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Vortrag bei der Fachtagung „Liturgie und COVID-19“ (20./21. November 2020) an der Katholischen Privat-Universität Linz

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Die COVID-19-Pandemie aus der Sicht eines Diözesanbischofs

Vortrag bei der Fachtagung „Liturgie und COVID-19“ (20./21. November 2020)

20. November 2020, Katholische Privat-Universität Linz

(1) Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie (12. März 2020) Bischof Manfred Scheuer ordnet für die Diözese Linz Folgendes an:

 Versammlungen aller Art (in geschlossenen Räumen und im Freien) bedeuten ein ho- hes Übertragungsrisiko und sind bis auf weiteres abzusagen.

 Gottesdienste finden daher ab Montag, 16.3.2020 ohne physische Anwesenheit der Gläubigen statt. Doch die Kirche hört nicht auf zu beten und Eucharistie zu feiern. Die Priester sind aufgerufen, die Eucharistie weiterhin für die ihnen anvertrauten Gläubigen und für die Welt zu feiern. Die Gläubigen sind eingeladen, über Medien teilzunehmen (Radio, Fernsehen, Onlinestream ...) und sich im Gebet zuhause anzuschließen.

Obwohl diese Regelung erst mit Montag in Kraft tritt, können Pfarrverantwortliche für die Feier des kommenden Sonntags entscheiden, ob sie diese neue Regelung bereits vorwegnehmen.

 Sämtliche aufschiebbare Feiern (Taufen, Hochzeiten etc.) sind zu verschieben.

 Begräbnisse sollen im kleinsten Rahmen bzw. außerhalb des Kirchenraumes stattfin- den. Das Requiem, bzw. andere liturgische Feiern im Zuge des Begräbnisses, sind auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

 Weitere Versammlungen (Gruppenstunden, Sitzungen, Sakramentenvorbereitungen, Bibelkreise, Gebetsrunden, Exerzitien ...) sind abzusagen.

 Kirchen sind zum persönlichen Gebet tagsüber offen zu halten.

Diese Anweisungen sind den Gläubigen verpflichtend am kommenden Sonntag im Gottes- dienst, bzw. wenn diese bereits abgesagt wurden, durch Aushang im Schaukasten und über die pfarrlichen Medien mitzuteilen.

Es wird empfohlen:

 für die Seelsorge Telefondienste in den Pfarren einzurichten, auch die Möglichkeiten der sozialen Medien auszuschöpfen, um mit den Gläubigen in Kontakt zu bleiben.

 den Parteienverkehr in Pfarrkanzleien nach Möglichkeit auf Telefonate und E-Mail-Ver- kehr zu beschränken.

 in der Pfarre ein kleines Team zur praktischen Umsetzung der Anordnungen einzurich- ten (Ausnahme zur oben genannten Absage von Sitzungen).

 die bekannten Hygienemaßnahmen unbedingt einzuhalten und allgemein darauf hin- zuweisen.

Viele Informationen finden Sie laufend aktualisiert unter https://www.dioezese-linz.at/corona Es ist uns bewusst, dass dies schwerwiegende Maßnahmen sind, die nicht leichtfertig getrof-

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zu schützen, die am meisten gefährdet sind. Die Maßnahmen sind Ausdruck einer recht ver- standenen christlichen Selbst- und Nächstenliebe. Wir als Kirche hören nicht auf, für die Sor- gen und Nöte der Menschen in verantwortungsvoller Weise da zu sein, für sie zu beten und die Eucharistie zu feiern, gerade in dieser schwierigen Situation.

(2) Ruhe als die erste Bischofspflicht?

„Kirchenleere. Ruhe war die erste Bischofspflicht in der Corona-Krise. … Wie viel Selbstliebe war im Spiel, als Nächstenliebe zu Social Distancing umgedeutet wurde? War das die gebo- tene Vernunft oder die Angst vor der eigenen Ansteckung, die sich als Verantwortung tarnte?“

(Heribert Prantl)1 War es Egoismus oder zumindest primär Selbstliebe der Bischöfe, dass die österreichischen Bischöfe mit Wirkung vom 17.11.2020 die öffentlichen Gottesdienste wie zu Ostern wieder ganz ausgesetzt haben? Oder haben wir in Verantwortung für das Gemeinwe- sen, in Solidarität mit den Ärzten und mit dem Pflegepersonal, mit den Infizierten und Kranken entschieden und gehandelt? Was war die wirkliche Priorität z. B. in der Klinikseelsorge: Leben zu schützen oder doch die Sorge um die eigene Gesundheit? Und was ist Aufgabe und Ver- antwortung der Kirche in solchen Zeiten: den Staat in seiner Aufgabe für die Gesundheit und für das Gemeinwohl zu stützen oder mit dem Gestus der Empörung auf das Versagen der politischen und auch kirchlichen Verantwortungsträger hinzuweisen2? Ethische Orientierung z. B. in Fragen der Triage zu geben, Mut zu machen, Hoffnung zu bezeugen oder diakonisch zu wirken?

Da gab es den Vorwurf der Magie gegenüber Papst Franziskus, als er den Segen „Urbi et orbi“

auf dem leeren Petersplatz spendete (Magnus Striet). Sind Segen und Bittgebet ausschließlich unmündige, infantile und unreife Formen der Magie?

Da waren unterschiedliche Bilder zum Verhältnis Kirche und Öffentlichkeit im Spiel: nicht we- nige stellen sich die Gespräche der Regierung mit den Religionsgemeinschaften als orientali- schen Basar vor.3 Da wird noch um einzelne Zahlen gefeilscht oder um die Stunde der Schlie- ßung gerungen. Da war die Rede davon, dass die Bischöfe im Gerangel oder wie bei einem Schweizer „Schwingen“ über den Tisch gezogen wurden. Da wird das Gewissen beschworen, in dem wir Widerstand gegen die Gesetze der staatlichen Obrigkeit leisten müssten. Und mir gegenüber wurde sogar Franz Jägerstätter in der Absicht genannt, dessen Verhältnis zum NS- Staat mit dem Verhältnis von uns Bischöfen zur Bundesregierung aufzurechnen. Nicht selten sind neidische Vergleiche gekommen: Nimmt die Kirche bei den staatlichen Regelungen eine Sonderstellung gegenüber zivilgesellschaftlichen Vereinen ein? Haben die Religionsgemein- schaften nicht Privilegien gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen wie z. B. Kunst und Kultur? Und wie schaut eine „christliche Politik“ gegenüber den Sozialpartnern aus, gegenüber Landwirtschafts-, Wirtschafts- und Arbeiterkammer? Instanzen wie NGOs, wie Medien, Kultur,

1 Heribert Prantl, Kirchenleere, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 182, 8./9. August 2020.

2 Beispielsweise wurde ich in diesem Zusammenhang in einem Mail vom 28. April 2020 auch auf die Mündigkeit der Gläubigen hingewiesen: „Nun zur etwas unrühmlichen Rolle der Kirche. Ich verstehe die Reaktion der öster- reichischen katholischen Kirche in diesem Zusammenhang nicht. Wenn einmal ein oder zwei Sonntagsgottes- dienste ausfallen, ist das noch akzeptabel. Die ganze Karwoche und das große Osterfest zu opfern war für mich eine maßlose Übertreibung. Die Gläubigen sind mündig genug zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind. (…) Dass sich da die Kirche nicht zur Wehr gesetzt hat, verstehe ich nicht.“

3 Stellvertretend für eine Vielzahl an Zuschriften zitiere ich aus einem Mail vom 21. April 2020: „Warum setzen sich unsere Kirchenführer nicht vehement dafür ein, dass die Kirchen wieder geöffnet werden? (…) wo ein Wille da ein Weg, wo kein Wille da eine Ausrede (…) Warum bemühen sich alle möglichen Organisationen um Öffnung ihrer Einrichtungen aber die Kirche nicht? Kaum Zugang zu den Sakramenten - ein Skandal!“

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Sport …, die frei die Gesellschaft mitgestalten, sind durch Corona stärker staatlich und recht- lich gebunden als es die Kirchen sind.

