (Continental Op), Sam Spade, Philipp Marlowe, Hercule Poirot, Miss Marple und Lord Peter Wimsey. Dabei springt einem eine eigentlich recht seltsame Tatsache ins Auge: Niemand von diesen Damen und Herren ist ein Polizist, also ein Mensch, der üblicher Weise mit der Aufklärung von Verbrechen beschäftigt ist. Bei weiterem Nach- denken fallen einem dann doch einige erfolgreiche Detektive ein, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg im Auftrag des Staates im Universum der Fiktion den Mördern auf der Spur waren, und man ergänzt die Liste mit dem Namen Maigret, der 1929, also noch vor Philipp Marlowe, debütierte. Und dann denkt man vielleicht an Edgar Wallace , der ja nicht nur Romane wie The Four Just Men geschrieben hat, sondern auch solche wie The Squeaker (Der Zinker), in denen englische Polizisten, an deren Namen man sich allerdings kaum erinnert, erfolgreich gegen das Verbrechen ankämpfen.

In einer satirisch überzeichneten Typologie der Figuren in den Wallace-Krimis steht bei Willy Haas die reine Himmelsfigur, der König, an erster Stelle. Unter diesen Herrschern ist der wichtigste der Polizeikommissar von Scotland Yard: „Himmlischer Bote, auf Erden weilend, ein irdisches Weib begattend … . Blond, jung, schön, übermenschlich erleuchtet, gütig“. Mit anderen Worten: ein Polizist wie dieser ist einem echten Beamten so ähnlich wie der Osterhase einem Huhn in einer Legebatterie. Und Wallace ist da zunächst keine Aus- nahme, eher die Regel. Romane und Erzählungen mit wirklichkeitsnah gezeichneten Poli- zisten, die mit den alltäglichen Methoden der Polizei Verbrechen aufklären, hielt man wohl für schwer verkaufbar.

Dies änderte sich aber spätestens 1956, als ein Amerikaner, der ursprünglich Salvatore Albert Lombino hieß, der seinen Namen aber in Evan Hunter geändert hatte, unter dem Pseudonym Ed McBain einen Krimi mit dem Titel Cop Hater vorlegte, den ersten Roman einer langen Reihe, die man als "87th Precinct Mysteries“ vermarkten konnte. Auf einer Extraseite noch vor dem Beginn der Handlung steht programmatisch geschrieben:

The city in these pages is imaginary. The people, the places are all fictitious. Only the police routine is based on established investigatory technique.

Damit sind die wichtigsten Bestandteile dieser Krimis angedeutet. Sie spielen in einer Groß- stadt, in der naturgemäß viele Verbrechen begangen werden (und die man in diesem konkreten Fall unschwer als eine leicht abgeänderte Fassung von New York City erkennt). Der Prota- gonist ist kein Individuum, sondern eine ganze Polizeiwache. Wenn die versprochene Schil- derung der polizeilichen Routinearbeit und der üblichen Ermittlungstechniken kein Fremd- körper sein sollen, dann müssen die Stadt und die Stadtbewohner wirklichkeitsnah präsentiert werden. Der Roman erhebt also den Anspruch, in diesem Sinne realistisch zu sein.

Der Erzähler, man kann ihn ruhig McBain nennen, denn auch dieser ist, wie schon er- wähnt, eine Fiktion, gibt sich nun größte Mühe, den so geweckten Erwartungen gerecht zu werden. Echt wirkende Dokumente werden sozusagen in dem Originalzustand, also als mit der Schreibmaschine ausgefüllte Formblätter, dem Leser vorgelegt: in Cop Hater der Bericht des mit der Untersuchung einer tödlichen Kugel beauftragten Polizisten, in einem späteren Band der Reihe ein zweiseitiger „REPORT OF MISSING PERSON“ voller eigentlich irre- levanten Angaben. Nichts was darin zu lesen ist, trägt auch nur das Geringste zur Lösung des Falles bei, zeigt aber die polizeiliche Routine im Detail auf, die eben auch im Ausfüllen und

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Lesen solcher vorgefertigten Berichte besteht. In Cop Hater erfährt der Leser in tabellarischer Form auch den durchschnittlichen Durchmesser von menschlichen Haaren je nach Altersstufe.

Er begleitet die Polizisten zu Treffen mit Spitzeln oder zu dem so genannten "line-up", eine von Montag bis Donnerstag täglich stattfindende Veranstaltung, in der die erst kürzlich ver- hafteten Kriminelle ausgewählten Cops aller Stadtteile zentral vorgeführt werden. Die Detek- tive der siebenundachtzigsten Wache gehören nämlich nicht zu einer Eliteeinheit wie etwa die Mordkommission, sie müssen sich nicht nur um einen Fall kümmern, selbst dann nicht, wenn sie Jagd auf einen Polizistenmörder machen.

Trotz der Vielzahl der Verbrechen und der Verbrecher steht in Cop Hater ein Fall im Mittel- punkt. Drei Polizisten der siebenundachtzigsten Wache werden nacheinander erschossen. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um einen Rachefeldzug handelt, und man ermittelt in dieser Richtung und nimmt sich, wie es sich gehört, die Fälle vor, in denen die Opfer gewalt- bereiten Verbrechern auf die Füße getreten sind. Straftaten und Straftäter, die mit einer Waffe eines bestimmten Kalibers in Verbindung gebracht werden können, werden intensiv durch- leuchtet. All das führt jedoch zu nichts, so dass man geneigt ist anzunehmen, der Täter hasse alle Polizisten und suche seine Opfer nicht gezielt aus. Gegen diese Theorie spricht allerdings, dass die Opfer in Zivil unterwegs waren und so nicht ohne weiteres als Cops identifiziert werden konnten.

