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„Blick zurück im Zorn“

D ie Entwicklung der Soziologie in Bulgarien

Nikolai Genov

September 1993

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Reichpietschufer 50, D -10785 Berlin

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Experience“ in: Mike Keen, Janusz Mucha (Eds.), Eastern Europe in Transformation: The Impact o f Sociology. Westport: Greenwood Publishing Group 1994

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1. Einleitung 4 2. Die Entstehung der modernen bulgarischen Soziologie 6 3. Nationale und internationale Dimensionen einer

reifenden soziologischen Fachgemeinschaft 14

4. Soziologie in einer sich transformierenden Gesellschaft 23

5. Abschließende Bemerkungen 27

Literaturverzeichnis 28

A b stract

Obwohl die bulgarische Soziologie erst auf eine relativ kurze Geschichte zurückblicken kann, hat sie dennoch innerhalb weniger Jahrzehnte bereits eine bewegte Entwicklung durchlaufen.

Nach unscheinbaren Anfängen in der Vorkriegszeit, in der sie nur bei wenigen Linksintellektuellen Resonanz fand, begann ihr mühsamer Aufstieg in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Bulgarien in den sozialistischen Staatenblock integriert wurde.

Zunächst angefeindet als ideologisch nicht mit den Prinzipien des Marxismus vereinbar, gewann sie seit den fünfziger und sechziger Jahren intellektuell und institutionell dennoch zunehmend an Kontur. Ihr eigentlicher internationaler Durchbruch kam 1970 mit der Ausrichtung des VII. Weltkongresses für Soziologie in Varna. Danach war ihr Stand innerhalb der Wissenschaft und Politik Bulgariens unangefochten, und es entstanden zahlreiche empirische und theoretische Arbeiten, die auch in der internationalen Scientific Community Beachtung fanden. Wachsende soziale Spannungen innerhalb der bulgarischen Gesellschaft blieben auch in der nationalen Soziologie nicht ohne Spuren. Die Wende in Osteuropa nach 1989 stürzte schließlich die bulgarische Soziologie in ihre bisher wohl schwerste intellektuelle wie institutioneile Krise. Einerseits war sie durch die Unterstützung, die sie seitens der Kommunistischen Partei erfahren hatte, in den Augen vieler kompromittiert. Andererseits verloren durch die sich verschärfende Wirtschaftskrise zahlreiche Soziologen ihre Arbeitsplätze in Wissenschaft, Industrie, Landwirtschaft und Verwaltung. Die zukünftigen Entwicklungen innerhalb der bulgarischen Gesellschaft werden auch entscheidende Auswirkungen auf das weitere Schicksal der Disziplin haben.

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1. Einleitung

Zeiten des Umbruchs führen zu allgemeiner Verunsicherung. In solchen Zeiten muß daher die Geschichte insgesamt, auch die Geschichte der Wissenschaften, neu durchdacht werden. Eine derartige Herausforderung provoziert unterschiedlichste Reaktionen. So würde ein typischer bulgarischer Soziologe seine Aufarbeitung der nationalen Geschichte seiner Disziplin wahrscheinlich mit dem englischen Dramatiker John Osborne auf die Formel "Blick zurück im Zorn" bringen. Eine noch einfachere Reaktion auf diese Herausforderung besteht jedoch darin, einige Abschnitte dieser Geschichte einfach zu vergessen. Dafür gibt es nämlich einige gute Gründe. War nicht die angesehene "bulgarische Schule" ideologisch in der marxistischen Soziologie verhaftet gewesen? Und hatte sie nicht politischen Rück­

halt in der Kommunistischen Partei Bulgariens gehabt? Diese Fragen lassen sich auch in anderer Form stellen: Waren nicht führende Soziologen in großem Umfang an Entscheidungsprozessen auf höchster politischer Ebene beteiligt gewesen? Und hatten nicht soziologische Institutionen wie auch die soziologische Forschung und Lehre enge Kontakte zu den autoritären Strukturen des "Ancien regime" gepflegt?

Wie auch immer man diese Fragen formuliert, die Antworten fallen deprimierend aus. Denn es besteht kein Zweifel daran, daß die moderne bulgarische Soziologie sich in Gemeinsamkeit mit und nicht gegen einen historischen Typ sozialer Organi­

sation herausgebildet hat, der heutzutage als eine gesellschaftliche Fehlentwicklung gilt. Belege dafür gibt es in hinreichender Zahl. Die politische Zusammensetzung der Teilnehmer des V. Ordentlichen Kongresses der Bulgarischen Soziologischen Vereinigung bietet einen sprechenden Beweis für diesen Sachverhalt. Dieser Kongreß fand im Frühjahr 1990 statt, und der tiefgreifende Wandel in Osteuropa hatte auch Bulgarien längst erfaßt. Doch 483 der insgesamt 764 Delegierten gaben bei der Anmeldung an, Mitglieder der damals noch regierenden Kommunistischen Partei Bulgariens zu sein. Diese Zahl gibt relativ genau die politischen Präferenzen innerhalb einer Vereinigung wieder, die Mitte der achtziger Jahre immerhin rund 1600 Mitglieder zählte.

Angesichts dessen liegt es nahe, sich die Frage zu stellen, ob nicht die bulgarischen Soziologen die jahrzehntelange nationale Geschichte ihres Faches einfach vergessen und einen gänzlichen Neubeginn wagen sollten. Es ist ein verlockender Gedanke, den Aufbruch in eine neue Ära zu verkünden, die neue Helden und eine neu geschriebene Geschichte braucht und in der die frühere Generation von Soziologen in die Vorgeschichte der nationalen Soziologie verwiesen wird. Dafür lassen sich genügend Gründe anführen, da der soziale Wandel im Lande offensichtlich ist. So wurden früher nur selten Umfragen zur Erkundung der öffentlichen Meinung durchgeführt, und ihre Ergebnisse wurden vor der Öffentlichkeit zumeist unter Verschluß gehalten. Jetzt werden Meinungsumfragen buchstäblich wie am Fließ­

band hergestellt, und die Produkte dieser "Industrie" finden ein breites öffentliches Interesse. Anstelle der traditionellen, akademisch ausgerichteten soziologischen

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Institute schießen am Markt orientierte Forschungszentren wie Pilze aus dem Boden. Die ersten bulgarischen Ausgaben von Max Weber und Arnold J. Toynbee sind bereits erschienen; zahlreiche weitere Werke der soziologischen Klassiker werden zur Veröffentlichung vorbereitet. Man darf ohne weiteres behaupten, daß ein Neuanfang gemacht ist. Aus dieser Perspektive könnte man fordern, die Erfah­

rungen der Vergangenheit in die Rumpelkammern der Geschichte zu verbannen - eine "Umwertung aller Werte", die in der politischen und der Kulturgeschichte Bulgariens schon mehrmals durchexerziert worden ist.

Können sich jedoch gerade Soziologen eine derart kurzschlüssige und erinnerungs­

lose Aufarbeitung der Geschichte ihres Faches leisten? Dürfen sie mir nichts, dir nichts vergessen, wie groß die internationale Reputation des Instituts für Jugend­

forschung oder des Instituts für gewerkschaftliche Probleme war? Dürfen sie verdrängen, daß diese und andere einst angesehene Forschungseinrichtungen gar nicht mehr existieren? Wissenschaftler unseres Landes, die nicht nur von, sondern auch/nr die Soziologie leben, können kaum über die Tatsache hinwegsehen, daß die wissenschaftliche und soziale Basis ihrer Arbeit sehr stark zusammengeschrumpft ist, nachdem in Betrieben, in wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Organi­

sationen viele Arbeitplätze für Soziologen bereits zu Beginn der Krisenperiode gestrichen wurden. Die Zukunft der verbliebenen soziologischen Institutionen wie auch der Soziologen, die noch Arbeitsplätze haben, ist ungewiß. Man muß nüchtern konstatieren, daß die sozialen Kosten des Übergangs zur Marktwirtschaft und zu demokratischen politischen Institutionen hoch sind und daß die Soziologie, wie die bulgarische Wissenschaft insgesamt, zahlreiche Einbußen hinzunehmen hat.