(3) Gefüge und Vernetzungen

Das Gesamtgefüge der Gesellschaft wird in der gegenseitigen Abhängigkeit und Vernetzung deutlicher, als eine vermeintliche Autonomie der Lebenswelten ahnen lassen würde. Klar ist, dass eine ausschließliche Individualisierung nicht funktioniert, nicht lebbar ist. COVID, Leid, Krankheit und Tod sind natürlich zutiefst persönliche, existentielle und individuelle Erfahrun- gen. COVID hat uns die Gesundheit als politische, als ethisches, als wirtschaftliches, als wis- senschaftliches, als kulturelles Problem vor Augen geführt. Die ethische Frage der Ressourcen stellt sich für die Medizin, für die Wissenschaft, für die Wirtschaft und Technik, für Pflege, Therapie und auch für die Seelsorge. Die Polaritäten von Macht und Gerechtigkeit, Meinungs- freiheit und die Verbindlichkeit staatlicher Gesetze, Demokratie und Notstand werden uns neu bewusst.

Und das gilt auch für die Grundvollzüge von Kirche: für Kerygma (Verkündigung), Diakonie und Caritas, für Liturgie, für Koinonia und missio. Verkündigung vollzog sich vermehrt über Videobotschaften (Kinder, Jugendliche, MaturantInnen, Arbeitslose, Banken …), virtuelle Me- dien und Fernsehen mit allen Chancen, Eindimensionalitäten und Risiken. Liturgie war oft nur stellvertretend möglich. Und doch gab es da viel Kreativität, manchmal auch Stillstand bei Priestern und pastoralen MitarbeiterInnen. Und die Caritas stand vor den großen Herausfor- derungen den normalen „Betrieb“ für Menschen in Not, für Kinder und Jugendliche, für Men- schen mit Beeinträchtigung zu gewährleisten. Communio ereignet sich auch über Telefon, in der Hauskirche, beim Essen, bei Weggemeinschaften einer Obdachlosenwallfahrt …

Alle Grundvollzüge von Kirche sind ja nur inkarnatorisch zu leben, d. h. sie sind in eine solida- rische und kritische Zeitgenossenschaft hineingestellt. Das Unbehagen an bloßen Forderun- gen und an reinen Postulaten, an Idealen und an Träumen, an (nicht nur) moralischer Besser- wisserei oder beobachtender Kritik von außen ist nicht schwächer geworden4. Rein wissen- schaftstheoretisch ist klar, dass reine Fakten- und Evidenzorientierung für eine ethische und politische Urteils- und Entscheidungsfindung nicht ausreicht.

(4) Contact-Tracing und Reformkatalysatoren

Der Begriff Contact-Tracing, „Umgebungsuntersuchung“, beschreibt das Ermitteln von Kon- taktpersonen einer mit einer ansteckenden Krankheit infizierten Person. Ziel des Contact-Tra- cings ist es, Ansteckungsketten aufzudecken, die Ausbreitung infektiöser Krankheiten einzu- dämmen und neue Krankheiten besser zu verstehen. Konkret sucht man im Umfeld der er- krankten Person nach weiteren Personen, die mit ihr in engem Kontakt gestanden haben, um diese auf eine mögliche Ansteckung hin zu überprüfen, sie entsprechend medizinisch zu be- handeln, zu beraten oder zu isolieren. Relativ viele Menschen waren so genannte Kontaktper- sonen K 1 oder K 2, einige mussten in Quarantäne. Deutlich geworden ist in den letzten Monaten: Keiner ist eine Insel, keine ist eine Monade. Deutlich geworden ist, dass wir keine autarken, unverwundbaren Lebewesen sind. „Da habe ich mich doch an alles gehalten, und

4 Eine Frau, die gerade ein Lebenstief durchlebt, schrieb mir am 20. Mai 2020: „Durch eine familiäre Situation ist in mir ganz viel aufgebrochen und in dieser Lage habe ich festgestellt, dass mich nicht die Liturgie oder die Eu- charistie trägt, sondern Menschen die um mich sind. (…) In der Coronazeit habe ich in meiner Heimatpfarre nur morgens und abends die Kirchenglocken gehört, reichlich wenig, wenn‘s einem schlecht geht.“

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jetzt werde ich bestraft.“ Und es gibt Übertragung und Ansteckung durch den Virus, ohne dass jemand „schuld“ wäre.

Arbeit, Freizeit, Kultur, Wirtschaft, Mobilität, Kommunikation, Begegnungen sind nicht mehr so wie im Februar 2020. Das ist nicht nur Folge der Video- und Telefonkonferenzen. Massive Entzugserscheinungen bei Beziehungen und Freundschaften, die nicht zum eigenen Haushalt gehören, machten sich bemerkbar. Auch die Gemeinschaft im Glauben, in Gebet und Liturgie war neu zu buchstabieren. Nähe und Distanz im Umgang untereinander, Isolation und Sozial- kontakte, private Beziehungen und Öffentlichkeit: Wer hätte gedacht, dass das alles neu zu regeln und zu ordnen ist? Es wird uns bewusst, wie vulnerabel, wie verletzlich, fragil und zer- brechlich unser eigener Körper, aber auch unser gesamtes gesellschaftliches System ist. Nicht nur die Aktienkurse und die Wirtschaft sind weltweit vernetzt, auch Viren sind es. Von Compu- tersystemen haben wir es ja schon gewusst.

Die Besuchsverbote in den Krankenhäusern und Pflegeheimen haben nachhaltige Folgen.

Durch vermehrte Infektionen droht das System der Pflege und der Intensivstationen zusam- menzubrechen. Das liegt nicht so sehr am Mangel von Intensivbetten oder Beatmungsgeräten, sondern am Mangel an qualifizierten ÄrztInnen und medizinischem Personal.

Auf Dauer macht Isolation kränker und schließlich tot, die Vereinsamung erhöht die Sterblich- keitsrate. Was an Standards in der Begleitung von Sterbenden durch die Hospizbewegung in den letzten Jahrzehnten mühsam aufgebaut worden war, wie wir mit dem Sterben und den Sterbenden umgehen sollten, musste teilweise über Bord geworfen werden. In Italien (Ber- gamo) sind Priester bei der Seelsorge mit Sterbenden – ungeschützt und auch naiv – wie Fliegen gestorben. In allem und auch trotz allem gilt: „Lass mich in meiner Sterblichkeit nicht allein!“ (E. Levinas)

„Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Kain entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9) – Die Botschaft der Heiligen Schrift mutet uns zu, dass wir einander aufgetragen sind, einander Patron sind, füreinander sorgen, Verantwor- tung tragen, einander Hüter und Hirten sind. Das Evangelium traut uns zu, dass wir Freunde und Anwälte des Lebens sind, dass wir Lebensräume schaffen, in denen in die Enge getrie- bene Menschen Ja zum Leben sagen können. Nicht im Stich lassen und nicht im Stich gelas- sen werden, das zeichnet eine humane Gesellschaft und eine christliche Gemeinschaft aus.