Alle Bemühungen des Polizeiapparates führen in Sackgassen, bis Steve Carella, einer der Detektive, auf die Idee kommt, das Motiv für die Morde im privaten Umfeld und nicht in der dienstlichen Tätigkeit der Opfer zu suchen. Bevor er noch entsprechende Ermittlungen anstel- len kann, teilt er diese Theorie in einem Hintergrundgespräch einem skrupellosen Journalisten mit, der sie dann entgegen der Absprache unter Nennung der Namen Carellas und seiner Ver- lobten reißerisch veröffentlicht. Als der Mörder daraufhin versucht, die beiden umzubringen, kann er überwältigt werden. Nicht die Routine, ein individueller Einfall und ein an sich kata- strophaler Fehler (nämlich einem Journalisten zu vertrauen) führen in diesem Roman zum Erfolg.

Der erfahrene Krimileser hat durchaus eine Chance, wenn schon nicht den Täter so doch die Person zu erraten, die diesen zur Tat anstiftet und die dann wie dieser zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wird. Er wird vielleicht Agatha Christies The ABC Murders aus dem Jahr 1936 gelesen haben, so dass ihm der Gedanke nicht fremd ist, ein Täter könne zur Tarnung mehrere Morde begehen, damit er, der ja nur für eine Tat ein Motiv hat, nicht in Ver- dacht gerät. Wenn der Leser dann davon ausgeht, dass McBain sich an eine ehrwürdige Kri- miregel hält, wonach der Täter nicht allzu spät in die Handlung eingeführt werden darf, und wenn er sich dann noch fragt, wer denn die unsympathischste Figur des Romans ist, dann hat er die Anstifterin zur Tat in der Person der Ehefrau des dritten Opfers identifiziert, eine

"femme fatale", eine "belle dame sans merci", die auf eine so perverse Art weiblich ist, dass sie einen männlichen Mann mit einem männlichen Beruf, den sie aus welchem Grund auch immer geheiratet hat, nicht auf die Dauer aushalten kann. Erwähnt wird sie bereits auf der einundzwanzigsten Seite. Hier ist es noch denkbar, dass der Ehemann von unbegründeter Eifersucht geplagt wird. Etwa sechzig Seiten später wird die Frau dann so richtig unsympa- thisch, als sie ihren Mann mit einem privaten Stripteaseshow aufgeilt, sich ihm aber dann nicht hingibt und so grausam frustriert. Als wiederum später sie in ihr gut stehender Trauer- kleidung den Fall mit Carella bespricht, kann sie es nicht lassen, sich dem Detektiv reizvoll zu präsentieren. Die eigentliche Täterin ist also gut sichtbar in der Handlung und in all den Er- mittlungen versteckt. Man muss nur um die Ecke denken, um in ihr die Titelfigur des Romans zu erkennen, die sie aber offensichtlich ist.

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Die femme fatale fällt auch deshalb auf, weil sie sich von den anderen Frauen des Romans unterscheidet: Sie ist nicht so, wie die guten Frauen in McBains Vorstellung sind und sein sollten. Deren beste ist Carellas Verlobte, eine im positiven Sinne geile Frau, die einen männ- lichen Mann zu schätzen weiß. Sie ist obendrein auch noch taubstumm, also zynisch betrach- tet so etwas wie eine stumme Bumspuppe, die mit ihrem Geschwätz einem nicht auf die Ner- ven gehen kann, eine Ausgeburt männlich chauvinistischer Wunschvorstellungen, oder, wohl- wollend interpretiert, ein Versuch zu zeigen, dass behinderte Menschen vollwertige Mitglieder der Gesellschaft sind. Wie auch immer, im letzten Kapitel heiraten die beiden. Der erfolg- reichen Ergreifung des Täters folgt das private Happyend.

Es ist nicht zu verkennen: trotz der vielen Polizisten, die in diesem Roman eine zum Teil erhebliche Rolle spielen, verzichtet McBain nicht auf einen individuellen Protagonisten. Ca- rella ist zwar ein "primus inter pares", aber eben auch ein Primus und nicht nur wegen der Be- hinderung seiner Verlobten ein "rara avis". Er bezieht seine Vorstellungen von irischen Frau- en aus James Joyces Ulysses ("one hell of a book to get through", wie er sich an das Buch erinnert) und hat im Gespräch mit der "femme fatale" das Gefühl "that she would suddenly explode into a thousand flying fragments of breast and hip and thigh, splashed over the landscape like a Dali painting". Sein relativ hoher Bildungsstandart macht ihn aber in der Gruppe seiner Kollegen nicht zum Außenseiter.

Auch sein leicht orientalisches Aussehen und sein Name, der auf einen "hyphonated Amer- ican", also auf einen Amerikaner nicht britischer Herkunft hindeutet, macht Carella bei den meisten seiner Kollegen nicht unbeliebt. In McBains Amerika ist völkische Abstammung wichtig und das Zusammenleben verschiedener Ethnien problematisch, in Cop Hater vor allem das der Irisch-Amerikaner und der Puerto Ricaner, die zum Teil in Jugendbanden, wie man sie aus West Side Story kennt, organisiert sind. Obwohl es auch Polizisten gibt, die sich in dieser Hinsicht nicht vorbildlich verhalten, funktioniert der amerikanische Schmelztiegel auf der achtundsiebzigsten Wache auffallend gut. Selbst Material, das damals noch in weiten Teilen der Vereinigten Staaten als nicht einschmelzbar galt, ist dort ein wertvoller Bestandteil des Ganzen: Einer der getöteten Polizisten in Cop Hater, der zuvor bei der üblichen Polizei- arbeit geschildert wurde, ist schwarzer Hautfarbe. In späteren Bändern kommt dann Meyer Meyer dazu, der in seiner Jugend nicht nur wegen seines Namens sondern auch wegen seiner Judentums heftig und gewaltsam gemobbt worden ist. Es gibt auch den Puertoricaner Hernan- dez, der unbedingt beweisen will, dass seine Herkunft ein anständiges Leben gerade als Poli- zist nicht verhindert.