Gerade in einer solchen Übergangsperiode, die angefüllt ist mit erbitterten Kämpfen um das schiere Überleben, können jedoch die Soziologen Fragen nach ihrer historischen Standortbestimmung und ihrer Selbstdefinition nicht ignorieren. Ganz im Gegenteil, gerade jetzt ist vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen, um in kritischer und konstruktiver Weise eine Bilanz der vergleichsweise kurzen Geschichte der bulgarischen Soziologie zu ziehen (Round Table 1992). Auch diese Aufgabe ist keineswegs ganz neu. Sie bildet vielmehr eine Weiterführung früherer Projekte, die von demselben Gedanken geleitet worden waren (Dobrijanov, Stavrov, Genov 1978; Genov 1989a; Genov 1989b; Genov 1991). Der grundlegende soziale Wandel verändert aber auch die Optik und das Urteil. Die entscheidende Frage lautet daher: Was können wir heute aus den Erfahrungen lernen, welche die bulgarische Soziologie im Laufe ihrer Entwicklung gemacht hat - vorausgesetzt, daß wir lernfähig sind und daß es aus dieser Entwicklung tatsächlich etwas zu lernen gibt?

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2. Die Entstehung der modernen bulgarischen Soziologie

Im Bulgarien vor dem Zweiten Weltkrieg waren soziologische Themen Gegenstand von ideologischen Streitigkeiten in der Lehre und Forschung von Nachbar­

disziplinen, darunter der Philosophie, der Politischen Ökonomie, der Geschichts­

wissenschaft oder der Jurisprudenz. Denn abgesehen von einigen Einführungs­

veranstaltungen gab es keine regulären Studiengänge, geschweige denn Lehrstühle der Soziologie. Auch blieben die theoretischen Potenzen wie die praktische Bedeutung des Faches weitgehend ohne klares Profil. Beispielsweise hatten die Untersuchungen von Ivan Hadzhijski (1907 bis 1944), so originell und empirisch reich fundiert sie auch waren, kaum Berührungspunkte mit Problemstellungen und Traditionen der internationalen Soziologie (Hadzhijski 1974). Erst in den besseren Zeiten nach dem Krieg konnte sich eine eigenständige bulgarische Tradition der Soziologie herausbilden.

Gerade wegen dieser Ungleichzeitigkeit ließ sich die Institutionalisierung der bulgarischen Soziologie zunächst vielversprechend an. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften ein neues Institut für Soziologie gegründet. Die Entscheidung für diese Neugründung erfolgte aufgrund der intellektuellen Umbruchsituation nach dem Krieg, aber auch aufgrund des wachsenden Einflusses der politischen und theoretischen Ideen Todor Pavlovs (1890 bis 1977). Schon in der ersten russischsprachigen Ausgabe seines umfang­

reichen Werkes "Widerspiegelungstheorie" von 1936 (und auch in den späteren, stark überarbeiteten Ausgaben desselben Buchs) bestimmte er die Soziologie als diejenige Sozialwissenschaft, deren Forschungsgegenstand die allgemeinsten Strukturen der Gesellschaft seien (Pavlov 1962, S. 381). Doch wegen der ideolo­

gischen Kampagne gegen die "bürgerlichen Pseudowissenschaften" am Ende der vierziger Jahre erwies sich das erste Institut für Soziologie als sehr kurzlebig. Diese Kampagne, in deren Gefolge sich der Lyssenkoismus immer mehr breit machen konnte, traf die Biologie und die Kybernetik sehr hart. Womöglich sogar noch stärker wurden jedoch die Sozialwissenschaften in Mitleidenschaft gezogen. Die Soziologie wurde nämlich als eine ideologische Waffe des Imperialismus im Kalten Krieg dargestellt und diente als Zielscheibe von Propagandaoffensiven. Doch wurde im damaligen Bulgarien niemand persönlich als "Soziologe" verfolgt, und zwar aus dem einfachen Grund, weil das Fach im Lande weder intellektuell noch institutionell in spürbarer Weise präsent war. Trotz aller ideologischen Kampagnen

Die Erklärung für die vom Informbüro beschlossene Verbannung der Soziologie in den osteuropäischen Ländern findet sich in Alain Drouards Analyse der Entwicklung der modernen französischen Soziologie. Während der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre gelang es der einflußreichen Kommunistischen Partei Frankreichs, durch anti-amerikanische Argumente führende Intellektuelle gegen die Soziologie zu mobilisieren. Diese Argumente wurden von den in Osteuropa regierenden kommunistischen Parteien bereitwillig aufgenommen, da sie ihr ideologisches und politisches Profil in der Konfrontation mit westlichen und vor allem amerikanischen Kulturmustern entwickelten (Drouard 1968, S. 68f.).

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ging jedoch die Diskussion über zentrale Fragen der soziologischen Denktradition weiter. Dabei handelte es sich um Versuche, einen allgemeinen begrifflichen Rahmen zum Verständnis des in Bulgarien vor sich gehenden Transformations­

prozesses zu entwickeln. Daneben gab es Untersuchungen zu spezifischen Problemen der Eigentumsverhältnisse, der Industrialisierung, der Kollektivierung der Landwirtschaft bis hin zu Fragen der Umgestaltung der Kultur nach sozialistischen Wertmustern.

Während der ersten Entstalinisierungswelle nach 1956 veränderte sich das intellektuelle Klima beträchtlich zugunsten der Soziologie. Innovationen waren zu einer unabweisbaren Notwendigkeit geworden. Vor allem gab es ein sehr starkes praktisches Bedürfnis nach einem besseren Verständnis der sozialen Probleme, von denen die tiefgreifende Umgestaltung der bulgarischen Gesellschaft im Sinne des Sozialismus begleitet war beziehungsweise die durch diese Transformation selbst hervorgerufen worden waren. Das Privateigentum wurde radikaler nationalisiert als in den meisten anderen Ländern des Ostblocks. Gewaltige Menschenmassen verließen das Land und strömten in die aufstrebenden Industriezentren. Das Einparteiensystem etablierte sich, und die ideologische Vorherrschaft der kommuni­

stischen Staatspartei wurde abgesichert. Allerdings wurden in der Wirtschaft während dieser Zeit auch bereits die Keime künftiger Schwierigkeiten gelegt. Denn die allmählich sinkende Produktivität und das Mißmanagement führten zu permanenten wirtschaftlichen Störungen und einer Verknappung des Güterangebots, eine Tatsache, die sowohl die Tätigkeit der zentralen Planungsbürokratie als auch die Alltagserfahrung der Bürger immer stärker prägen sollte. Die Bürokratisierung der Politik wurde allmählich zur ernüchternden Realität. Auch die Erwartung, es werde sich ein neuer, sozialistischer Menschentypus herausbilden, ging nicht in Erfüllung. Im Gegenteil, neue Formen von Entfremdung und abweichendem Verhalten machten sich auf allen Ebenen der wirtschaftlichen und politischen Organisation wie auch im kulturellen Leben bemerkbar.

Angesichts dieser Entwicklungen konnten sogar den dogmatischsten Partei­

ideologen die destruktiven Folgen einer versteinerten stalinistischen Theorie und Praxis nicht verborgen bleiben. So gewannen auch in Bulgarien die Reformideen der Chruschtschow-Zeit intellektuell wie praktisch an Boden. Der Bannstrahl gegen die moderne Genetik und die Kybernetik wurde aufgehoben, da deren praktischer Wert immer deutlicher sichtbar wurde. Zu erwarten stand, daß es zu einer ähnlichen Aufwertung der Soziologie kommen würde, sobald ihr theoretischer wie praktischer Nutzen erkannt war. Doch aus ideologischen Gründen war hier der Widerstand stär­

ker. Die Kohärenz der marxistischen Ideologie? die schon seit Engels und Lenin als Dreieinigkeit aus Philosophie, Politischer Ökonomie und wissenschaftlichem Sozialismus kodifiziert worden war, schien durch die Anerkennung einer neuen Sozialwissenschaft gefährdet zu sein. Es erwies sich als schwierig, dieser neuen

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wissenschaftlichen Disziplin ihren Ort innerhalb des ideologischen Denkgebäudes anzuweisen. Mehr noch, selbst der Begriff "Soziologie" hatte Mitte der fünfziger Jahre noch einen fremden und teilweise sogar subversiven Beigeschmack.

Diesen Schwierigkeiten wirkte jedoch sogar unter den damaligen ungünstigen Bedingungen entgegen, daß die bulgarischen Sozialwissenschaften eine deutliche Neigung zeigten, sich intellektuell zu verselbständigen. Auch wenn es gerade damals schwierig war, eine klare Grenzlinie zwischen Parteiideologen und Sozial- wissenschaftlem zu ziehen, ließ sich doch die Autonomisierung der Sozialwissen­

schaften kaum aufhalten. Sie mußten sich allerdings erst durchsetzen, indem sie mit respektablen Theorien und Methoden aufwarteten, die sich dadurch legitimieren konnten, daß sie aus unseren nationalen sozialen wie kulturellen Traditionen schöpften. Die bulgarischen Politiker mit ihren engstirnigen Kriterien hinsichtlich der intellektuellen und praktischen Relevanz von Wissenschaft ließen sich nur auf diese Weise überzeugen. Wichtig war auch, daß die bulgarischen Sozialwissen­

schaftler Beziehungen zur internationalen Scientific Community aufnehmen konnten, obwohl derartige Kontakte noch immer unter dem Verdacht ideologischer Infiltration standen.