Was brauchst du? Das können die Hilfe beim Einkaufen, Nachbarschaftshilfe oder telefonische Kontakte sein. Das könnte bedeuten, dass wir wieder einmal einen Brief schreiben. Und was es in Zeiten des Lockdown mit all den Maßnahmen braucht ist Sachlichkeit, Achtsamkeit und die Kraft der Zuversicht, der Hoffnung.

(5) Theologische Fragen

Der politische Imperativ bzw. die politische Vorgabe der Kontaktreduktion bzw. -vermeidung und die Absage von öffentlichen Gottesdiensten hat uns in den Zeiten der Corona-Krise hart getroffen und auch eine intensive theologische, liturgische und pastoraltheologische Diskus- sion ausgelöst. Der Pastoraltheologe Johann Pock sah in den Richtlinien der Österreichischen BIKO eine „vertane Chance“: Mit Verweis auf die Taufberufung der Gläubigen legte er indirekt die Wandlung von Brot und Wein zuhause mit oder ohne Bildschirm nahe. Der Schweizer Moraltheologe votierte für ein „kultisches Gedächtnismahl ohne Geweihte“. Man hatte den Ein- druck, dass das temporäre Versammlungsverbot in der Corona-Krise als Reformkatalysator für längst anstehende Veränderungen in der Kirche instrumentalisiert wird. Jan Heiner Tück sieht diese Forderung „traditionsvergessen, latent spaltungsträchtig und ökumenisch proble- matisch. Sie ist zunächst traditionsvergessen, weil in der Überlieferung der katholischen Kirche

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die Feier der Eucharistie an einen ordinierten Bischof oder Priester gebunden ist, der die Kon- sekrationsworte über Brot und Wein im Zusammenhang des eucharistischen Hochgebets nicht im eigenen, sondern im Namen Jesu Christi spricht. Sie ist sodann latent spaltungsträchtig, weil mit der Empfehlung von ‚Do-it-yourself‘-Messen der Weg in frei flottierende, um nicht zu sagen sektiererische Formen des Christentums beschritten wird. Das sakramentale Prinzip der Ordination ist Ausdruck des Gabe-Charakters der Sakramente.“5

Wenn man die Kommentare, Briefe und Nachrichten zu den Verordnungen der Bischöfe an- sieht, dann betreffen sie ganz zentrale theologische und anthropologische Themen: Wir erfah- ren als Einzelne und als Gesellschaft unsere Endlichkeit und Kontingenz. Wir sind nicht sou- verän. Das gilt für die Politik, die Ökonomie, die Gesellschaft und auch die Kirche. Wie können wir, die wir so gerne Herren und Frauen der Lage sind, mit Ohnmachtserfahrungen umgehen?

Aus der Umtriebigkeit der Corona-Blogs und Kommentare spricht bei aller Sorge um die Zu- kunft der Kirche vielleicht auch eine Unfähigkeit, zu warten und die Unterbrechung der Norma- lität als Anstoß zur Nachdenklichkeit zu nehmen. Jedes spirituelle Bedürfnis soll sofort gestillt werden. Die konsumistischen Imperative des Warenkapitalismus sind aber nicht auf die Kirche übertragbar. Die Not ist eine Not – und sie sollte als solche auch ausgehalten und nicht kaschiert werden. Die Frage der Souveränität betrifft unmittelbar die Gottesfrage und die Geschöpflichkeit des Menschen.

„Zu den zentralen Erkenntnissen der Viruspandemie gehören Wahrheiten, von denen man sonst nichts wissen will: Es gibt schuldloses Schuldigwerden: Der Andere kann mich allein durch seine Nähe ohne sein Wollen und ohne mein Wissen in Gefahr bringen – und umgekehrt.“6 Covid zeigt uns, dass wir durch die Erbsünde vernetzt sind. Manche sind Täter, andere Unterlassungssünder, wieder andere einfach ratlos. Probleme der Autorität, der Projektion, der Übertragung spielen da eine Rolle. Das öffentliche Bewusstsein im Hinblick auf Verbindlichkeit, Individualität und Freiheit spielt hinein. Überforderungen führen zu einer Grundstimmung der Defensive, der Müdigkeit und der Resignation. Gesetze und Regelungen werden maximal oder minimal ausgelegt, mit massiven Auswirkungen bzw. unmöglichen Konstellationen für das leitende Personal. Da gibt es Konsumentenhaltungen, da wird auf Kosten anderer gelebt, da sind massive Ängste da. Jede Gesellschaft ist ein höchst komplexes Gebilde.

„Es gibt Nächstenliebe auf Distanz: Fernbeziehungen pflegen Zuwendung mit Mindestabstand. Abstand halten ist Ausdruck von Wertschätzung. Zuneigung braucht Diskretion. Es gibt Zwangssolidaritäten. Sie werden nicht gestiftet durch ethische Überzeugungsarbeit, um den Menschen dafür zu interessieren, sich für mehr als nur für sich selbst zu interessieren. Vielmehr sind sie Resultat einer viralen Nötigung, die alle Kreise der Bevölkerung unter einen egalisierenden Handlungsdruck setzt.“7

(6) Gottesfrage?

Diffus und unübersichtlich sind insgesamt die Gottesvorstellungen, die in der Covidzeit artiku- liert wurden. Das wurden die Hygienemaßnahmen wie Mund-Nasen-Schutz, Abstand u. Ä. als

5 Jan-Heiner Tück, Warum Do-it-yourself-Messen keine Antwort auf die Krise sein können, in: https://www.katho- lisch.de/artikel/25027-warum-do-it-yourself-messen-keine-antwort-auf-die-krise-sein-koennen (1.4.2020).

6 Hans-Joachim Höhn, Corona-Theologie, in: https://www.feinschwarz.net/corona-theologie/?fbclid=IwAR1kjo- YLmBpGsxq5ZDpjG8ar0s0BQStepAQ5Rm-WNcgqGbWdgAvhpJ6thIA#more-28667

7 Ebd.

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Ausdruck dessen verstanden, dass die heutige Gesellschaft nicht mehr an die Allmacht Gottes glaubt und vertraut. Gott hält seine Hand über uns, da brauchen wir uns selbst nicht mehr zu schützen. Wenn es der Wille Gottes ist, dann nützen uns auch keine Maßnahmen gegen die Krankheit. Gott wurde nicht immer, aber doch auch immer wieder, als Jongleur in einem Mari- onettentheater (Kleist) vorgestellt, der alles in seiner Hand hält, alles lenkt und auch alles will- kürlich manipuliert oder die Bösen bestraft. Ein Handeln Gottes wird als Konkurrenz zum menschlichen Tun vorgestellt. Wenn Gott frei und allmächtig ist, dann müsse der Mensch ohn- mächtig und ganz dem Schicksal ausgeliefert sein. – Gegenüber der Religionskritik mit dem Vorwurf der Despotie und Heteronomie, aber auch gegenüber der These Hans Blumenbergs8, die Neuzeit als Selbstbehauptung des Menschen gegenüber einem despotischen absolutisti- schen Willkürgott sieht, ist die Freiheit Gottes der Ermöglichungsgrund der Freiheit des Men- schen. Einzig und allein die Einheit von Liebe und Allmacht in Gott könnte das letztlich Erfül- lende und Sinnverbürgende menschlicher Freiheit sein. Der einzige und zugleich lebendige Gott ist als absolute Freiheit zu denken. Nur wenn und weil Gott in sich vollendete Freiheit in Liebe ist, kann er Freiheit in Liebe nach außen sein.9

Ist in den vergangenen Monaten durch Corona die Theodizeefrage radikaler gestellt worden?