Hernandez hat es allerdings auch auf der Wache nicht leicht. In Give the Boys a Great Big Hand wird sein Status als echter Amerikaner von einem Bullen namens Andy Parker provo- kativ in Frage gestellt. Der ohnehin schlecht gelaunte Carella (also nicht Hernandez) sieht daraufhin rot und lässt sich mit Parker in eine heftige Schlägerei ein. Die Selbstheilungskräfte der Polizei scheinen da zu wirken. Dass echte Männer einen Konflikt auch mit den Fäusten austragen, ist in einer echten Männerwelt nicht weiter schlimm, zumal wenn diese gestandene Mannsbilder irgendwie "boys" sind. "Boys will be boys", sagt man oft in Amerika, wenn die Jungs etwas tun, was sie eigentlich nicht tun sollten, was aber langfristig ihren Status als gute Menschen nicht in Frage stellt.

McBain erklärt auktorial, warum es richtig ist, Polizisten als "boys" zu sehen, denn obwohl sie täglich mit dem Abschaum der Menschheit zu haben, ist der Eindruck, von "simplicity"

und "innocence", den dieses Wort hervorruft, seiner Meinung nach sie betreffend nicht fehl am Platz, denn das Zimmer auf der Wache ist einem Umkleideraum einer Gesamtschule sehr ähnlich. Die Polizisten reden dort wie die Fußballmanschaft der Schule vor dem letzten Spiel der Saison. McBain begeht dabei allerdings nicht den Fehler, die Unschuld seiner Polizisten

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so sehr zu betonen, dass sein Gesamtbild unglaubwürdig wird. Einer der Wortführer in dieser Wachstube ist kein anderer als der von Carella menschlich wie dienstlich wenig geschätzte Andy Parker.

McBain verschweigt also nicht, dass es unter den Jungs Konflikte gibt, dass ihre kollektive Unschuld sie nicht immer vor Fehlverhalten schützt. In seiner Welt gibt es auch faule und in- kompetente Bullen. Sie haben auch schon mal außerdienstliche Kontakte zu Huren. Es gibt auch das, was man ungerechtfertigte Gewaltanwendung nennen könnte. In Cop Hater verpasst ein Bulle namens Havilland einem Jugendlichen, der ihm respektlos begegnet, eine kräftige Ohrfeige. Er droht auch, er würde diesem den Arm brechen. Das macht er zwar nicht, aber er neigt grundsätzlich dazu, wie der Leser es später erfährt, Widerstand von Gefangenen mit Prü- gel zu brechen. Richtig beliebt macht er sich bei seinen Kollegen damit aber nicht. Würde McBain diese Schattenseiten der Polizei unter den Teppich kehren, könnte der Leser seine Darstellung nicht als realistisch akzeptieren und wäre weniger geneigt, den Jungs den ver- dienten kräftigen Applaus ("a great big hand" ist nicht nur wörtlich als Teil einer zerstückel- ten Leiche zu nehmen) zu spenden, den sie trotz alledem verdienen.

Zu dem grundsätzlich positiv gezeichneten Bild der Polizei gehört auch, dass die kritische Berichterstattung über sie heftig kritisiert wird. Eine Zeitung mit großer Verbreitung macht ihren Lesern, die zunächst sich durch drei Seiten mit "cheesecake and chest-thumping liber- alism" durcharbeiten müssen, klar, dass für die Polizistenmorde die Korruption der Bullen verantwortlich zu machen ist. Die "boys" werden da mit den Beamten der Gestapo verglichen.

Die Männer der siebenundachtzigsten Wache sind aber eindeutig keine Kryptofaschisten, sie verkörpern vielmehr eine Fassung des amerikanischen Traums, wonach sich ein Mann, der sich mutig der Realität stellt und der "es" in sich hat, im Land der grenzenlosen Möglich- keiten zwar nicht unbedingt zum Millionär bringt (die Höhe ihrer Gehälter, die McBain auf den Dollar genau den Lesern mitteilt, ist eher niedrig), aber doch in der Lage ist, anständig zu leben. In der grundsätzlich funktionierenden amerikanischen Demokratie braucht es keine Elitefiguren wie Sherlock Holmes, "team players" wie Steve Carella und seine Kollegen tun es auch.

Wenn jemand den amerikanischen Traum nicht leben will und zum Verbrecher wird, dann ist er in McBains Welt nicht ohne persönliche Schuld. Seine Polizisten wie der Puertoricaner Hernandez, der Jude Meyer Meyer oder der Afroamerikaner David Foster wachsen in Stadt- teilen groß, in denen "law and order", also Recht und Ordnung, kleingeschrieben werden.

Dem Leser werden Jugendliche präsentiert, die den späteren Polizisten mit dem Reim „Meyer, Meyer, Jew on Fire!“ verspotten, bevor sie ihm eine in die "Fresse" (Originalton McBain) geben. Dieses Milieu und die Tatsache, dass sie Mitglieder diskriminierter Minderheiten sind, hindert die Guten aber nicht daran, anständige Menschen zu werden. Was sie und ihre Fami- lien schaffen, ist auch für die anderen Stadtbewohner nicht unmöglich. Wenn diese moralisch versagen und als Kriminelle von den Polizisten nicht mit Samthandschuhen angefasst werden, dann geschieht ihnen damit kein Unrecht.