Jedoch unterlagen in der Ära des Tauwetters auch die bulgarischen Politiker einem relativ starken Druck, intellektuelle und institutioneile Innovationen zuzulassen, da sie beweisen mußten, daß sie einen Bruch mit der stalinistischen Vergangenheit vollzogen hatten. So waren sie bereit, der Wissenschaft im allgemeinen und den Sozialwissenschaften im besonderen eine gewisse Autonomisierung zuzugestehen.

Als Gegenleistung erwarteten sie von den Sozialwissenschaften einen Beitrag zur Legitimierung des Regimes, aber auch direkte Hilfestellungen sozialtechnologischer Art bei der Lösung brennender sozialer Probleme. Die Annahme, es werde zu einer gegenseitigen Anpassung zwischen Politik und Wissenschaft kommen, war voll­

kommen realistisch, da - anders als in vielen anderen osteuropäischen Ländern - die bulgarischen Politiker die Herausbildung einer intellektuellen und politischen Opposition kaum zu fürchten hatten. Für diese Besonderheit gibt es substantielle Gründe in der bulgarischen Geschichte: Erstens hatten linke Ideologien und Parteien bereits vor dem Zweiten Weltkrieg einen starken Einfluß in unserem Lande. Daher konnten sich die Parteimarxisten der Nachkriegszeit auf das Ansehen berufen, das anerkannte linke Denker unter den Intellektuellen genossen. Zweitens waren die liberale und die nach rechts tendierende Opposition schon im Laufe der vierziger Jahre ausgeschaltet worden. Deshalb existierte keine wirkliche Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Ideen mehr. Drittens gab es im Lande keine ausgeprägte anti-russische oder anti-sowjetische Stimmung. Im Gegenteil, die regierende Partei konnte von der positiven Einstellung gegenüber Rußland sehr profitieren, die es durch seine Rolle bei der Wiederherstellung der bulgarischen Staatlichkeit im Jahre 1878 errungen hatte. Darin lag ein starkes Argument zugunsten des Regimes, das ihm sowohl die notwendige historische Legitimation als auch einen gewissen Handlungsspielraum sicherte.

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So herrschte in Bulgarien am Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre ein relativ günstiges Klima für die Herausbildung einer nationalen soziologischen Tradition. Wie nach vielen historischen Parallelen nicht anders zu erwarten, brachte diese geschichtliche Konstellation denn auch diejenigen individuellen und kollektiven Akteure hervor, die willens und fähig waren, auf eine solche Heraus­

forderung adäquat zu reagieren. Dieser Prozeß vollzog sich in allen osteuropäischen Staaten nach einem gemeinsamen Muster und führte zu einer intellektuellen und institutionellen Erneuerung der Sozialwissenschaften - im Grunde sogar zu ihrer Wiedergeburt. Nochmals betont werden muß allerdings, daß unter den spezifischen Bedingungen, wie sie damals in Bulgarien herrschten, dieser Prozeß nur von Wissenschaftlern getragen werden konnte, die mit der regierenden Partei eng verbunden waren und die eine beträchtliche Rückendeckung des Parteiapparats genossen.

Das wohl typischste Beispiel für diese institutionelle und intellektuelle Entwicklung bilden die Aktivitäten von Zhivko Oschavkov (1913 bis 1982), der als der Begründer der modernen bulgarischen Soziologie gilt. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg trat er der Kommunistischen Partei Bulgariens bei und nahm am Wider­

stand teil. Später war er Funktionär des Zentralkomitees, bevor er sich der Wissen­

schaft zuwandte. Am neugegründeten, von Todor Pavlov geleiteten Institut für Philosophie übernahm er die Leitung der Sektion "Historischer Materialismus".

Obwohl er seine Ausbildung weitgehend in Bulgarien genossen hatte und sich den nationalen geistigen und politischen Traditionen eng verbunden fühlte, kam er während seines Studiums an der Sorbonne (1939) auch mit der soziologischen Klassik in Berührung, insbesondere mit dem Werk Dürkheims. Daher überrascht es nicht, daß er an seinem Buch Historischer Materialismus und Soziologie (Oschavkov 1970a [1958]) schon vor der Wende von 1956 zu arbeiten begann, einem Buch, das erst 1958 erscheinen konnte. Denn inzwischen hatte es unter den marxistischen Wissenschaftlern eine heftige Debatte darüber gegeben, ob es legitim sei, den Begriff "Soziologie" zu verwenden, da die marxistische Ideologie selbst­

verständlich auch die marxistisch geprägten Sozialwissenschaften einschließen sollte. In Wirklichkeit jedoch war Oschavkovs Monographie vor allem traditionellen Problemen der marxistischen Sozialphilosophie gewidmet. Das Problem einer selbständigen Wissenschaft von der Gesellschaft namens

"Soziologie" wurde in einem anderen Kontext erörtert, nämlich hauptsächlich in dem von Todor Pavlov umrissenen Rahmen des Systems der Wissenschaften. In ihm war der Soziologie die Rolle der Wissenschaft von den allgemeinsten Struktur- und Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft zugewiesen (Oschavkov 1970a, S.

215f.).

Worin auch immer die Schwächen oder Stärken dieser Auffassung von Soziologie liegen mögen, so hat sich Oschavkov doch zweifellos Verdienste erworben, indem er die Diskussion über eine Wissenschaft wiederbelebte, die damals lediglich als

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intellektuelles Werkzeug des ideologischen Feindes galt. Als positiv erwiesen sich seine Anstöße auch deshalb, weil seine Ideen die bulgarischen Sozial Wissenschaftler zu gleichberechtigten Partnern in einer Debatte machten, die nach der Veröffent­

lichung eines provokativen Artikels von Jürgen Kuczynski überall in Osteuropa geführt wurde. Welche Relevanz der Ansatz von Oschavkov hatte, zeigte sich während einer internationalen Konferenz, die im Jahre 1960 von der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus in Prag veranstaltet wurde. Obwohl er von den Vertretern vieler osteuropäischer Staaten scharf kritisiert wurde, vertrat er dort energisch seine These vom Existenzrecht einer eigenständigen Wissenschaft von der Gesellschaft. Bei dieser Konferenz konnte zwar kein klares und für alle Teilnehmer akzeptables Ergebnis erzielt werden, doch bildete sie insofern einen Wendepunkt, als sich die soziologische Forschung in Osteuropa immer fester zu etablieren vermochte und sie von da an kein öffentlicher Bannstrahl der Partei­

ideologen mehr traf. Die osteuropäischen Soziologen sahen sich vor keine einfache Aufgabe gestellt, da es nur in Polen noch eine lebendige soziologische Tradition gab, an die gleich nach den Ereignissen von 1956 angeknüpft werden konnte. In allen anderen sozialistischen Ländern sollte es erst seit Beginn der sechziger Jahre zu einer Institutionalisierung der soziologischen Forschung und Lehre kommen.

In Bulgarien wurde die Sektion "Historischer Materialismus" des Instituts für Philo­

sophie zum institutionellen Zentrum dieser Entwicklung. Unter der Leitung von Oschavkov führte sie 1962 die erste landesweite Umfrage zu Fragen der Religion durch. Unter den damaligen Bedingungen kann es nicht erstaunen, daß diese empirische Untersuchung unter der normativen Voraussetzung stand, daß sich der Einfluß der Religion in einem Lande massiv abgeschwächt haben müsse, das - wie Bulgarien - in absehbarer Zeit die Entwicklungsstufe des Kommunismus erreicht haben würde. Gemäß dieser Annahme ergab sich denn auch, daß mehr als die Hälfte der erwachsenen Bulgaren sich selbst als nicht-gläubig bezeichnete. Höchst­

wahrscheinlich entsprach dieser Befund sogar weitgehend der Realität. Denn nachdem zu Beginn der neunziger Jahre sämtliche staatlichen Repressionen gegenüber religiösen Aktivitäten aufgehoben worden waren, führte eine ähnliche Umfrage zu fast genau denselben Ergebnissen, obwohl inzwischen eine Renaissance des Islam stattgefunden hatte und obwohl zahlreiche protestantische Sekten im Lande missionierten. Die Kehrseite der Medaille war allerdings der Befund, daß trotz aller atheistischen Propaganda seitens des kommunistischen Staates ein bedeutender Teil der Bevölkerung doch mehr oder weniger stark religiös eingestellt war (Oschavkov 1968).