In Zeiten mit Seuchen wie der Pest, des Krieges oder von Naturkatastrophen war dies der Fall.

Leiderfahrungen wie Krankheit, Vereinsamung, Überforderung, Im-Stich-gelassen-Werden haben Bedeutung, Sterben und Tod haben Bedeutung. Eine wirkliche Dramatik und Gefähr- dung haben sie aber nicht immer vermittelt. Es sind eher Zahlen und Quoten der Infizierten, der Toten, der Intensivbetten, die über die Dringlichkeit und Wichtigkeit einer Pandemie ent- scheiden. Dadurch sind aus Fragen über Leben und Tod Medienevents geworden. – Wie viele Tote gab es bei einem Erdbeben, welche Stärke hatte dieses auf der Richterskala? Ein Erd- beben löst heute nicht mehr die Theodizeefrage aus wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, sondern führt zu statistischen Nachforschungen und Vergleichen. Der Tod ist eine Frage der Statistik. Zahlen sollen ein Verstehen des Ereignisses vermitteln. Oder Riesenverluste bei einem Betrugsskandal suggerieren Verständlichkeit, die sie in Wirklichkeit gerade nicht ver- mitteln. Ist es die Zahl der Hungertoten, die Solidarität provozieren kann? Oder erzeugt die unübersehbare Zahl von Opfer nicht eher Gewöhnung an das Sterben?

Eher qualitative Aussagen, z. B. über die spirituelle Dimension, über den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes oder gar über die moralische Qualität bestimmter Handlungen, über die existentielle und spirituelle Relevanz von Erfahrungen sind nur schwer vermittelbar. – Ich habe in den letzten Monaten kaum gehört: Wie kann der gute Gott das zulassen? Oder: Warum greift der liebende Gott nicht ein? Es war nicht so sehr das Bedürfnis einer Erklärung der Er- eignisse durch Gott oder nach einer Rechtfertigung Gottes angesichts der Pandemie. Theo- rien, Erklärungen, aber auch Postulate und Forderungen, Kritik und Besserwisserei gleiten letztlich ab wie Regen an einer wetterfesten Kleidung, weil sie keine Veränderung, keine Hei- lung, keinen Trost und keine Hoffnung vermitteln können. Weil Theorien, Erklärungen, Postu- late oder auch Anprangerungen und Kritik letztlich in uns bleiben, bleibt das Bewiesene, Er- klärte, Postulierte, Kritisierte selbst letztlich untätig und unwirksam.

8 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, 108–110; ders., Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1974, 187f. 201.229.

9 Thomas Pröpper, Fragende und Gefragte zugleich. Notizen zur Theodizee. In: Tiemo Rainer Peters u.a. (Hg.), Erinnern und Erkennen (FS für Johann Baptist Metz), Düsseldorf 1993, 61-72, hier 70.

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Stark ist, privat und auch öffentlich, zu hören: Gott, der Glaube und auch die Kirche sind nicht wirksam, nicht relevant, auch nicht systemrelevant. Die Selbstbehauptung von Christinnen und Christen hingegen lautet: Wir sind nahe bei den Menschen und wirksam in der Gesellschaft.

Seelsorge sei systemrelevant und bedeutsam. Die Behauptung der einen trifft sich nicht mit der Selbstwahrnehmung der anderen. Die Beschwörungsformeln der einen werden von den anderen nicht gehört und nicht „wahr“ genommen.

In der „Logik“ von Georg F. W. Hegel gibt es zwei Arten von Beweisen, auch von Bewährungen z. B. der Wahrheit oder der Glaubwürdigkeit Gottes: Mathematische Beweise hätten die Ei- genschaft, dass die Beweisführung ganz „in uns“ falle. Das Bewiesene ist hier untätig. Aber das gilt nicht für alle Beweisverfahren, denn wir können etwas beweisen, aber etwas kann sich auch „beweisen“: jemand kann seine Liebe, ihre Treue, ihre heilende und tröstende Kraft er- weisen.10 Das wäre der Anspruch: die standhaltende, die heilende, die tröstende, die Gemein- schaft, Hoffnung und Solidarität stiftende Kraft Gottes in der Negation, in der Krise, in Corona- zeiten zu erweisen. Im Ersten Korintherbrief heißt es: „Tod, wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Kor 15,55). In der Parallelstelle bei Hosea (13,14) heißt es sogar: „Tod, wo sind deine Seuchen, Unterwelt, wo ist dein Stachel?“

(7) Verrechtlichung und Verschwörungstheorien

Vorbei sind unsere Sicherheiten, Planungen und unsere Ansprüche. Wir wissen nicht, wie die Lage zu Weihnachten sein wird. Das Virus ist unkalkulierbar. Und die Wissenschaft bringt es auch auf keine Gewissheiten. Für Reinhard Haller ist das Virus ein Anti-Narzissmus-Virus. Es zeigt uns, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.11 Die Regelungen sind hineingesprochen in eine Situation der Unübersichtlichkeit in der Coronazeit, der Unsicherheit und Komplexität. Die Verrechtlichung aller Lebenswelten, Sicherheitsdenken und Bürokratie haben sehr viel mit Ängsten zu tun. Komplexität ist ein we- sentliches Merkmal unserer Transformationsgesellschaft. Die Komplexität führt zu Ungewiss- heit, daraus ergibt sich ein Gefühl der Überforderung. Und Überforderung führt auf Dauer zu Ermüdung und Erschöpfung. Angst ist nicht nur ein guter Ratgeber in Gefahr oder ein Signal in der Dunkelheit, sie kann auch unberechenbar und sogar böse machen. Eine Reaktion auf diese Unsicherheit und Unbehaustheit ist der Fundamentalismus. Fundamentalismus meint (auch) ein Denkverhalten, das die komplexe Wirklichkeit auf Überschaubares reduzieren will.

Auf der Suche nach eindeutigen Wahrheiten herrschen Schemata wie: Entweder-Oder, Schwarz-Weiß, Freund-Feind. Verschwörungstheorien treiben ihre Blüten.12

10 Jürgen Kaube, Hegels Welt, Berlin 2020, 442.

11 Kurier 1. November 2020, 7.

12 Unter dem Titel „Der freimaurerische Plan zur Zerstörung der Katholischen Kirche“ bekam ich am 20.9.2020 eine Nachricht: „Mit der Kraft Gottes und mit der Einführung des Gebetes zum Erzengel Michael vor dem Schlusssegen jeder Eucharistie könnt ihr Priester einen entscheidenden Dienst für den Herrn machen. Schon spannend zu lesen, wie die Freimaurer ihren Plan niedergeschrieben haben um die Katholische Kirche zu ver- nichten – finden wir uns nicht gerade aktuell in einigen Punkten wieder? Wie kommt es, dass die weltliche Macht die kirchliche Autorität „DANK COVID“ so in Geißelhaft nehmen kann und die Kirche wehrt sich nicht, nein in manchen Dingen verschärft sie noch die Auflagen?“ (G.H.S.)