McBains Polizistenromane kamen nicht nur in Amerika gut an, sie wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt unter anderem auch ins Schwedische, und zwar von dem Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö, das dann beschloss, ähnliche Krimis zu schreiben und dabei einer- seits das Schema zu übernehmen, es aber auch grundsätzlich zu verändern.

Die Ähnlichkeit zwischen den Krimis von Sjöwall/Wahlöö mit denen von McBain liegt vor allem in der Figurenkonstellation, in der Vermischung von Dienstlichem mit Privatem und der Darstellung der häufig öden und oft genug nicht zum Ziel führenden Routine polizeilicher Er- mittlungen. Um mit der letztgenannten Facette zu beginnen: Ein Mord ist geschehen, der zu- ständige Beamte der Mordkommission trifft am Tatort ein. Er kommt nicht umhin, alle noch

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so irrelevant erscheinende Details zu registrieren: „Das Zimmer war fünf Meter lang, drei- einhalb Meter breit und fast vier Meter hoch“, so beginnt die Bestandsaufnahme, die dann fast eine Seite lang fortgesetzt wird, bevor man bei der Leiche angelangt ist. Man erfährt zum Beispiel, dass auf einer Ablage ein Stapel Illustrierte lagen, darunter „vier Briefe, ein Notiz- buch mit liniertem Papier, ein silberner Waterman-Vierfarben-Stift, etwas Kleingeld, genauer acht Zehn-Öre-Stücke und sechs Ein-Kronen-Stücke.“ Und so weiter, und so weiter. Der Leser ahnt, dass es wohl ziemlich irrelevant ist, ob das Papier im Notizbuch liniert oder kariert ist, und dass die genaue Zahl der Münzen vermutlich nichts zur Klärung des Falles beitragen wird, genau so wenig wie die Informationen auf den von McBain präsentierten Formularen.

All das festzuhalten ist notwendige aber recht öde Routine.

Der Mitglied der Mordkommission, der all das registriert, heißt Rönn. Der Leser kennt ihn womöglich aus den früheren Romanen der Reihe. Auf jeden Fall lernt er aber Rönns letzten Fall kennen, der zwar eigentlich mit dem Mord, den er nun zu untersuchen hat, nichts zu tun hat, der aber dem Leser in groben Zügen dennoch vorgestellt wird. Man bekommt auch einige Hinweise auf sein Privatleben, einschließlich seiner Finanzen: Trotz Übermüdung freut er sich über das Geld, das ihm seine Überstunden einbringen. Wie bei McBain werden dann sehr viele Polizisten in die Handlung verstrickt, unter anderen benachrichtigt Rönn seinen direkten Vorgesetzter Martin Beck, dessen privates Abendessen mit seiner neunzehnjährigen Tochter dem Leser zuvor geschildert worden ist.

Sjöwall/Wahlöös Martin Beck entspricht in seiner Funktion Ed McBains Steve Carella. Sie beide sind Teil eines großen Apparates, sie beide haben auch Vorgesetzte, an denen sie sich reiben können. Sie sind nicht die autonom operierenden großen Detektive, sie haben trotz ihrer zweifellos vorhandenen Kompetenz nichts Übermenschliches an sich. Über weite Stre- cken der Handlung glänzen sowohl Beck wie auch Carella durch Abwesenheit, denn der ei- gentliche Protagonist ist die Polizei. Beck ist aber in der Hierarchie wesentlich höher platziert als Carella, was zur Folge hat, dass seine Tätigkeit innerhalb der Serie sich nicht auf eine bestimmte Wache, ja nicht einmal auf eine bestimmte Großstadt beschränkt. Der Leser, der Beck folgt, bekommt so einen Einblick in die Lage der gesamten schwedischen Nation.

Will man die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen McBain und Sjöwall/Wahlöös Polizistenromane näher betrachten, so ist ein Vergleich zwischen Cop Hater und Den

vedervärdige mannen fran Säffle (deutsch Das Ekel aus Säffle) besonders lohnend, denn beide Romane behandeln denselben Stoff, nämlich den Polizistenmord in einer Großstadt. Becks Verhältnis zu Stockholm ist dabei dem Carellas und McBains zum Verwechseln ähnlich:

Trotz alledem liebte er diese Stadt, und gerade an dieser Stelle und um diese Jahreszeit war sie vielleicht am schönsten. Die Morgensonne schien auf Strömmen, die

Verbindung zwischen Mälarsee und Ostsee, die glänzende Wasserfläche lag ruhig da und verriet nichts von dem widerlichen Schmutz, der sich leider darunter verbarg. In seiner (Becks) Jugend, ja auch noch viel später, hatte man hier baden können.

Zu Beginn von Cop Hater präsentiert McBain ein ähnliches Bild seiner fiktiven Großstadt, in der Schönheit und Schmutz präsent sind:

The city lay like a sparkling nest of rare gems, shimmering in layer upon layer of pulsating intensity.

The buildings were a stage-set.

They faced the river, and they gloved with man-made brilliance, and you stared up at them in awe, and you caught your breath.

Behind the buildings, behind the lights, were the streets.

There was garbage in the street.

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Der Unterschied liegt in der sprachlichen Gestaltung, im Stil, nicht in der Einstellung.

McBain bemüht sich gelegentlich, hoch-literarisch zu schreiben und produziert damit das, wofür die englische Sprache den Ausdruck "purple patch" bereit hält, eine aus dem Rahmen fallende Passage von besonders intensiver Leuchtkraft. In einem anderen Roman bringt er es fertig, den Vergleich einer Großstadt mit einer Frau drei Druckseiten lang breitzutreten.

