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Soziologie in einer sich transformierenden Gesellschaft

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Die bulgarischen Soziologen zu beschuldigen, sie hätten weder Umfang noch Tempo der bevorstehenden Veränderungen vorausgesagt, entbehrt sicherlich nicht der Berechtigung. Doch muß man gerechterweise konstatieren, daß die Politiker, Journalisten und sogar die Geheimdienste von dem Umbruch in Osteuropa nach 1989 nicht weniger überrascht wurden als sie. Vergessen werden darf auch nicht, daß die westeuropäischen und nordamerikanischen Soziologen die Ereignisse von 1968 ebenfalls nicht vorherzusagen vermochten. So gesehen ist die Unfähigkeit, genaue Prognosen über die Entwicklungen im Lande aufzustellen, noch kein Beweis für die fachliche Inkompetenz oder das orthodoxe Beharrungsvermögen unserer Soziologen. In der Tat erwarteten und erhofften sie den gesellschaftlichen Wandel, doch stellten sich die meisten von ihnen diesen Wandel als eine mehr oder weniger radikale Vervollkommnung der vorhandenen institutionellen Muster vor.

Selbst noch 1989 bestand das wirkliche Problem nicht in der radikalen Veränderung des Systems, sondern darin, daß die Perestroika in Bulgarien erst mit Verspätung Fuß zu fassen begann. Es gab im Lande nämlich fast keine organisierte und einfluß­

reiche Opposition, die hätte glaubhaft machen können, daß sie einen grundlegenden Wandel zu tragen und zu realisieren bereit und fähig war.

Die Vorgänge in den übrigen osteuropäischen Staaten beschleunigten allerdings auch in Bulgarien die Veränderungen in einem kaum vorstellbaren Maß. Was sich nach dem November 1989 abspielte, war eine vollkommen neue soziale Erfahrung, welche unsere nationale Gemeinschaft der Soziologen in eine schwere Krise stürzte.

Schon auf dem V. Ordentlichen Kongreß der BSA im März 1990 wurde sie offen­

sichtlich. Nach erbitterten Debatten mußten die Wahlen für die neuen Leitungs­

gremien um drei Monate verschoben werden, weil sich kein Konsens über

organisatorische und Personalfragen erzielen ließ. Nur ein Jahr später mußte ein außerordentlicher VI. Kongreß der Vereinigung abgehalten werden, der die Aufgabe hatte, die Politik der BSA an die ganz neuen ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen anzupassen. Die inzwischen stattgefundenen Verände­

rungen lassen sich allein schon an der Größe der beiden Veranstaltungen ablesen.

Der V. Kongreß hatte noch immer alle Merkmale einer Massenveranstaltung vergangener Tage und war politisch wie ideologisch stark vom alten Geist geprägt.

Den VI. Kongreß besuchten nur noch 68 Delegierte, die versuchten, die Probleme weniger ideologisch und politisch als vielmehr geschäftsmäßig und fachorientiert zu artikulieren und anzupacken. Das erwies sich als die einzige Möglichkeit, um die sich allseits breitmachende Verunsicherung zumindest zu reduzieren.

Um zu verstehen, mit welchen Problemen unsere Fachgemeinschaft der Soziologen in der derzeitigen Übergangsperiode zu kämpfen hat, muß man sich vergegen­

wärtigen, wie sich die Delegierten des V. Kongresses des BSA von 1990 zusammensetzten: Von den 764 registrierten Delegierten war der größte Teil (39 Prozent) an Forschungsinstituten und Universitäten beschäftigt. Diese Soziologen befanden und befinden sich noch immer in einem Prozeß tiefgreifender Verände­

rungen. Denn sie müssen ihre Wertorientierungen und theoretischen Positionen wie auch ihre institutionellen Bindungen ganz neu festlegen. Heute bestreitet niemand mehr, daß das Paradigma der "soziologischen Struktur der Gesellschaft" wie auch andere einflußreiche theoretische Modelle (Mihailov 1982) - trotz ihrer konsolidie­

renden Rolle während der Entstehung der modernen bulgarischen Soziologie - äußerst revisionsbedürftig sind oder schlicht der Geschichte angehören. Die meisten dieser Modelle vertreten ein harmonistisches Bild der Gesellschaft, das angesichts des raschen sozialen Wandels weder für die Theoriebildung noch die Forschung oder die Lehre den notwendigen begrifflichen Rahmen bereitstellt. Gefragt sind neue Modelle, die insbesondere dem Begriff der sozialen Innovation Rechnung tragen. Ihre Ausarbeitung wird jedoch noch geraume Zeit in Anspruch nehmen.