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(8) Der/Die Einzelne und die Gesellschaft

Deutlich und auch kontrovers angesprochen wurde auch das Verhältnis zwischen dem Indivi- duum und der Gesellschaft, zwischen der einzelnen Person und der Gemeinschaft der Kirche, zwischen Recht und Demokratie, zwischen Mündigkeit und Pflicht. Gelten Gesetze und Recht nur für den, der sie in Freiheit annimmt? Und werden Regelungen in der Kirche nur für jene in Kraft gesetzt, die aus freien Stücken ja dazu sagen? Klar wurde durchaus, dass die Einhaltung auch für jene verpflichtend ist, die den Gesetzen und Regelungen kritisch gegenüberstehen.

Nicht nur in Krisenzeiten darf das Recht „nicht von der Willkür der Einzelnen abhängig“ sein (Hegel, WW 7, 159). Der Geltungsanspruch von Regelungen und Gesetzen kann nicht davon abhängen, ob sie „von Einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werden oder nicht.“

(WW 7, 401). In der Pandemie sind die Menschenrechte auf Leben, Ernährung, Gesundheit stärker als das Recht auf Bildung (Schulschließungen), als das Recht auf wirkliche Religions- freiheit (Aussetzen öffentlicher Gottesdienste), als das Recht auf Meinungsfreiheit (Versamm- lungsverbote …) oder die Freiheit der Niederlassung, des Handels und der Reisefreiheit. Und es gibt massive Konflikte in Pflegeheimen: wohl gelten Besuchsverbote von außen, aber die Pflegeheime müssen nach außen offenbleiben. Da gab es Klagen wegen Freiheitsbeschrän- kungen und ein Urteil des OGH. Alte und zu pflegende Personen wurden von den Angehörigen zu Familienfesten abgeholt und haben COVID mit ins Heim zurückgebracht. Bei der Arbeit mit beeinträchtigten Menschen ist Inklusion derzeit nicht möglich, was Vereinsamung zur Folge hat. Selbstverletzungen und Aggressionen nehmen bei diesen Menschen zu. Einrichtungen müssen schließen, weil das Personal in Quarantäne muss.

(9) Die Kraft der Berührung

War die Aufklärung bzw. die Moderne großteils mit der Gefahr der Moralisierung von Religion und Spiritualität verbunden, so birgt die Postmoderne in ihren populären Formen die Gefahr der Ästhetisierung. Diese ist verbunden mit einer Derealisierung des Realen. Wirklichkeit ist ästhetisch modellierbar und manipulierbar. Die Wirklichkeit hat eine Verfassung des Produ- ziertseins, der Veränderbarkeit, der Unverbindlichkeit, des Schwebens.13 Mit der Ästhetisie- rung verbunden ist die Funktionalisierung des Spirituellen. Abraham Joschua Heschel, der jüdische Rabbiner und Religionsphilosoph (1907 – 1973) sieht im Faktum der menschlichen Bedürfnisse ein großes Problem. So warnt er vor der Gefahr, dass Bedürfnisse zu Zielen wer- den. Er warnt vor einer Verkrümmung der Sorge um die transzendente Bedeutung in eine Sorge um Bedürfnisbefriedigung. Demgegenüber betont er, dass Bedürfnisse nicht gegen die Humanität und die Ausrichtung des Menschen auf Transzendenz wirken sollen. Nach Heschel sterben mehr Menschen an Bedürfnisepidemien als an Krankheitsepidemien.14 In einer tech- nologisch orientierten Gesellschaft tendiert auch das geistliche Leben und das Gebet dahin, dass es eine Funktion erfüllt: „Geistliches Leben ist kein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnis- sen. Es ist so wichtig, uns nicht anzugewöhnen, unsere Geisteshaltung vom Funktionellen her bestimmen zu lassen, wie eine Maschine, die man in Betrieb setzen kann, oder wie ein Ge- schäft, das man nach eigenen Berechnungen betreibt.“15 Mit der Ästhetisierung des Religiösen

13 Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart (Reclam) 1996, 204.

14 Abraham Joschua Heschel, Man is not Alone. A philosophy of Religion, New York 1993, 182.

15 Abraham Joschua Heschel, Der Mensch fragt nach Gott. Untersuchungen zum Gebet und zur Symbolik, Neu- kirchen – Vluyn 41999, 74; vgl. Bernhard Dolna, An die Gegenwart Gottes preisgegeben. Abraham Joschua Heschel – Leben und Werk, Mainz 2001, 281.

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geht die Individualisierung Hand in Hand.16 Was Individualisierung im religiösen Kontext meint, lässt sich auf die Kurzformel bringen: Spiritualität im ‚do it yourself-Verfahren’, „Was Gott ist, bestimme ich!“17

(10) Selbst- und Systemerhaltung

Negativ und abgrenzend entwickelt sich das Selbst- bzw. Ichbewusstsein, wenn es durch Ent- ledigung von allem Fremden angestrebt wird. Man will sich selbst und die Besonderheit der eigenen Identität durch Ausstoßen der anderen sichern. Alles, was im Gegensatz zum Eige- nen, Nahen, Bekannten, Gewohnten und Vertrauten steht, ist dann nicht geheuer und wird als Bedrohung erfahren. Das führt dann zum Tanz um das goldene Kalb der Identität, um die persönliche, berufliche, nationale, politische, männliche, weibliche, kirchliche, parteiliche, ide- ologische Identität. Selbstbewusstsein und Zelebration werden eins. Eitelkeit und Arroganz gegenüber dem anderen machen sich breit. Im Kern ist diese narzisstisch orientierte Identität aber morbid: „Während das Subjekt zugrunde geht, negiert es alles, was nicht seiner eigenen Art ist.“18 Freiheit wäre Sich-Losreißen. Das Selbsterhaltungs-Ich zeichnet sich durch Miss- trauen, Rationalität, Kontrolle und Kritik aus. Allein durch Kontrolle und Abgrenzung, durch Social-Distancing werden die Kranken nicht gesund. In der Dramatik dieser Tage wäre die Fixierung auf das eigene Spiegelbild fatal. Es ist interessant, dass z. B. bei der Werbung für Apotheken die Präsenz, das Dasein „für andere“ hervorgehoben wird: für andere da sein, für andere verzichten, für andere eintreten … Die erste Frage bei unseren Krisenbesprechungen war nicht: wie kommen wir über die Runden? Wie halten wir das eigene System aufrecht?

Auch nicht einfach die Behauptung: Wir sind systemrelevant! Sondern: Wer wird jetzt überse- hen? Wer braucht jetzt was? Wie können die Leute gut leben und auch sterben?

Wir sind keine Beobachter, sondern leben mittendrin und erfahren die Krankheiten, die Ängste, die seelischen Schwierigkeiten und die wirtschaftlichen Probleme der Zeitgenossen auch selbst. Die erste Frage ist für mich: Was brauchen die Menschen jetzt? Sie wollen wahrge- nommen werden, freuen sich, wenn ihnen jemand zuhört und sie versteht. Die Einsamkeit wird massiver erlebt verbunden mit der Frage: werde ich im Stich gelassen? Aufmerksamkeit und Wertschätzung sind ganz entscheidend. Die Bereitschaft zu helfen, z. B. Nachbarschaftshilfe und auch der Zusammenhalt haben sich in den Phasen des Lockdowns verstärkt gezeigt. Froh bin ich in diesen Zeiten, dass unser Gesundheitswesen so gut ist, dass der Sozialstaat funkti- oniert und nicht in Frage gestellt wird. Dankbar bin ich allen gegenüber, die für die Grundver- sorgung, aber auch für das Krisenmanagement verantwortlich sind. Und es wird auch klar, wie wichtig eine regional gut verankerte Wirtschaft ist. Ich sehe es als Aufgabe der Kirche, das Potential der Solidarität und des Zusammenhalts zu heben, Vertrauen und Lebensmut zu stär- ken und auch zu trösten (nicht zu vertrösten). Wir entzündeten Lichter der Hoffnung und bete- ten füreinander und für die Menschen in unserem Land.