Sjöwall/Wahlöö sind da wesentlich zurückhaltender, nüchterner, wenn auch ihr Stadtbild dasselbe ist.

Was die Polizei angeht, ist die Einstellung Sjöwall/Wahlöös zu der McBains aber so unter- schiedlich wie nur möglich. Mit etwas Übertreibung könnte man behaupten, die Schweden setzen Cop Hater wie einen mathematischen Ausdruck in Klammer und platzieren ein Minus- zeichen davor, wodurch bekanntlich der Inhalt eigentlich unverändert bleibt, aber sämtliche Vorzeichen sich in ihr Gegenteil verwandeln. Anders ausgedrückt: Sjöwall/Wahlöö stellen McBains Welt ideologisch auf den Kopf.

Wie das im Großen aussehen wird, führen die Autoren bereits zu Beginn des Romans im Kleinen vor. Rönn hat gerade einen Fall abgeschlossen, zufrieden ist er aber nicht, ja er ist nahe daran, in Tränen auszubrechen, zum Teil weil er übermüdet ist, vor allem aber deshalb, weil er in letzter Zeit so oft mit Fällen zu tun gehabt hat, bei denen er den Täter mehr bedauert hat als das Opfer. Die Verhaftung des Verbrechers stellt keine Harmonie her, sie überantwortet lediglich einen Jugendlichen einer blinden Justiz.

Bald darauf sieht Rönn die Tür der Polizeistation aufgehen. Zwei Streifenpolizisten schlep- pen einen älteren Mann hinein. Einer von ihnen schlägt dem Festgenommenen ohne ersicht- lichen Grund in den Unterleib. Die beiden Dienst habenden Bullen berührt das nicht, wohl weil es zum Alltag gehört. Rönn ist nicht begeistert, sein nutzloser und kaum bemerkbarer Protest äußert sich aber nur darin, dass er sich nicht von den Streifenpolizisten zum eigent- lichen Tatort fahren lässt.

All das wiederholt sich nun im weiteren Verlauf des Romans. Das brutal abgeschlachtete Opfer entpuppt sich als ein brutaler Schläger in Uniform, zuerst bei der Armee, dann bei Polizei. Er ist das Ekel, der widerwärtige Mann aus Säffle, und gleicht ganz und gar nicht den guten Polizisten, die in Cop Hater ermordet werden. Dementsprechend führen die Ermitt- lungen der Polizei, als die Leute überprüft werden, die sich über die Tätigkeit der Getöteten beschwert haben, bei McBain in eine Sackgasse, bei Sjöwall/Wahlöö aber ziemlich rasch zur Identifizierung des Mörders. Die zahlreichen Beschwerden, die in extenso zitiert werden, dokumentieren in der schwedischen Polizei sinnlose Brutalität und grausame Gleichgültigkeit, gepaart mit einer erschreckenden Inkompetenz. Bullen halten da zusammen, decken sich mit wechselseitigen Gefälligkeitsaussagen, so dass die halbherzigen Untersuchungen der Vor- würfe im Sand verlaufen. Der Leser weiß aber ziemlich sicher, dass die geschilderten Untaten tatsächlich stattgefunden haben, denn eine der Vertrauenspersonen im Roman, Becks Kollege und Freund Kollberg, hatte das Ekel während seiner Militärzeit kennen gelernt. Nach einem Dienstvergehen vor die Wahl gestellt, entweder einen karriereschädigenden Aktenvermerk zu erhalten oder Prügel beziehen, wählt er die Schläge, die ihm dann zwei gebrochene Rippen einbringen.

Der spätere Mörder des ekelhaften Opfers war selber einmal Polizist. Seine zuckerkranke Frau wurde als eine angeblich Besoffene aufgegriffen, in eine Zelle geworfen, in der sie dann starb. Die Tat blieb dank den Aussagen des Ekels und seiner Mannen so gut wie ungesühnt, es folgte lediglich eine folgenlose Ermahnung. Der Ehemann wurde dann von seinen Kollegen zunächst noch bemitleidet und geschützt, aber er gehörte mit der Zeit einfach nicht mehr zu der Mannschaft: Er konnte das Verhalten anderer Bullen nicht mehr akzeptieren und machte sich rundum unbeliebt. Als er dann statt einen sinnlosen Befehl auszuführen eigenmächtig

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befehlswidrig sinnvolle Polizeiarbeit verrichtet hatte, wurde ihm gekündigt, worauf der sozi- ale Abstieg folgte. Was zunächst gegen seine Täterschaft im aktuellen Fall spricht, ist die lan- ge Zeit zwischen dem Tod seiner Frau und der Racheakt. Beck und seine Leute finden aber bald den Auslöser: Das Jugendamt ist mit seiner Tätigkeit als allein erziehender Vater (ver- mutlich ohne ausreichenden Grund) unzufrieden gewesen und hat ihm seine Tochter weggenommen.

Die Umkehrung der Werte im Vergleich zu Cop Hater ist offensichtlich. Auf der achtund- siebzigsten Wache gibt es zwar den prügelnden Bullen Havilland, aber er handelt nicht grund- los und macht sich im Kreise seiner Kollegen eher unbeliebt. Er ist einst anders gewesen, nur die schlimmen Erfahrungen mit Kriminellen haben ihn zu dem gemacht, was er ist. Sein Verhalten ist zwar nicht gutzuheißen, aber irgendwie doch verständlich. Anders die prügeln- den Bullen von Stockholm, die keinen einleuchtenden Grund brauchen, um brutal und rück- sichtslos vorzugehen. Sie sind zwar nicht von allen wohlgelitten, aber keinesfalls isolierte Einzelfälle. Das Verhalten des Mannes, der sie umbringt, ist zwar nicht gutzuheißen, aber irgendwie doch verständlich, denn erst seine schlimmen Erfahrungen mit der Staatsmacht haben ihn zu dem gemacht, was er ist, zu einem Mann, dem man nicht mehr helfen kann, der so wahnsinnig ist, dass für ihn nichts mehr existiert als Rache, Gewalt und Hass.