Die Daten wie auch die theoretischen Grundlagen, Methoden, Interpretationen und Schlußfolgerungen der Studie über die Religiosität sind aus heutiger Perspektive in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Die gewaltige Zahl der untersuchten Personen oder auch die Idee, Dritte über die Religiosität der untersuchten Personen zu befragen, sind heute nicht mehr ernsthaft vertretbare Vorgehensweisen. Doch ist es unbestreitbar, daß sich die Gruppe um Oschavkov große Mühe gegeben hatte, sich

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die damals neuesten Forschungstechniken anzueignen. Methoden wie die Erhebung von Stichproben, Operationalisierung, Bildung statistischer Korrelations­

koeffizienten usw. wurden angewandt. Nicht zu unterschätzen ist auch, daß es gerade die praktischen Empfehlungen der Studie waren, die die Machthaber dazu brachten, grünes Licht für die Entwicklung der bulgarischen Soziologie zu geben.

Für sie waren diese Empfehlungen ein Beweis dafür, daß die Soziologie praktisch verwertbare Informationen zu liefern vermag, die sonst auf keine andere Weise zu gewinnen gewesen wären.

Die wissenschaftsinternen Erträge der Studie waren ebenfalls bedeutsam. Es wurde klar, daß man sehr große Anstrengungen würde unternehmen müssen, um - im Rahmen eines differenzierten Soziologiebegriffs - die Mittel und Ziele einer empirischen soziologischen Forschung genau zu bestimmen. Diese Feststellung wurde zum Ausgangspunkt eines erstaunlich produktiven Seminars, das die Sektion

"Historischer Materialismus" im Jahre 1964 veranstaltete. Das Jahrbuch des Instituts für Philosophie, das die Ergebnisse dieses Seminars dokumentierte, sollte später zu einer bibliophilen Rarität werden. Für dieses Interesse gab es gute Gründe, da in den Beiträgen zu diesem Jahrbuch die traditionellen marxistischen Begriffe von Basis und Überbau mit damals modernen Ideen französischer und amerika­

nischer Theoretiker zum Verhältnis von Handlung und Struktur eine produktive Verbindung eingingen (Jahrbuch 1965). Zur wichtigsten integrierenden Idee wurde der Gedanke der Entwicklung eines spezifisch soziologischen Begriffssystems, das eine Verknüpfung von handlungstheoretischen mit systemtheoretischen Ansätzen erlaubte.

Eine relativ differenzierte Fassung dieses Soziologiebegriffs erarbeitete Oschavkov in seinem Buch Die Soziologie als Wissenschaft (Oschavkov 1970b). Dort verband er eine Typisierung der menschlichen Bedürfnisse mit Überlegungen zu den funktionalen Voraussetzungen eines Gesellschaftssystems. Der diese Vorstellungen zusammenfassende Schlüsselbegriff der "soziologischen Struktur der Gesellschaft"

wurde seinerseits zum Zentralbegriff der sogenannten bulgarischen Schule der marxistischen Soziologie. Den Ausgangspunkt dieses Konzepts bilden die universellen Bedürfnisse menschlicher Individuen, die Oschavkov allerdings zu Systemimperativen des Gesellschaftssystems uminterpretiert. Die ganze Vielfalt sozialen Handelns versucht er unter vier Kategorien zusammenzufassen, denen er vier Subsysteme der Gesellschaft zuordnet. Diese vier Subsysteme sind: erstens die Produktion materieller Güter, zweitens die biologische und soziale Reproduktion der Individuen, drittens die Hervorbringung von Kultur und gesellschaftlicher Leitungsfunktionen und viertens Formen der Kommunikation. Jedes dieser Subsysteme (oder "Hauptsphären der Gesellschaft", wie es bei Oschavkov heißt) besteht aus genau definierten Bereichen. So gehören zum Beispiel Gesundheits­

wesen, Sport und Bildungswesen zur Sphäre der biologischen und sozialen Repro­

duktion. Der entscheidende Punkt besteht allerdings darin, daß Oschavkov durch die Ausarbeitung dieses Begriffsschemas versucht hat, den soziologischen Zugang zur

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gesellschaftlichen Realität genauer zu bestimmen. So soll eine soziologische Studie, die diesen Namen auch wirklich verdient, in jedem konkreten Einzelfall aufzeigen, wie alle vier Subsysteme des Gesellschaftssystems miteinander in Wechselwirkung stehen (Oschavkov 1970b, S. 32).

Obwohl direkte Einflüsse nur schwer zu belegen sind, läßt sich kaum übersehen, daß der Begriff der soziologischen Struktur der Gesellschaft große Ähnlichkeiten mit den in den sechziger Jahre einflußreichen Begriffsschemata der strukturell­

funktionalen Analyse aufweist. Beispielsweise erinnert die Einteilung der Gesell­

schaft in vier Subsysteme an Talcott Parsons' berühmtes AGIL-Schema, das er entwickelt hatte, um (wie auch Oschavkov) die Grundfunktionen sozialer Systeme analysieren zu können (Parsons und Smelser 1956). Auch die Wechselwirkungen zwischen den Subsystemen werden in beiden Begriffsschemata besonders hervor­

gehoben. Zwar argumentiert Oschavkov insgesamt weniger differenziert und präzise als Parsons, doch hat er immerhin versucht, sich von den überlieferten monokausalen Denkschemata des Marxismus - etwa dem Schema von Basis und Überbau - zu lösen und die Idee einer relativen Autonomie aller interagierenden sozialen Subsysteme herauszuarbeiten.

Auch wenn die Vorzüge von Parsons Theorie nicht zu leugnen sind, muß doch die Frage erlaubt sein, ob sie rein pragmatisch gesehen für unsere damals sich gerade erst entwickelnde Fachgemeinschaft der Soziologen brauchbarer gewesen wäre als die Ansätze Oschavkovs. Diese bildeten trotz ihrer Mängel eine Basis, auf der es unter unseren Soziologen zu einem Konsens über die Theorie, Methodologie und praktische Anwendung soziologischer Forschungergebnisse kommen konnte.

Zweifellos führte die Etablierung eines einzigen Begriffsschemas zur Bestimmung des Gegenstandes wie der Erkenntnisziele und -mittel der Soziologie zu intellek­

tuellen Selbstbeschränkungen, die der soziologischen Diskussion kaum förderlich sein konnten. Doch unter den damaligen Umständen, als die bulgarische Soziologie einen schwierigen Prozeß der Selbstbehauptung zu bestehen hatte, haben diese Selbstbeschränkungen dem zu institutionalisierenden Fach einen gewissen intellek­

tuellen Zusammenhalt gegeben. Sie waren eine wichtige Voraussetzung, um der Soziologie innerhalb der breiteren Scientific Community, vor allem aber bei den staatlichen Autoritäten, überhaupt erst eine gewisse Respektabilität zu verleihen.

Trotz des andauernden Widerstands dogmatischer Ideologen, die in der Soziologie noch immer eine "revisionistische Abweichung" von der wahren Lehre sahen, konnte unsere Soziologie Ende der sechziger Jahre einen spektakulären Durchbruch verzeichnen, und zwar in intellektueller wie in institutioneller Hinsicht. Die Gruppe ehrgeiziger Soziologen um Oschavkov präsentierte auf dem VI. Weltkongreß für Soziologie 1966 in Evian eine Reihe von Beiträgen, die mit Interesse aufgenommen und als Zeichen der weltweiten Institutionalisierung der Soziologie verstanden wurden. Doch der Ehrgeiz der bulgarischen Soziologen reichte weiter. Sie schlugen vor, den VII. Weltkongreß für Soziologie 1970 im bulgarischen Varna abzuhalten.

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Die geschlossene Unterstützung der osteuropäischen Vertreter im Rat der Inter­

nationalen Soziologischen Vereinigung und die positive Einstellung des neu­

gewählten Präsidenten des ISA, des Polen Jan Sczepanski, führten zu einem Resultat, das auch die bulgarischen Vertreter überraschte: Der Antrag wurde tatsächlich angenommen. Er fand auch die tatkräftige Unterstützung der politischen Führung Bulgariens, die großzügige finanzielle Hilfen versprach. Dies paßte in das Konzept der osteuropäischen Länder, die damals große Energien und Mittel investierten, um sich aus der Isolation zu befreien, in die sie durch den Kalten Krieg geraten waren.