16 Vgl. B. Bruteau, Erlebst du, was du glaubst? Was der Westen vom Osten lernen kann, Freiburg - Basel - Wien 1998.

17 Vgl. Hans Joachim Höhn, Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf 1998, 70; H. Barz, Meine Religion mache ich mir selbst, in: Psychologie heute 22 (1995) Heft 7, 20-27; I. U. Dalferth,

„Was Gott ist, bestimme ich!“ Theologie im Zeitalter der „Cafeteria-Religion“, in: ThLZ 121 (1996) 416-430.

18 Theodor W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Ges. Schriften 4, hg. Von R.

Tiedemann), Frankfurt 1980, 51.

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(11) Menschliche Nähe und Gegenwart

Deutlich geworden ist in den vergangenen Monaten vielleicht auch, was uns emotional oder auch spirituell abgeht. Zärtlichkeit, Nähe, Körperkontakt, Umarmungen, das gemeinsame Fei- ern, Sinnlichkeit, da fehlt einfach etwas. Vielleicht ist auch bei den Einschränkungen der Litur- gie ein Bewusstsein von dem entstanden, was fehlt. Oder ein Wissen darum, wie kostbar die gemeinsame Feier der Eucharistie ist. Welche Nahrung braucht unser Hunger nach Liebe, nach Geborgenheit, nach Zärtlichkeit? Vielleicht haben wir schon vergessen, dass wir Gott vergessen haben (Eberhard Tiefensee).

Geschmäcker sind verschieden. De gustibus non est disputandum. – Entscheidend ist z. B.

für Immanuel Kant, dass Sinne und Sinnlichkeit für die Begründung der Sittlichkeit keinerlei konstitutive Bedeutung haben. Kant fragt zunächst in der Kritik der praktischen Vernunft nach den Bedingungen der Möglichkeit von Sollensaussagen. Nicht die Religion, nicht empirische Praxis, nicht die Sinnlichkeit können diese Frage beantworten, sondern nur die reine Vernunft.

Der Mensch ist ein intelligibles Wesen, das heißt, er ist in der Lage, in der Vernunft unabhängig von sinnlichen, auch triebhaften Einflüssen zu denken und zu entscheiden. Immanuel Kant hatte Religion auf Moral reduziert. Er begnügte sich mit der Hoffnung, zu der unbegreiflichen und niemals gewissen „Revolution der Gesinnung“ durch „eigene Kraftanwendung“ zu gelan- gen.19 Freiheit und Liebe nur zum Postulat des Sollens zu erheben, ist aber „selber Bestand- stück der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwanghafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt.“20

Ohne menschliche Nähe und Freundschaft, ohne Berührung verkommen die Menschen emo- tional. „Er wendet sein Interesse ab vom Leben, von den Menschen, von der Natur und den Ideen – kurz, von allem, was lebendig ist; er verwandelt alles Leben in Dinge, einschließlich seiner selbst und der Manifestationen seiner menschlichen Fähigkeiten der Vernunft, des Se- hens, des Hörens, des Fühlens und Liebens. … und viel von der Liebe und Zärtlichkeit, die ein Mensch besitzt, wendet er seinen Maschinen und Apparaten zu. … von der synthetischen Nahrung bis zu den synthetischen Organen wird der ganze Mensch zum Bestandteil der tota- len Maschinerie, welche er kontrolliert und die gleichzeitig ihn kontrolliert. … Die Welt ist zu einer Welt des „Nichtlebendigen“ geworden; Menschen sind zu „Nichtmenschen“ geworden – eine Welt des Toten.“21

Papst Franziskus macht darauf aufmerksam, „dass auch dem Spüren und den Sinnen eine eigene Würde und Bedeutung zu Eigen ist.“ Er will „Denken und Spüren aufeinander bezogen wissen, denn ohne Gespür könnte das Denken und auch die Vernunft kalt und herzlos werden.

Wir können Freude und Barmherzigkeit unterschiedlich verstehen, aber wenn wir sie nicht leibhaftig und das heißt eben auch körperlich erfahren haben, bleiben diese Begriffe hohl und leer.“22

19 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (WW 7) 698 (B 54, A 50), 702 (B 60, A 56)

20 Theodor W. Adorno, Stichworte, Frankfurt a. M. 1969, 99.

21 Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, in: GesamtausgabeVII-318, hg. von Rainer Funk 2016.

22 Erwin Dirscherl, Unser Körper in Zeiten einer „Revolution der Zärtlichkeit“. Von der Gnade des Spürens und dem Sinn der Sinne, in: IKaZ 45 (2016), 309-318, hier 311.

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Der Soziologe Hartmut Rosa23 hat „Resonanz“ als wesentliche Kategorie unseres Zugangs zur Welt herausgearbeitet. Resonanzbeziehungen sind das Suchen und Finden von „Wider- hall“ in der Welt aber auch in den Herzen der Menschen. Resonanzbeziehungen bedeuten ein wechselseitiges Berühren und Berührtwerden. Allen Resonanzerfahrungen wohnt – so Rosa – ein unaufhebbares Moment der Unverfügbarkeit inne. Wenn man diese Beziehungen zu kontrollieren oder über sie zu verfügen sucht, zerstört man sie.

Für Papst Franziskus gehört eine elementare Leidempfindlichkeit und Leidenschaft für die Mit- welt zum Humanum.24 Johann Baptist Metz sieht in der Gerechtigkeit suchenden Compassion das Schlüsselwort im Zeitalter der Globalisierung. Compassion schickt zu den politischen, so- zialen und kulturellen Konflikten in der heutigen Welt. Fremdes Leid wahrzunehmen gehört zur Friedenspolitik, zur sozialen Solidarität angesichts des eskalierenden Risses zwischen Arm und Reich. Freiheit ohne Mitleid, ohne Empathie wird zur Tyrannei. Mitleid ohne Macht wird zur Verdoppelung des Unglücks. Es geht um Empathie, Einfühlungsvermögen und Offenheit, die auch an den Leiden, Ängsten, Versagen des anderen teilnehmen kann. Wer braucht be- sondere Aufmerksamkeit, Solidarität, Dankbarkeit und Unterstützung: Kranke, Einsame, Pfle- gepersonal, Ärzte, Dienstleistungen, Arbeitslose, Kinder, Jugendliche, Obdachlose? Und wer sind die Verlierer, die Vergessenen in der Coronakrise? Was sind die physischen, psychischen und spirituellen Nöte dieser Zeit? Und was tröstet? Was ermutigt? Was lässt dranbleiben und gibt einen langen Atem?

Nicht zuletzt durch Corona wurde die Leiblichkeit als Ort der Gnade und der Präsenz Gottes deutlich bewusst, Leiblichkeit als Ort der Berührung und des Kontaktes, als Raum der Abgren- zung und der Verbindung. Gegenwart ist nicht gleich Gegenwart. Wir kennen die Redeweise:

Du bist doch ganz abwesend, du bist nur körperlich da und mit den Gedanken ganz woanders.