Da Sjöwall/Wahlöö ihre Glaubwürdigkeit als realistische Darsteller der Polizei nicht ge- fährden wollen, können oder wollen sie nicht alle Bullen über den gleichen Kamm scheren.

Ein einfaches "All cops are bastards" ist ja bekanntlich ein Vorurteil. In einem komischen Intermezzo des Romans treffen zwei reichlich dämliche Plattfüße auf einen Penner, der sie nach allen Regeln der Kunst verspottet und lächerlich macht. Beide sind furchtbar genervt, tun aber gerade das nicht, was das Ekel aus Säffle getan hätte, nämlich den Penner zu ver- dreschen und so das Problem lösen. Beck lehnt überflüssige Gewaltanwendung strikt ab und sein Freund und Kollege Kollberg ist auf einer Stufe seiner Entwicklung angekommen, die man als pazifistisch charakterisieren kann. Der Wahnsinn des Täters zeigt sich gerade darin, dass er zu solchen Differenzierungen nicht fähig ist: Auch Beck steht auf seiner Abschussliste.

Die Ermittlungen unter Becks Leitung führen zwar zur Identifizierung des Täters, dieser Erfolg ist aber letztlich fast völlig unerheblich, denn dieser hat sich schon vorher auf dem Dach eines Hochhauses verschanzt, von wo er den Eingang zu seinem ersten Tatort unter Beschuss nehmen kann. Er schießt auf alle Polizisten, die er entweder an ihren Uniformen erkennt oder die er in Zivil als seine ehemaligen Kollegen ausmachen kann. Und er schießt nicht nur, er trifft auch. Der herbeigeeilte Beck versucht es, den Täter in einem höchst gefähr- lichen Alleingang auszuschalten. Er fühlt sich dazu durch recht vage Schuldgefühle moralisch verpflichtet. Er glaubt in irgendeiner Form Buße tun zu müssen. Das ist irgendwie auch ge- rechtfertigt, denn Beck war und ist ja ein Teil der Staatsmacht, die den Täter in den Wahnsinn getrieben hat.

Becks Aktion, die zwar gewagt aber nicht aussichtslos ist, scheitert an einer technischen Panne. Er selbst bleibt dabei schwer verwundet liegen:

Nun liege ich hier und sterbe vielleicht, dachte Martin Beck, und welche Schuld sühne ich mit meinem Tod?

Keine.

Beck kann nicht in guter christlicher Tradition die Schuld anderer auf sich nehmen und stell- vertretend sühnen. Persönlich ist er ja irgendwie auch unschuldig.

Nach Becks Scheitern haben nun die Idioten, die eine Militarisierung der Polizei vorantrei- ben, das Sagen und starten eine aufwendige, aberwitzige Aktion mit zwei Hubschraubern, die nur die Folge hat, dass die Zahl der Getöteten sich erhöht. Erfolgreich ist dann ein unter sei- nen Kollegen unbeliebter Sonderling, der sich alle Mühe gibt, möglichst allen, insbesondere

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aber seinem Vorgesetzten, den er schon mal "Heil Hitler!" grüßt, intensiv auf die Nerven zu gehen.

Sjöwall/Wahlöö ergänzen ihre Kritik an der schwedischen Polizei dadurch, dass sie genüss- lich soziologische Untersuchungen zitieren, die in die gleiche Kerbe hauen wie sie. Diese behaupten, es reiche schon ein Zeugnis mit Noten unter dem Durchschnitt, um an die Polizei- schule aufgenommen zu werden. Das habe dazu geführt, dass der Intelligenz-Quotient der Streife fahrenden Beamten in Stockholm auf 93 gesunken sei. Martin Beck scheint den Sozi- ologen zu glauben, wenn diese behaupten, der Polizeiberuf sei nicht riskanter als jede andere normale Arbeit. Bau- und Waldarbeiter lebten viel gefährlicher, gar nicht zu reden von den Hafenarbeitern, Kraftfahrern und Hausfrauen. Die Anzahl der verletzten Polizeibeamten sei verschwindend klein im Vergleich zu der Anzahl von Personen, die im Laufe eines Jahres von der Polizei misshandelt würden. Der große Knallerei am Ende des Romans mit zahlreichen toten Bullen ist demnach die große Ausnahme, nicht die Regel.

Sjöwall/Wahlöö werden nicht müde zu betonen, dass die von ihnen so heftig kritisierten Zustände nicht schicksalsbedingt sind. Es gibt ihrer Meinung nach keinen natürlichen Gegensatz zwischen dem Volk und den Ordnungshütern. Sie schildern zum Beispiel eine allerdings nicht lange währende Episode in der Geschichte der Stockholmer Polizei, als Ende der fünfziger Jahre militärisches Denken nicht mehr so gefragt gewesen ist und bestimmte Erscheinungen wie der Kasernenhofton bei der Schutzpolizei vorübergehend von "den Wogen des Demokratisierungsprozesses hinweggespült" worden sind. Sie weisen auch auf das

positive Beispiel Englands hin, wo Streifenpolizisten keine Schusswaffen tragen und so keine Eskalation der Gewalt provozieren. Im Gegensatz hierzu gibt es zu der amerikanischen Polizei in McBains Romanen keine reale Alternative, die besser wäre.