So führte die Kombination aus persönlichen, gruppenspezifischen und nationalen Interessen in Verbindung mit diplomatischen und finanziellen Erwägungen seitens der ISA dazu, daß eine Entscheidung getroffen wurde, die vom Entwicklungsstand der bulgarischen Soziologie her kaum zu rechtfertigen gewesen wäre. Denn in Bulgarien gab es lediglich eine Handvoll Menschen, die sich von ihrem Selbst- verständis her als Soziologen definierten. Es gab außerdem keine im eigentlichen Sinne soziologische Forschungseinrichtung, keine soziologische Zeitschrift, keine Studiengänge im Fach Soziologie an den Universitäten. Im Rahmen der Vorbe­

reitung des Weltkongresses sollte nun all dies rasch aus dem Boden gestampft werden.

Eine energische Intervention hochrangiger Politiker war notwendig, um diese Probleme entschlossen anzupacken. Auf der Grundlage eines Beschlusses im Polit­

büro wurde so 1968 das Institut für Soziologie an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften gegründet. Zu seinem ersten Direktor wurde Zhivko Oschavkov ernannt. Im selben Jahr erschien unter dem Titel Soziologische Forschungen erstmals in Bulgarien eine soziologische Fachzeitschrift (sie wurde ein Jahr später in Soziologische Probleme umbenannt). Gleichzeitig wurden die ersten soziolo­

gischen Studiengänge aufgebaut. Außerdem stellte der Staat eine beträchtliche Summe zur Durchführung eines breit angelegten Forschungsprojekts bereit, das später unter dem einigermaßen irreführenden Titel "Untersuchung der Stadt und des Dorfes" bekannt wurde.

Daß Talcott Parsons, Robert K. Merton und andere Stars der internationalen Soziologie tatsächlich nach Varna kamen und öffentlich ihre Zufriedenheit mit der Organisation des Kongresses und der wissenschaftlichen Qualität der Diskussionen zum Ausdruck brachten, gehörte für die meisten Teilnehmer mehr oder weniger zur Routine des Wissenschaftsbetriebs. Doch für die bulgarischen Organisatoren, die durch die Wahl von Zhivko Oschavkov zum Vizepräsidenten der ISA nun auch international sichtbar präsent waren, war der Kongreß innenpolitisch insofern von höchster Bedeutung, als der Soziologie nun auch im eigenen Land die unumstrittene Anerkennung nicht länger versagt blieb. Die bulgarische Soziologie hatte es vermocht, den Widerstand einflußreicher Kräfte in Politik und Kultur zu brechen, und verhieß, substantielle intellektuelle und institutionelle Innovationen durch­

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führen zu können. Auf diese Weise entwuchs sie ganz rasch ihren Kinderschuhen.

Es hatte ganz den Anschein, als sei die Disziplin an einem Punkt angelangt, von dem aus sie eine stabile und fruchtbare Entwicklung nehmen konnte. So einfach verläuft jedoch weder die soziale noch die Geistesgeschichte. Unsere Soziologie hatte zwar das Stadium erreicht, in dem ihre Entwicklung an den hohen Kriterien der internationalen Scientific Community gemessen werden mußte, doch wurde auch zu genau dieser Zeit die Kluft zwischen ihren ehrgeizigen Verheißungen und der harten Realität immer deutlicher sichtbar.

3. Nationale und internationale Dimensionen einer reifenden soziologischen F achgemeinschaft

Bis Ende der fünfziger Jahre war die internationale Soziologie durch nur wenige nationale Traditionen geprägt. Seither jedoch hat sich die Situation grundsätzlich gewandelt. Ein neues und bedeutsames Problem wurde zum Gegenstand intensiver Debatten: Wie ist das Auftreten einer Vielzahl neuer nationaler Fachgemeinschaften von Soziologen mit der Bewahrung der intellektuellen Kohärenz und institutio­

neilen Identität der Disziplin auf internationaler Ebene zu vereinbaren? Diese Frage läßt sich in einfacher Weise kaum beantworten, da es sich um zwei gegenläufige Tendenzen handelt, die Internationalisierung der Soziologie versus ihre Regiona­

lisierung (zum Folgenden vgl. Genov 1989b).

Einerseits kann sich die Soziologie in einem Lande nur dann organisch entwickeln und erfolgreich sein, wenn sie auf die jeweiligen regionalen Bedürfnisse ausgerichtet ist. Das ist der eigentliche Hintergrund ihrer viel diskutierten Tendenz zur Regionalisierung ("indigenization"), wobei "Regionalisierung" eine Entwick­

lung des Faches Soziologie meint, die an regionale kulturelle Traditionen und sozioökonomische Bedürfnisse angepaßt und in diesem Sinne "organisch" ist. Der Gegensatz von Regionalisierung und Internationalisierung führt in schwierige methodologische Fragen, weil ihm das Gegensatzpaar Universalismus abstrakter soziologischer Modelle versus Relativität konkreter historischer Situationen entspricht. Auf simplifizierende Vorstellungen von Modernisierungsprozessen, die als Übertragung bestimmter, in den Industrieländern entstandener institutioneller Muster und Verhaltensweisen auf weniger entwickelte Länder verstanden werden, reagieren die Vertreter der Regionalisierung mit einer Überbetonung nationaler und lokaler Besonderheiten, die einer gesonderten soziologischen Bearbeitung zugäng­

lich gemacht werden müßten. Jenseits des Gegensatzes von Regionalisierung versus Internationalisierung enthält dieser Streit jedoch einen wichtigen substantiellen Kern, weil er nämlich deutlich macht, daß die nationalen soziologischen Traditionen in einem Prozeß fortschreitender Auffächerung und Diversifikation begriffen sind.

Zudem enthält gerade das Bedürfnis nach einer besseren Anpassung der soziolo­

gischen Forschung an nationale und regionale Gegebenheiten eine wesentliche Chance für die internationale Soziologie. Denn sie wird auf diese Weise durch neue

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Theorien wie auch durch erweiterte Kenntnisse über institutionelle Muster und Sozialtechnologien bereichert. Schon aus diesem Grund stellt die Herausbildung einer Vielzahl nationaler Traditionen eine große Errungenschaft der Weltsoziologie dar.

Andererseits beweist die moderne Soziologie ihre Leistungsfähigkeit aber nicht nur in der Erforschung spezifischer regionaler und lokaler Gegebenheiten. Denn ihr Forschungsobjekt sind daneben natürlich auch die universellen Tendenzen der Moderne wie Industrialisierung und Urbanisierung. Diese Tendenzen bilden in der Tat die wichtigsten Triebkräfte der Entwicklung der Soziologie überhaupt und damit auch ihrer Internationalisierung (Genov 1991b).

Aus dem Blickwinkel der Geschichte der modernen bulgarischen Soziologie stellt sich daher die Frage, welchen Einfluß die gegenläufigen Prozesse von Regionali­

sierung und Internationalisierung auf ihre Entwicklung genommen haben. Ober­

flächlich betrachtet ging der überraschend gute Start, den die bulgarische Soziologie hatte, in den siebziger und achtziger Jahren in einen kontinuierlichen Entfaltungs­

und Reifungsprozeß über. Dieser Prozeß läßt sich sogar quantifizieren. Tabelle 1 zeigt, wie die Zahl der Angestellten an unserer wichtigsten soziologischen Insti­

tution, dem Institut für Soziologie der Bulgarischen Akademie, im Verlauf der beiden letzten Jahrzehnte kontinuierlich anstieg.

Tabelle 1: Zahl der Angestellten am Institut für Soziologie der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften

Jahr 1970 1975 1980 1985 1990

Zahl der Angestellten 32 70 89 124 149

Quelle: Archiv des Instituts für Soziologie der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften

Neben dem Institut für Soziologie entstand noch eine ganze Reihe von sozial­

wissenschaftlichen Instituten und Forschungszentren, an denen ebenfalls intensiv soziologische Forschung betrieben wurde. Die bekanntesten waren das Institut für Fragen der Gewerkschaften (später Institut für gewerkschaftliche und soziale Probleme), das Institut für Jugendforschung, das Institut für Sozialmanagement, das Institut für Kultur sowie das Soziologische Forschungszentrum des Verteidigungs­

ministeriums.