Solche defizienten Weisen der Präsenz sind nicht selten eine Konsequenz einer grundlegen- den Einstellung zum Leben bzw. Ausdruck eines tieferliegenden Mangels, worauf Blaise Pascal (1623 – 1662) in seinen Pensées hinweist: „Nie halten wir uns an die gegenwärtige Zeit. Wir nehmen das Zukünftige vorweg, als käme es zu langsam, oder wir rufen das Vergan- gene zurück, um es festzuhalten, als entschwände es zu rasch. ... Das ist so, weil uns das Gegenwärtige für gewöhnlich verletzt. ... Wir versuchen, ihm durch das Zukünftige Halt zu verleihen, und versuchen so über Dinge zu verfügen, die doch nicht in unserer Macht stehen, für eine Zeit, in die zu gelangen wir keinerlei Gewissheit haben. ... Also leben wir nie, sondern hoffen bloß zu leben. Und indem wir uns immerfort anschicken, glücklich zu werden, ist es unausweichlich, dass wir es niemals sind.“25

(12) Von Angesicht zu Angesicht

Wie werden wir angeschaut? Und wie blicken wir einander an? Mit Blicken sagen wir uns sehr viel: Zuneigung, Verliebt sein, Verachtung, Gleichgültigkeit. Wenn Blicke töten könnten… Im Bernardisaal des Stiftes Schlierbach gibt es die Darstellung eines „Allbeobachters“, d. h. der Betrachter wird vom Auge dieses Beobachters, der auch noch ein Fernrohr hat, angeschaut, wohin immer er sich im Raum bewegt. Im Bernardisaal in Schlierbach finden übrigens noch

23 Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.

24 Papst Franziskus, Enzyklika Laudato si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus, Vatikan Juni 2015.

25 Nr. 172 der Edition Brunschvicg.

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immer die mündlichen Matura- (Abitur-)Prüfungen statt. – Der „Allbeobachter“ kontrolliert, überprüft, ihm entgeht nichts, er schaut nie woanders hin oder einfach weg.

COVID kam in eine Ära intensiver digitaler Überwachungsinstanzen. Die Corona-App, die die jeweiligen Kontakte aufzeichnet, wurde von manchen als massiver Eingriff in die Persönlich- keitsrechte (miss)verstanden. Was als ethische Frage bleibt, ist die Verhältnismäßigkeit staat- licher Eingriffe. Und wie sind die Grundsätze des Rechtsstaates, wie z. B. Religions-, Mei- nungs- und Versammlungsfreiheit, aber auch Widerstandsrecht und Gemeinwohl im Krisenfall miteinander zu gewichten?

Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnete das „Panoptikum“ als Modell moder- ner Überwachungsgesellschaften und als wesentlich für westlich-liberale Gesellschaften, die er auch Disziplinargesellschaften nennt.26 Alle Bauten des Panopticon-Prinzips nach Jeremy Benthams architektonischem Entwurf zeichnen sich dadurch aus, dass von einem zentralen Ort aus alle Fabrikarbeiter oder Gefängnisinsassen beaufsichtigt werden können. Von diesem Konstruktionsprinzip erhoffte sich Bentham, dass sich alle Insassen zu jeder Zeit unter Über- wachungsdruck regelkonform verhalten (also abweichendes Verhalten vermeiden), da sie je- derzeit davon ausgehen müssten, beobachtet zu werden. Dies führe vor allem durch die Re- duktion des Personals zu einer massiven Kostensenkung im Gefängnis- und Fabrikwesen, denn das Verhältnis zwischen erzeugter Angst, beobachtet zu werden, und tatsächlich geleis- teter Überwachungsarbeit ist sehr hoch.

„Ein Mensch, der recht sich überlegt, dass Gott ihn anschaut unentwegt, fühlt mit der Zeit in Herz und Magen, ein ausgesprochnes Unbehagen. Und bittet schließlich ihn voll Graun, nur fünf Minuten weg zu schaun. Er wolle zwischendurch allein, recht brav und artig sein. Doch Gott davon nicht überzeugt, ihn ewig unbeirrt beäugt.“ (Eugen Roth) – In der Turmkapelle des Brixner Doms (Südtirol) findet sich ein Fresko eines „allsehenden Christus“. Wohin immer sich der Betrachter in der Turmkapelle bewegt, er wird von Christus angesehen. Im Menschen Je- sus Christus wird das Antlitz Gottes sichtbar. Nikolaus Cusanus schreibt im 15. Jahrhundert zum „allsehenden Christus“: „Dein Sehen, Herr, ist Lieben, und wie dein Blick mich aufmerk- sam betrachtet, dass er sich nie abwendet, so auch deine Liebe. Soweit Du mit mir bist, soweit bin ich. Und da dein Sehen dein Sein ist, bin ich also, weil du mich anblickst. Indem du mich ansiehst, lässt du, der verborgene Gott, dich von mir erblicken. Und nichts anderes ist dein Sehen als Lebendigmachen.“27

(13) Stärkung des Immunsystems

COVID stellt uns vor Augen, dass zu den ethischen Pflichten der Aufbau einer Lebenskultur gehört, die sich auch in der Krise bewährt. Zu einer Ethik von Gesundheit und Krankheit ge- hören Fragen des Lebensstils mit Ernährung, Bewegung, Schlaf, Nähe und Distanz. – Diese Zeiten sind auch eine Herausforderung, unser Immunsystem gegenüber anderen tödlichen Viren zu stärken. Tödliche Viren sind z. B. Hass, Verachtung, Feindbildbedürfnisse oder auch Gleichgültigkeit. Auch Panik, Hysterie oder Aggression stärken nicht wirklich das eigene Selbst. Wer rein vom Ehrgeiz getrieben ist oder nur um seinen Machterhalt besorgt ist, kann nicht wirklich für andere da sein. Und wer ständig überfordert ist, kann nicht zum Segen für sich und für andere arbeiten. Alles was unfrei, abhängig, süchtig macht (Geld, Drogen, Spiel,

26 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 2010.

27 Nikolaus von Kues, De visione Dei/Die Gottesschau, in: Philosophisch-Theologische Schriften, hg. und eingef.

von Leo Gabriel. Übersetzt von Dietlind und Wilhelm Dupré, Wien 1967, Bd. III, 105-111.

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Geltung …) schwächt im Grunde das eigene Leben. Was macht „resilienzfähig“ oder was macht unser Leben im guten Sinn robuster? Krisen wie die Corona Epidemie sind eine Her- ausforderung, eine gute Verankerung zu suchen, am Fundament des Lebens zu arbeiten. Für Viktor E. Frankl, einem Wiener jüdischen Arzt und Psychotherapeuten, der das Grauenvolle der Konzentrationslager erlebt und überlebt hat, ist ein Schlüsselsatz, um in Extremsituationen zu bestehen: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“28Trotzdem „Ja zum Leben“

zu sagen und auch zum Sterben, das gilt es lebenslang einzuüben.

Was stärkt das Rückgrat? Es ist die Erfahrung der Freude und der Schönheit. Sternstunden, Taborstunden, Erfahrungen des Glücks, der Lebensfreude, der intensiven Beziehung sind An- ker der Hoffnung. Sie geben Zuversicht auch in dunklen Stunden und lassen nicht verzweifeln.