Im Gegensatz zu Ed McBain wollten Sjöwall/Wahlöö keine Endlosserie schreiben und beschränkten die Romane mit diesen Protagonisten auf die Zahl zehn. Obwohl wie bei dem Amerikaner jede Folge in sich abgeschlossen ist und auch unabhängig von den anderen mit Genuss gelesen werden kann, ist bei den Schweden eine gewisse Planung der Serie, eine gewisse Entwicklung bemerkbar. Die Romane politisieren sich zunehmend, die politische Botschaft rückt immer stärker in den Vordergrund, die Spannung zwischen der Tätigkeit gewissenhafter Beamten und den von oben bestimmten Methoden und Zielsetzung wird größer. Das führt schließlich dazu, dass der etwas zarter besaitete Kollberg es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren kann, Polizist zu sein und konsequenter Weise den Dienst quittiert. Die Polizei ist da endgültig nicht wie bei McBain ein Teil der Lösung, sie ist (auch) ein Teil des Problems.

Ob nun der Leser eher das von McBain oder von Sjöwall/Wahlöö gezeichnete Bild der Polizei für realistischer hält, hängt von seinen Vorurteilen ab. Theoretisch könnten sogar beide wirklichkeitsnah sein, denn die Realität in New York anno 1956 muss nicht der Realität von Stockholm anno 1971 entsprechen. Wie es in den fraglichen Ländern in der fraglichen Zeit zugegangen ist, entzieht sich den Kenntnissen des heutigen Lesers. Wie die Polizei nun wirklich ist, weiß im Grunde kein Krimikonsument so ganz genau, obwohl gerade in einer Demokratie laufend kritisch wie zustimmend ausführlich über sie berichtet wird. Auch Zahlenmaterial steht zur Verfügung, das grundsätzlich geeignet sein könnte, Licht in die Dunkelheit zu bringen. 2015 leiteten die Staatsanwaltschaften in Bayern 273 Ermittlungsver- fahren wegen Gewalt durch Ordnungshüter ein, 2014 war diese Zahl mit 237 noch erheblich niedriger. Die Frage, ob die Polizisten brutaler oder Staatsanwaltschaften wachsamer ge- worden sind, beantworten diese Angaben aber nicht. Der Großteil der Verfahren vor den Gerichten wurde in beiden Jahren ohne Auflagen eingestellt. Man kann sich fragen, ob das nun ein Beweis für das Funktionieren oder ein Hinweis für das Versagen des demokratischen

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Rechtsstaates ist, ob also, falls man einen realistischen bayerischen Polizistenroman schreiben wollte, sich eher an McBain oder an Sjöwall/Wahlöö orientieren müsste.

Wie auch immer man diese Frage beantwortet, eins ist sicher, dass nämlich diese Autoren die beiden ideologischen Extrempositionen besetzen, die unter Wahrung des realistischen An- spruches im Polizistenroman, der in einer wie auch immer gearteten oder entarteten Demok- ratie spielt, möglich sind. Es gibt natürlich zahlreiche Kompromissmöglichkeiten: Man kann zum Beispiel eine gute und eine böse Polizeimacht gegeneinander antreten lassen. Dann kämpfen ortsgebundene, heimatverbundene Beamte gegen die Zumutungen einer entwur- zelten Zentralbehörde, also der Sheriff gegen die FBI-Agenten, oder umgekehrt, der korrupte, rassistische, ausländerfeindliche, inkompetente Dorftrottel von einem Bullen wird von dem edlen BKA-Beamten vorgeführt und vielleicht sogar aus dem Verkehr gezogen. Das McBain- Sjöwall/Wahlöö Format schließt da nichts aus.

Auch sonst ist die Variationsbreite von angeblich realistischen Polizistenromanen erstaunlich breit. Sie können durchaus dem vermuteten oder tatsächlich vorhandenen Verlangen des Publikums nach einem individuellen Helden Rechnung tragen. In diesem Kontext ist es nicht uninteressant, dass die Neuübersetzungen der Sjöwall/Wahlöö -

Zehnerreihe von dem Rowohlt-Verlag unter der Bezeichnung „Kommissar-Beck-Roman(e)“

vermarktet werden und dass die Fernsehserie ebenfalls den Namen dieses Polizisten trägt, der so mit der Zeit mehr als "primus" denn als "inter pares" wahrgenommen beziehungsweise vermarktet wird. Eine Möglichkeit der Heldendarstellung ist auch, in dem einen Roman die eine, in dem anderen Roman eine andere Romanfigur zur wichtigsten Person zu machen und so einerseits für Abwechselung zu sorgen, andererseits aber den Rahmen einer Serie nicht zu sprengen. So wurde aus den "Inspector Challis" Krimis des Australiers Garry Disher

irgendwann eine "Inspector Hal Challis and Sergeant Ellen Destry Investigation". Da Disher noch lebt und schreibt und da seine Polizistenromane noch andere interessante Figuren enthalten, könnte ein Band bald auch als ein "Pam Murphy mystery" oder "John Tankard investigation" auf den Markt kommen.

Da es grundsätzlich möglich ist, aus einem individuellen großen Detektivhelden nach dem Muster eines Sherlock Holmes einen Beamten zu machen (man muss da nur bereit sein, den Realismusanspruch bei der Darstellung der Polizeiarbeit zu streichen oder zumindest gering zu veranschlagen) kann man die Stellung jedes Polizistenkrimis auf einer imaginärer Skala relativ leicht verorten: An einem Ende präsentieren die Hersteller den Polizisten als den großen Einzelnen, als den Genie, als den Goethe der Ermittlungen, am anderen bieten sie eine Vielzahl von Arbeitsbienen an. Um das Bild zu variieren: Im Ameisenhaufen der Behörde zählt dann der Einzelne wenig bis gar nichts, die Erfolge werden vom Kollektiv errungen.