Spezifisch für die bulgarische Entwicklung war, daß es auf allen Ebenen der Partei­

hierarchie hauptamtliche Soziologen gab. Dem Zentralkomitee war ein Informations- und Soziologiezentrum angegliedert, das administrativ gesehen den Status einer Abteilung hatte. Neben der Berichterstattung über interne Probleme der Partei (ihre soziale Zusammensetzung, ihre Informationskanäle, beabsichtigte und nicht beabsichtige Auswirkungen von Beschlüssen der Partei usw.) hatte das Zentrum außerdem die Aufgabe, die soziologische Forschung im Lande zu koor­

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dinieren und dokumentieren. So wurde ein zentrales Archiv für empirische Studien gegründet, in dem 1990 mehr als 700 Projekte dokumentiert waren. Diese Koordi­

nations- und Dokumentationsaufgaben waren auch auf Bezirksebene möglich, da vor der Verwaltungsreform von 1987 in jedem der 28 Bezirkskomitees der Kommunistischen Partei zumindest eine Person als Berufssoziologe tätig war.

Durch eine politische Entscheidung aus dem Jahr 1982 erhielt die Scientific Community der bulgarischen Soziologen starken Rückenwind. Diese Entscheidung besagte, daß in landwirtschaftlichen und Industriebetrieben Soziologen angestellt werden müßten. Es läßt sich heute nicht mehr genau feststellen, wieviele Arbeitsplätze für Soziologen als Folge dieses Dekrets geschaffen und wieviele von ihnen tatsächlich mit Soziologen besetzt worden sind. Nach offiziellen Angaben gab es Ende 1985 in den Betrieben rund 350 speziell für Soziologen ausgewiesene Stellen.

Das Versprechen der Soziologie, neue theoretische Einsichten zu vermitteln, die empirische Prüfung wissenschaftlicher und ideologischer Hypothesen zu leisten und effiziente Sozialtechnologien bereitzustellen, übte vor allem auf viele junge Studen­

tinnen und Studenten eine große Anziehungskraft aus. Die ersten Einführungs­

seminare in die Soziologie wurden 1968 von der Bulgarischen Soziologischen Vereinigung veranstaltet. Später wurden in Sofia und in der Provinz zu verschie­

denen Gelegenheiten, besonders anläßlich des Beschlusses über die Betriebsso­

ziologen, Lehrveranstaltungen durchgeführt. Im Jahre des großen Umbruchs 1968 bot die Universität Sofia erstmals einen Studiengang im Fach Soziologie an. Dort wurde 1975 auch der landesweit erste Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet. 1985 schließlich wurde Soziologie als Hauptfachstudium eingeführt. Im Laufe der acht­

ziger Jahre fanden auch an vielen Hochschulen außerhalb Sofias Einführungskurse in Soziologie statt. Das Institut für Soziologie an der Bulgarischen Akademie spielte seit seiner Gründung die Rolle eines Zentrums für die Ausbildung von Dokto­

randen. Der Staat betrieb zudem eine aktive Politik, um die Aus- und Weiterbildung von Soziologen im Ausland zu ermöglichen. Polen war dabei unter den osteuropä­

ischen Ländern für die Studienaufenthalte unserer Soziologen zweifelsohne am attraktivsten. Die nur selten gewährte Möglichkeit, sich im Westen zu spezialisieren, war jedoch noch begehrter.

Zu einem weiteren Markstein der intellektuellen wie beruflichen Institutionali­

sierung unserer Soziologie wurde die Veröffentlichung theoretischer und empiri­

scher Studien. Neben der Zeitschrift Sozioloiceski problemi (Soziologische Probleme, ab 1968) erwarb sich auch das Mitteilungsblatt Soziologiceski pregled (Soziologische Rundschau, ab 1976) Verdienste um die Stärkung der professio­

nellen Identität des Faches. Soziologische Reihen wurden beim Verlag der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, den Verlagen Nauka i izkustvo und Partizdat und später auch beim Verlag der Universität Sofia veröffentlicht.

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Die Rolle der Bulgarischen Soziologischen Vereinigung (BSA) wurde nicht nur durch die weitreichenden Aktivitäten ihrer Mitglieder, sondern auch durch die (aus der zeitgeschichtlichen Situation heraus verständlichen) Tendenz zur Zentrali­

sierung gestärkt. Die BSA war im Jahre 1959 vor allem deshalb gegründet worden, damit unsere Sozialwissenschaftler an Kongressen der Internationalen Soziolo­

gischen Vereinigung teilnehmen konnten. Allmählich entwickelte sie sich allerdings zu einem einflußreichen Instrument des Wissenschaftsmanagements, was die Mitgliedschaft in ihr für zahlreiche Individuen wie Institutionen attraktiv machte.

Mit 1600 individuellen Mitgliedern erreichte die BSA Mitte der achtziger Jahre eine ebenso große Mitgliederzahl wie die Britische Soziologische Vereinigung. Doch im Unterschied zu ihrer britischen Schwesterorganisation wurde die BSA in substan­

tieller Weise vom Staat finanziell unterstützt (Albrow 1989). Die Mittel wurden für Lehrveranstaltungen, wissenschaftliche Kongresse, Veröffentlichungen sowie dazu verwendet, unseren Soziologen die aktive Teilnahme am internationalen wissen­

schaftlichen Leben zu ermöglichen.

Die sehr rasche Institutionalisierung der bulgarischen Soziologie wäre ohne die Unterstützung der herrschenden Kommunistischen Partei nicht denkbar gewesen.

Natürlich war das eine Strategie, einer potentiellen Opposition im Vorfeld das Wasser abzugraben. Verglichen mit den Erfahrungen anderer osteuropäischer Länder war diese Strategie relativ effektiv. Denn in Polen und Ungarn beispiels­

weise gelang es der Partei nicht, die Sozialwissenschaftler in das Regime einzu­

binden, denn sie distanzierte sich von ihnen und trieb sie so in die Opposition. Doch hatte Bulgarien auch andere geistige Traditionen und eine andere politische Entwicklung genommen als die genannten Länder, so daß unsere Soziologen ein­

deutig an einer Stärkung und nicht an einer Schwächung des Regimes interessiert waren. Von Anbeginn an versuchten sie, die kognitive Entwicklung des Faches mit seiner sozialtechnologischen Relevanz zu koppeln. Praktisch gesehen bedeutete diese Haltung, daß das von der Soziologie hervorgebrachte Wissen vor allem den zentralen Planungsinstitutionen zugute kommen sollte. Neben dem wesentlichen Einfluß, den die marxistische, makrosoziologisch orientierte Denktradition ausübte, war es diese praktische Ausrichtung unserer Soziologie, die entscheidend dazu beitrug, daß der Begriff der "soziologischen Struktur der Gesellschaft" zu ihrem Paradigma wurde und sie große Mühen darauf verwandte, diesen Begriff auszu­

arbeiten und praktisch anzuwenden. Dieses neue Paradigma mit all seinen theore­

tischen und praktischen Implikationen konnte sich auch deshalb durchsetzen, weil es von der rationalistischen Annahme getragen war, daß in einem kleinen Land wie Bulgarien, das zudem über ein zentralisiertes politisches und Wirtschaftssystem verfügte, soziales Handeln und soziale Systeme problemloser transparent und steuerbar gemacht werden könnten als in einem großen Land.

Wenn man diese theoretischen wie praktischen Annahmen im Auge behält, so wird verständlich, warum unsere Soziologie - im Unterschied zur Soziologie aller anderen osteuropäischen Länder - seit ihren Anfängen das Schwergewicht ihrer

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Arbeit auf landesweite empirische Untersuchungen legte. Die beste Illustration der Leistungsfähigkeit wie auch der Schwächen unserer Soziologie bilden die Sammel­

bände zu Fragen der Sozial- und Klassenstruktur der bulgarischen Gesellschaft, der Verwirklichung in der Arbeit und zur bulgarischen Familie, die aus diesen groß­

angelegten empirischen Untersuchungen entstanden sind (vgl. Oschavkov 1976;

Minkov 1984; Dimitrov 1986; Kjuranov 1987). Aufgrund ihrer theoretischen und methodologischen Orientierung konnten unsere Soziologen auch derart stark auf Programm und Methoden des regulären Zensus von 1985/86 Einfluß nehmen, daß es ihnen gelang, eine Reihe von landesweiten soziologischen Untersuchungen zur Persönlichkeitsentwicklung, zum Arbeitsprozeß, zur Zeitbudgetgestaltung usw.

durchzuführen. International gesehen bildet eine solch ausgedehnte praktische Zusammenarbeit zwischen Soziologen und der staatlichen Statistik eine seltene Ausnahme.

Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich keine Übertreibung zu behaupten, daß die Soziologie tiefe Wurzeln in den sozialen und kulturellen Gegebenheiten Bulgariens zu schlagen vermochte. Diese Gegebenheiten bestimmten die theoretischen, metho­

dologischen wie auch die sozialtechnologischen Prioritäten unserer Soziologie, die aus ideologischen Gründen zu einer "spezifisch nationalen Schule" hochstilisiert wurde. Gerade deshalb gibt es Anlaß für die Frage, in welchem Grade die Scientific Community unserer Soziologen überhaupt internationalisiert war und in welcher Weise ihre nationale Fachtradition mit Traditionen und Trends in der Weltsozio­

logie in Verbindung stand.