Vertrauen und Hoffnung in unübersichtlichen Zeiten geben verlässliche Beziehungen, Freunde und der Zusammenhalt in der Gesellschaft über alle Grenzen und Gegensätze hinweg. Es war für mich persönlich aufbauend, in den vergangenen Monaten teilen zu dürfen, was abgeht, was mir fehlt: das waren persönliche Kontakte zu Freunden, Begegnungen mit der Herkunfts- familie, aber auch die Feier der Liturgie und Sakramente. Die Coronazeit war und ist durchaus eine Zeit der Dankbarkeit für vieles, was sich als nicht selbstverständlich erwiesen hat. Gerade in Krisenzeiten haben eine gute Ordnung und Struktur des Tages und auch damit verbundene Rituale getragen. Und wir durften auch die Hoffnung teilen. Das war zu Ostern eine besondere Erfahrung.

In Zeiten, in denen die äußere Mobilität stark eingeschränkt ist, können wir die Reise nach innen antreten. Dag Hammarskjöld: „Die längste Reise ist die Reise nach innen.“29 Unsere Seele braucht Zeiten der Stille, braucht Freiräume, in denen wir uns nicht gehetzt und gedrängt fühlen, nicht unter Druck und Zwang stehen. - Eine positive Kultur der Einsamkeit ist Voraus- setzung für jede schöpferische, geistige und geistliche Tätigkeit. „Hätte ich nicht eine innere Kraft, so müsste man verzweifeln an solchem Wahnsinn des Lebens.“30 So schrieb Carl Lam- pert, der am 9.11.1944 in Halle an der Saale hingerichtet wurde, in einem seiner Briefe. Inner- lichkeit geht so gesehen nicht auf Kosten der Zuwendung. Besonnenheit läutert und entgiftet das Engagement, sie ist Kraft für das Handeln und für die Kommunikation.

Und Nahrung, d. h. Trost, Ermutigung und Stärkung für die Seele ist das Wort Gottes: Brot des Lebens, höchste Richtschnur des kirchlichen Glaubens, Nahrung, Halt, Kraft, reiner unversieg- licher Quell des geistlichen Lebens, Glaubensstärke, Seele der Theologie - das alles ist für das 2. Vatikanische Konzil das Wort Gottes. Nahrung für die Seele ist die Eucharistie: „Du schenkst uns das Brot, die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit. Wir bringen dieses Brot vor dein Angesicht, damit es uns zum Brot des Lebens werde“, so heißt es im Gabengebet der Messe.

Ich möchte in diesen Wochen alle ermutigen, das Beten zuhause neu einzuüben. Im Blick auf den Kommunionempfang empfehle ich mit Kardinal Schönborn, die alte Gewohnheit der geist- lichen Kommunion wieder zu beleben. Diese besteht etwa in der Bibellektüre oder im Gebet

28 Viktor E. Frankl, „… trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, TB 1977, 133.

29 Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg, München 1965, 31.

30 Vgl. Susanne Emerich (Hg.), Hätte ich nicht eine innere Kraft. Leben und Zeugnis des Carl Lampert, Innsbruck (Tyrolia) 2011.

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z.B. für die vielen die sich um ihren Arbeitsplatz Sorgen machen, die in wirtschaftliche Schwie- rigkeiten geraten, oder die Kranken. Gebet und Liturgie stiften Mut und Vertrauen und stärken die Gemeinschaft.

(14) Strukturprozesse

Vielleicht klingt es bösartig, aber es ist dennoch oft so, dass die Leidenschaft unserer Diskus- sionen und die Energie unserer Arbeit mehr den Strukturen als den Charismen gehört. – Struk- turen schaffen Räume und Felder, in denen bestimmte Kräfte wirken. Es sind quasi Kraftfelder, die mich auch umgreifen und von einer Atmosphäre, von Bewegungen und einer Dynamik, ignatianisch würde man auch sagen, von Geistern bestimmt sind. Diese Felder können durch- aus eine schöpferische, animierende oder auch eine lähmende, ermüdende Kraft entfalten.

Man wird z. B. schon durchaus die Erfahrung gemacht haben: In manchen Räumen lässt sich leicht reden, in anderen bleibt das Wort stecken. Es gibt so etwas wie die Schwerkraft der Gnade, aber auch die aussaugende Wirkung von Institutionen, d. h. Kommunikation und Be- ziehung können gefördert werden, die Feier des Lebens und des Glaubens, Räume der Spiri- tualität können geöffnet werden, aber es gibt auch Blasen, geschlossene Systeme. Manchmal sind das so etwas wie Möglichkeitsfelder künftiger Ereignisse, nicht selten auch die Reproduk- tion des immer Gleichen, und wenn wir das immer Gleiche reproduzieren, dann werden wir alt, sterben wir aus.

In Strukturen verleiblicht sich Hoffnung, aber auch Resignation und Stillstand. Sie können Ver- leiblichungen des Rechts und der Solidarität sein, aber eben auch selbstgenügsame, immuni- sierende, sich selbst immunisierende Systeme. Wenn wir in diesen Monaten unsere Struktur anschauen, dann geht es nicht nur um organisatorische Fragen, sondern um Weichenstellun- gen, in denen theologische Grundsatzentscheidungen zur Debatte stehen.

Auf andere Weise hat Papst Franziskus diese Thematik aufgegriffen. Unter der Überschrift:

„Die Zeit ist mehr wert als der Raum“ schreibt er in Evangelii Gaudium31: „Dem Raum Vorrang geben bedeutet sich vormachen, alles in der Gegenwart gelöst zu haben und alle Räume der Macht und der Selbstbestätigung in Besitz nehmen zu wollen. Damit werden die Prozesse eingefroren. Man beansprucht, sie aufzuhalten. Der Zeit Vorrang zu geben bedeutet sich damit zu befassen, Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen. Die Zeit bestimmt die Räume, macht sie hell und verwandelt sie in Glieder einer sich stetig ausdehnenden Kette, ohne Rückschritt. Es geht darum, Handlungen zu fördern, die eine neue Dynamik in der Ge- sellschaft erzeugen und Menschen sowie Gruppen einbeziehen, welche diese vorantreiben, auf dass sie bei wichtigen historischen Ereignissen Frucht bringt.“ (Nr. 223) Papst Franziskus spricht von einer Kirche, die dem Geheimnis Gottes Raum gibt; eine Kirche, die dieses Ge- heimnis in sich selbst beherbergt, so dass es die Leute entzücken und sie anziehen kann.

Allein die Schönheit Gottes kann eine Anziehungskraft ausüben. Das Ergebnis der pastoralen Arbeit stützt sich nicht auf den Reichtum der Mittel, sondern auf die Kreativität der Liebe. Sicher sind auch Zähigkeit, Mühe, Arbeit, Planung, Organisation nützlich, allem voran aber muss man wissen, dass die Kraft der Kirche nicht in ihr selbst liegt, sondern sich im Geheimnis Gottes verbirgt. Bei unseren Aufbrüchen soll das Gepäck nicht zu schwer sein. Ist der Rucksack voll mit Bürokratie, mit Rechthaberei, mit Sicherheitsdenken oder auch mit materiellen Ansprü- chen, würde sich sehr bald Müdigkeit und Erschöpfung einschleichen. Papst Franziskus

31 Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben EVANGELII GAUDIUM über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, (VApS Nr. 194), Bonn 2013.

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spricht von einer „Grammatik der Einfachheit“, ohne die sich die Kirche der Bedingungen be- raubt, die es ermöglichen, Gott in den tiefen Wassern seines Mysteriums zu „fischen

+ Manfred Scheuer Bischof von Linz

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