Man kann sich weitere solcher Geraden vorstellen: an einem Ende der große Gegenspieler des großen Detektivs, der Genie des Verbrechens, der meisterhafte Planer vom scheinbar

perfekten Mord, am anderen Ende eine Vielzahl von Verbrechen von Mord über Totschlag bis zum Ladendiebstahl und sexuelle Belästigung, begangen von Menschen verschiedenster Art.

Am einen Ende einer solchen Gerade steht das Ungewöhnliche, das Einmalige, das Nie- dagewesene, das offensichtlich Ausgedachte, am anderen Ende das Alltägliche, die graue Realität. Je mehr und je öfter ein Krimi dem hier stets an zweiter Stelle genannten Enden dieser Geraden verortet werden kann, desto eher handelt es sich um das, was man als man auf Englisch "police procedural" nennt, also dem realistischen Polizistenkrimi.

Es ist leicht zu erkennen, dass in letzter Konsequenz ein "police procedural“ irgendwann aufhört, ein Krimi zu sein. Aus dem Spielfilm "nach einer wahren Begebenheit" wird dann die Dokumentation der wahren Begebenheit selbst, mit Interviews mit dem im Gefängnis ein- sitzenden Täter, seiner Anwältin, seiner Gattin und seinen Kindern, den leitenden Ermitt-

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lungsbeamten und der zuständigen Staatsanwältin. Oder ein Kamerateam eines Fernsehsen- ders begleitet eine Gruppe von Polizisten, die an einem Unfallschwerpunkt eine Radarfalle aufbauen und filmen dann, wie einzelne Raser buchstäblich aus dem Verkehr gezogen werden.

Oder man zeigt einen Zollbeamten, der in einem Großflughafen die Koffer der Fernreisenden stichpunktartig durchsucht und dabei die illegale Wurst aus der Türkei entdeckt. Die Popula- rität und die Allgegenwärtigkeit dieser Infotainments zeigten, dass es in der Polizeiarbeit nichts gibt, was zu alltäglich wäre, um unterhaltsam zu sein.

Um aber die so genannte ganze Wahrheit dokumentieren zu können, kann es sinnvoll sein, die Realität etwas zu gestalten. Die Fernsehleute begleiten nicht irgendeinen Bullen zu der Radarfalle, sondern suchen einen besonders sprachbegabten aus, oder einen besonders photo- genen, oder einen besonders sympathischen, oder einen besonders unsympathischen. Sie berichten vielleicht nur über Raser, die ihnen das erlauben. Oder sie verdecken sein Gesicht, oder sie lassen im Studio seine Stimme nachsprechen. Wenn in einem besonders interessanten (einmaligen oder typischen) Fall die Kamera versagt hat, spielt man vielleicht die Szene mit der Originalbesetzung oder auch mit anderen Leuten nach. Vielleicht legt man dem Polizisten nahe, was er wie sagen soll und streicht die eine oder andere seiner Äußerungen, deren Aus- strahlung für wen auch immer peinlich wäre. Vielleicht will man aber irgendwann reale Verbrechen ins Bild setzen, bei deren Begehung naturgemäß kein Kamerateam anwesend sein konnte. Also lässt man die Szene von Schauspielern am Originaltatort oder anderswo nach- spielen und produziert die seit Jahrzehnten so beliebten Episoden in der Fahndungssendung

"Aktenzeichen XY ungelöst". In einem anderen Format stößt man sich an den Persönlich- keitsrechten der Betroffenen, die eine vollständige Veröffentlichung unmöglich machen. Man sorgt also dafür, dass die Zuschauer die Personen nicht identifizieren können. Wenn die Men- ge der nachweisbaren Fakten peinliche Lücken aufweist, nimmt man irgendwann statt dem Tatsächlichen das Wahrscheinliche in die Darstellung auf, um die ganze Wahrheit präsentieren zu können. Und da ist auf einmal aus der Dokumentation ein Krimi "nach einer wahren Be- gebenheit" geworden, bei dem die dem Leser meist ohnehin nicht bekannte "wahre Begeben- heit" unwichtig wird. Sie dient lediglich zur Inspiration, der Hinweis darauf ist ein Teil der Marketingstrategie, die auf den Wunsch des Konsumenten auf eine Abbildung der Wirklich- keit setzt.

Die Konsumenten von "police procedurals" wollen ja oft die nackte Wahrheit der Polizei- arbeit dargestellt haben, sind aber bereit, Kompromisse einzugehen und gewisse Unwahr- scheinlichkeiten dann doch zu akzeptieren. In Romanen wie die von McBain, die in einer Großstadt spielen, oder in Krimis wie die von Sjöwall/Wahlöö, in denen die Handlung sich auf das ganze Land erstrecken kann, sind die Vielzahl der Verbrechen, die dargestellt werden, an sich nicht unrealistisch. Je kleinstädtischer, je ländlicher nun der Raum ist und je länger sich die Serie hinzieht, in denen die Polizisten agieren, desto unwahrscheinlicher wird es, dass gerade dort so viele interessante Morde (auf die man zwar theoretisch verzichten könnte, auf die man aber praktisch selten verzichtet) begangen werden. Daran stört sich aber der Krimi- konsument genau so wenig, wie an der Tatsache, dass eine Frau wie Miss Marple realistischer Weise nie und nimmer mit so vielen Verbrechen zu tun haben könnte, wie sie es in der Welt Agatha Christies tut. Serien haben ein eigenes Verhältnis zur Wirklichkeit und das gilt auch für realistische Polizistenromane.

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