Eine angemessene Antwort darauf darf nicht an der Tatsache Vorbeigehen, daß die Pioniere der modernen bulgarischen Soziologie sehr stark von marxistischen Vor­

stellungen beeinflußt waren. Diese Vorstellungen gingen - insbesondere in ihrer vereinfachten osteuropäischen Version - von der Annahme aus, es gäbe in der Weltgesellschaft bestimmte universelle soziale Strukturen und Prozesse. Der Marxismus wurde als geistiges Abbild der universellen Charakteristika der sozialen Realität aufgefaßt. Diese weltanschaulichen Annahmen hatten insofern deutliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis unserer Soziologie, als sie sich als die nationale Ausprägung eines internationalen theoretischen wie praktischen Prozesses begriff. Methodologisch gesehen führte diese Annahme zu Versuchen, ein makro­

soziologisches analytisches Modell zu entwickeln, das keine direkten Bezüge zu konkreten historischen Gesellschaften aufwies.

Trotz der massiven politischen, intellektuellen und kulturellen Isolation Bulgariens während der fünfziger Jahre gelang es den führenden Intellektuellen unseres Landes dennoch, Beziehungen zur internationalen Seiende Community anzubahnen und zu pflegen. Dies zeigt sich beispielsweise an dem Einfluß, den der amerikanische Funktionalismus und der französische Strukturalismus auf die Herausbildung unserer Soziologie nahmen. Außerdem wurde die Rezeption soziologischer Klassiker, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit modernen Strömungen in

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der Soziologie, zu einem wichtigen Mittel, das den Import neuer Ideen und Konzepte aus dem internationalen Raum begünstigte.

Das Bedürfnis nach einem intensiven Austausch mit der internationalen Soziologie wurde während der Zeit, als sich die nationale Fachgemeinschaft zu etablieren begann, immer dringender. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Neue Ideen waren gefragt, um die theoretische wie auch die empirische Forschung nach inter­

national gültigen Standards betreiben zu können. Außerdem waren unsere Sozio­

logen deshalb sehr intensiv bemüht, soziologisches Gedankengut aus dem Ausland aufzunehmen und zu verarbeiten, damit sie adäquate Kriterien für wissenschaftliche Leistung entwickeln konnten. So gelang es ihnen, Kriterien für die Bildung von Theorien (z.B. für die begriffliche Beschreibung des Gesellschaftssystems) und Kriterien zur Präzisierung der Methoden (z.B. bei Befragungstechniken und Stich­

probenverfahren) zu entwickeln, die den Maßstäben genügten, die von den inter­

national führenden Schulen der Soziologie angelegt wurden.

In dem Maße, wie unsere Soziologie in ihr Reifestadium eintrat, wurde auch das Bedürfnis nach vergleichenden Studien immer fühlbarer. Im Gefolge kam es zu einer Teilnahme bulgarischer Forscher an einer ganzen Reihe gemeinsamer Projekte von Soziologen aus mehreren osteuropäischen Staaten, die sich mit Fragen der Sozialstruktur, der Familie, der Einstellung zur Arbeit sowie mit Untersuchungen zu Problemen des Zeitbudgets, zur Lage der Journalisten, zur Bevölkerungs­

entwicklung usw. befaßten. Auch die Internationale Soziologenschule in Varna, gegründet 1980 als Gemeinschaftsunternehmen der Akademien der Wissenschaften der osteuropäischen Länder, spielte beim Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse und in der Vorbereitung empirischer Forschungsprojekte eine wichtige vermittelnde Rolle. Die Tagungen dieser Schule wurden in verschiedenen Ländern abgehalten und brachten in regelmäßigen Abständen ost- und westeuropäische Soziologen zusammen, was zu einem lebhaften Gedankenaustausch führte.

Durch Studienaufenthalte im Ausland, durch die Teilnahme an internationalen wissenschaftlichen Kongressen und durch die Zusammenarbeit in vergleichenden Forschungsprojekten ist es den bulgarischen Soziologen im großen und ganzen gelungen, Verbindungen zur internationalen Gemeinschaft der Soziologen anzu­

knüpfen und aufrechtzuerhalten. Besonders nach dem VII. Weltkongreß der Sozio­

logie nahmen unsere Sozialwissenschaftler sehr rege an den Aktivitäten der Inter­

nationalen Soziologischen Vereinigung und ihrer Forschungskomitees teil. Die Beiträge unserer Soziologen zu den Sammelbänden, die anläßlich der Kongresse der ISA in englischer Sprache veröffentlicht wurden, geben einen angemessenen Über­

blick über die thematische Differenzierung und fortschreitende Professionalisierung der nationalen Scientific Community (Yahiel 1978; Yahiel 1982; Yahiel 1986;

Fotev 1990). Kontakte zur internationalen soziologischen Öffentlichkeit wurden auch durch die jährlich erscheinenden Hefte des Bulgarian Journal o f Sociology

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und des Bolgarskiy sociologiceskiy zhurnal hergestellt, die ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift Sociologiceski problemi enthielten.

Welche Auswirkungen die intensive Kommunikation unserer nationalen Fach­

gemeinschaft der Soziologen mit der internationalen Scientific Community hatte, zeigt sich daran, wo 192 führende bulgarische Soziologen zu Beginn der achtziger Jahre die thematischen Schwerpunkte ihrer Arbeit setzten (Koy - Kakvo? 1982).

Das Klassifikationsschema von Tabelle 2 folgt der thematischen Gliederung der Vorträge, die 1986 beim XII. Weltkongreß der Soziologie in Neu Delhi verwendet wurde (Genov 1989b, S. 10). Die Tabelle zeigt sehr deutlich, daß unserer Sozio­

logen weitgehend dieselben thematischen Prioritäten setzten wie die internationale Fachgemeinschaft.

Tabelle 2: Thematische Schwerpunkte der bulgarischen Soziologen im Jahre 1982 (Mehrfachnennungen waren möglich)

Forschungsfeld Prozentsatz

Altern 1,0

Arbeit und Beruf 15,1

Bevölkerung 3,6

Bildung 4,7

Familie 4,7

Freizeit 3,1

Gemeinschaft 5.2

Geschichte der Soziologie 9,4

Geschlechterbeziehungen 2,6

Jugend 6,2

Kunst 8,8

Massenmedien 7,3

Medizin 2,1

Methodologie 9,9

Moral 4,7

Organisationen 11,5

Politik 8,3

Recht 4,7

Religion 2,6

sozialer Wandel 3,1

soziale Schichtung und Mobilität 4,7

Sozialpsychologie 10,9

Sport 2,6

Technologie 3,1

Theorie 7,3

vergleichende Soziologie 2,1

Wirtschaft 3,6

Wissenschaft 7,8

Quelle: Koj - Kakvo? (1982)

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Wirft man einen genaueren Blick auf Tabelle 2, so wird man feststellen, daß ein explizites Interesse an der Erforschung von Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen, von sozialen Bewegungen oder von ökologischen Fragestellungen fast völlig fehlte. Forschungen über diese Themen wären auch an die Grenzen dessen gestoßen, was im kommunistischen Bulgarien noch erlaubt war. Denn die Partei schränkte die thematische Vielfalt soziologischer Forschung ein. Dazu mußte sie nur selten institutionelle Mechanismen sozialer Kontrolle anwenden, da bei unseren Soziologen Konformismus, Selbstkontrolle und vorauseilender Gehorsam in aus­

geprägtem Maße vorhanden waren. Doch muß man gerechterweise hinzufügen, daß manche Probleme, die in den westeuropäischen Gesellschaften in den Massen­

medien längst Schlagzeilen machten und in der Soziologie ganz oben auf der Agendaliste standen, in Bulgarien von der Öffentlichkeit wie von den Soziologen erst mit einer gewissen Verspätung wahrgenommen wurden. Das gilt vor allem für die breite Palette von Problemen, die mit Fragen der Lebensqualität verbunden sind.

Auch die ethnischen Fragen gewannen in Bulgarien erst im Laufe der achtziger Jahre sowohl politisch als auch wissenschaftlich stark an Bedeutung.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Themen, die den state-of-the-art der Welt­

soziologie darstellten, allmählich auch in unserer Soziologie immer intensiver bearbeitet wurden. Diese Tatsache sollte allerdings niemanden dazu verleiten, ihre Leistungsfähigkeit zu überschätzen. Heute, im Rückblick, sieht man deutlicher, mit welchen Schwächen ihre überstürzte intellektuelle wie professionelle Institutiona­

lisierung behaftet war und wie sie dabei immer stärker in ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen ihrer Regionalisierung und ihrer Internationali­

sierung geriet. Zum Beispiel wurde es unter unseren Soziologen mehr und mehr zur Gewohnheit, zwar Lippenbekenntnisse zum Paradigma der "soziologischen Struktur der Gesellschaft" abzulegen, ihm jedoch im konkreten Forschungsprozeß immer weniger Beachtung zu schenken. Dafür gab es sachliche wie theoretische Gründe in ausreichender Zahl. Denn zum einen differenzierte sich die bulgarische Gesellschaft immer stärker aus und wurde deshalb für ein Paradigma, das auf der Makroebene des Gesellschaftssystems angesiedelt ist, ständig weniger transparent. Zum anderen wurden auch die soziologischen Theorien und Methododen immer komplexer. So gerieten die jüngeren bulgarischen Soziologen im Laufe der achtziger Jahre unter den wachsenden Einfluß von interaktionistischen und phänomenologischen Theorien und vertraten im Gefolge die individualistischen und subjektivistischen Strömungen in der Soziologie. Diese Sichtweisen ließen sich nicht mehr ohne weiteres mit dem systemtheoretischen Objektivismus, wie ihn das Paradigma von der "soziologischen Struktur der Gesellschaft" verkörpert, in Einklang bringen.

Genauer betrachtet war diese Entwicklung lediglich ein Teilprozeß, der im umfas­

senderen Rahmen der sich verschärfenden Spannungen innerhalb der bulgarischen Gesellschaft zu sehen ist. Infolge der sich vertiefenden Arbeitsteilung differenzierte sich unsere Gesellschaft auf allen Systemebenen immer stärker aus. Aus diesem Grund auch hatte die Staatspartei wachsende Schwierigkeiten, Wirtschaft, Politik

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und Kultur mit den alten monolithischen Ideologemen und den zentralistischen Organisationsstrukturen einer staatssozialistischen Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Wenn man die Situation mit Begriffen Dürkheims zu beschreiben versucht, wurde es immer weniger möglich, die sich herausbildende "organische Solidarität" mit den organisatorischen Mitteln der "mechanischen Solidarität" zu bewältigen.

Diese Entwicklung geriet in einen tiefen Widerspruch zu der Vision von einer künftigen gerechten Gesellschaft, die in sich wenig differenziert sein sollte. Da diese Vision den Realitäten einer sich fortschreitend ausdifferenzierenden Gesell­

schaft offensichtlich immer weniger entsprach, geriet die Partei unter zunehmenden Druck, ihre propagandistischen Ziele neu zu definieren. Daneben wirkten auch ganz praktische Zwänge der Planung. Zu Beginn der siebziger Jahre wurde überall in Osteuropa eine intensive Diskussion darüber geführt, wie sich die Mittel und Ziele zur Entwicklung der Gesamtgesellschaft auf der Ebene der einzelnen Regionen ausgestalten und umsetzen ließen. Damals mußte man insbesondere die Erfahrungen aus dem Prager Frühling von 1968 verarbeiten und einer immer unglaubwürdigeren Ideologie neue geistige Impulse gebend

Das Ergebnis dieses mühsamen Anpassungsprozesses war die Theorie und Praxis der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. An den nationalen und internationalen Diskussionen zu diesem Thema waren unsere Soziologen maßgeblich beteiligt. An der Oberfläche spielte sich die innerbulgarische Diskussion vor allem zwischen zwei Fraktionen ab, nämlich zwischen denjenigen, die auf der Position beharrten, das Reifestadium eines Gesellschaftssystems bemesse sich an dessen Arbeits­

produktivität, und denjenigen, die das umfassendere, soziologisch besser fundierte Kriterium vertraten, daß bei einem Urteil über den Entwicklungsstand einer Gesell­

schaft der Differenzierungsgrad aller Subsysteme der Gesellschaft zu berücksichtigen sei (Dobrijanov 1980). Unter der Oberfläche dieser Debatte verbarg sich jedoch die einfache und sehr enttäuschende Tatsache, daß die osteuropäischen Gesellschaften, gemessen an allen technologischen und ökonomischen Parametern, dem entwickelten Westen hinterherhinkten und daß sich die Rückständigkeit Osteuropas nicht verringerte, sondern die Kluft sogar noch wuchs. Diese harte Tatsache konnten auch staatliche Propagandamanöver nicht verdecken, da sie den Politikern und den Soziologen wie auch den immer besser informierten Bürgern längst geläufig war. Versuche, dem herrschenden Mangel an Eigeninitiative und Verantwortungsbewußtsein durch halbherzige Reformen zu begegnen, beispiels­

weise durch die 1987 bei uns eingeführte Selbstverwaltung der Betriebe, vermochten - zumal nach den Anfängen von Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion - fast niemanden mehr zu mobilisieren. Der klassische politische Trick, von den brennenden Fragen - Deregulierung der Wirtschaft, Legitimität der Regie­

rung oder demokratische Partizipation an Entscheidungsprozessen - durch künstlich

2 Eine ähnliche intellektuelle wie soziale Ratlosigkeit war auch in der damaligen DDR zu verspüren (Meuschel 1992, S. 221f.).

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geschaffene ethnische Konflikte mit der türkischstämmigen Bevölkerung unseres Landes abzulenken, konnte unter den internationalen Bedingungen der achtziger Jahre nur zu neuen inneren Spannungen führen.

In dieser Situation wachsender Ratlosigkeit waren unsere Soziologen nicht bloß theoretisch wie moralisch verunsichert; auch ihre sozialtechnologischen Bemü­

hungen hatten ihren Sinn im wesentlichen eingebüßt. Zudem wirkten sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die wachsende Isolation des Landes negativ auf die internationalen wissenschaftlichen Kontakte aus. Parallel zur Verschärfung der inneren sozialen Spannungen am Ende der achtziger Jahre wuchs auch die Frustration unter unseren Soziologen. So waren sie - wie die gesamte bulgarische Gesellschaft - bereits auf den Wandel vorbereitet, dem die sowjetische Perestroika nur noch zusätzliche äußere Anstöße und zusätzliches Tempo gab. Doch erwies sich dieser Wandel als weit schneller und tiefgreifender, als wir Soziologen angenommen hatten.

4. Soziologie in einer sich transformierenden Gesellschaft

Die bulgarischen Soziologen zu beschuldigen, sie hätten weder Umfang noch Tempo der bevorstehenden Veränderungen vorausgesagt, entbehrt sicherlich nicht der Berechtigung. Doch muß man gerechterweise konstatieren, daß die Politiker, Journalisten und sogar die Geheimdienste von dem Umbruch in Osteuropa nach 1989 nicht weniger überrascht wurden als sie. Vergessen werden darf auch nicht, daß die westeuropäischen und nordamerikanischen Soziologen die Ereignisse von 1968 ebenfalls nicht vorherzusagen vermochten. So gesehen ist die Unfähigkeit, genaue Prognosen über die Entwicklungen im Lande aufzustellen, noch kein Beweis für die fachliche Inkompetenz oder das orthodoxe Beharrungsvermögen unserer Soziologen. In der Tat erwarteten und erhofften sie den gesellschaftlichen Wandel, doch stellten sich die meisten von ihnen diesen Wandel als eine mehr oder weniger radikale Vervollkommnung der vorhandenen institutionellen Muster vor.

Selbst noch 1989 bestand das wirkliche Problem nicht in der radikalen Veränderung des Systems, sondern darin, daß die Perestroika in Bulgarien erst mit Verspätung Fuß zu fassen begann. Es gab im Lande nämlich fast keine organisierte und einfluß­

reiche Opposition, die hätte glaubhaft machen können, daß sie einen grundlegenden Wandel zu tragen und zu realisieren bereit und fähig war.

Die Vorgänge in den übrigen osteuropäischen Staaten beschleunigten allerdings auch in Bulgarien die Veränderungen in einem kaum vorstellbaren Maß. Was sich nach dem November 1989 abspielte, war eine vollkommen neue soziale Erfahrung, welche unsere nationale Gemeinschaft der Soziologen in eine schwere Krise stürzte.

Schon auf dem V. Ordentlichen Kongreß der BSA im März 1990 wurde sie offen­

sichtlich. Nach erbitterten Debatten mußten die Wahlen für die neuen Leitungs­

gremien um drei Monate verschoben werden, weil sich kein Konsens über

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