Die phänomenologischen Theorieansätze, die sich - wie erwähnt - gegen Ende der achtziger Jahre größerer Beliebtheit erfreuten, werden dabei vielleicht in gewissem Umfang nützlich sein. Da sie jedoch ausschließlich die subjektive Seite der sozialen Prozesse thematisieren, werden sie bei der theoretischen Umorientierung unserer Soziologie auf Probleme des Wandels nur eine geringe Rolle spielen. Ein erneutes Durchdenken der Wechselwirkungen zwischen institutionellen und symbolischen Strukturen muß die einschneidenden Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen, der Arbeitsorganisation, der politischen Machtausübung usw. stärker in Betracht ziehen. Da aber diese theoretische Umorientierung noch nicht zustande gekommen ist, herrscht starke Verunsicherung bezüglich des theoretischen Kerns der Sozio­

logie wie auch bezüglich der Art und Weise ihrer Präsentation in der Lehre. Diese Unsicherheit kennzeichnet die intellektuelle Situation an den Forschungsinstituten und Universitäten, und sie ist auch der Grund dafür, weshalb eine gänzlich unkri­

tische Übernahme von Ideen ausländischer Soziologen um sich greift. Da es keine

weithin akzeptierten Qualitäts- und Leistungskriterien mehr gibt, läßt sich die Situation in unserer soziologischen Forschung und Lehre knapp und bündig auf die berühmt gewordene Formel "anything goes" bringen.

Dieselbe fundamentale Verunsicherung findet sich in der ideologischen Orientie­

rung unserer Soziologie. Ihre Tradition baute auf den Prämissen des Marxismus auf, was auch immer im Einzelfall unter "Marxismus" verstanden wurde. Inzwischen jedoch sieht sich unsere Soziologie mit einer völlig veränderten politischen und kulturellen Situation konfrontiert, die ihr derzeit zwei Optionen offenläßt, eine neue ideologische Orientierung zu finden: Die eine Option bestünde darin, eine wertfreie Soziologie als wissenschaftliches Ideal anzustreben und auf diese Weise den Zusammenhalt der nationalen soziologischen Fachgemeinschaft zu stärken. Die andere Option wäre, den Versuch zu unternehmen, die zahlreichen politischen und theoretischen Streitpunkte innerhalb der Fachgemeinschaft auszutragen, damit auf diese Weise der Wettbewerb der Ideen vorangetrieben wird. Die erste Option wäre zwar wahrscheinlich vorzuziehen, doch ist angesichts der fortdauernden politischen Konfrontation die zweite Option bei weitem realistischer - und dies um so mehr, weil Einzelpersonen wie Gruppen glauben, ihre Interessen und ihre Legitimation nur dadurch wahren beziehungsweise glaubhaft machen zu können, indem sie ideologische und politische Kämpfe ausfechten.

Unsere Universitätsprofessoren reagieren auf das Theorienwirrwarr und die ideolo­

gischen Rivalitäten und Einseitigkeiten besonders empfindlich, da von ihnen erwartet wird, daß sie ihr Fach in einer mehr oder weniger systematischen Weise lehren. Angesichts dieser Situation kann es nicht verwundern, daß sie gesicherte Theorien unterschiedlichster Autoren aus unterschiedlichsten Richtungen, vornehmlich ausländischer Provenienz, ohne Federlesens einfach übernehmen.

Langfristig gesehen wird diese Aufgeschlossenheit zweifelsohne zu einer intellektuellen Bereicherung unserer Soziologie führen. Kurzfristig jedoch bedeutet diese "Politik der offenen Tür", daß die Mehrheit der Hochschullehrer, aber auch der nachwachsenden Soziologengeneration, einer gesteigerten Neigung zum Eklek­

tizismus frönt.

Abgesehen von allen theoretischen und ideologischen Querelen stehen unsere Forscher und Hochschullehrer auch noch vor schwerwiegenden Arbeitsplatz­

problemen. Die Forschungsinstitute, die mit der früheren Kommunistischen Partei und den ihr nahestehenden Organisationen verbunden waren, wurden aufgelöst. Die zahlreichen Lehrstühle, die mit der sogenannten ideologischen Ausbildung zu tun hatten, wurden ebenfalls abgeschafft. Noch intakt gebliebene Forschungseinrich­

tungen mußten drastische Budgetkürzungen hinnehmen. Die neugegründeten Markt- und Meinungsforschungsinstitute stehen finanziell noch auf schwachen Beinen und können die wachsende Zahl arbeitsloser Soziologen keinesfalls absor­

bieren. Die Einengung der Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz als Soziologe zu finden, und insbesondere der Mangel an Arbeitsplätzen an den Instituten und

Universitäten trifft vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs hart. Private Stiftungen und Hilfe aus dem Ausland lindern zwar einigermaßen die Not, doch sind sie außerstande, die kontinuierliche staatliche Förderung der Wissenschaft zu ersetzen.

Die am schwersten von der Arbeitslosigkeit betroffene Gruppe sind allerdings die Soziologen, die hauptamtlich in landwirtschaftlichen und Industriebetrieben tätig waren. Wie groß diese Gruppe war, läßt sich daraus ersehen, daß sie 31 Prozent der Delegierten des V. Kongresses der BSA stellten. Sie waren die letzten, die eine Anstellung fanden, und die ersten, die entlassen wurden, unter anderem auch deshalb, weil manche von diesen Betriebssoziologen keine richtige wissenschaft­

liche Ausbildung genossen hatten. Zudem waren ihre Aufgaben in den Betrieben nicht immer klar Umrissen. Doch bedeutet ihre massenhafte Entlassung in zweierlei Hinsicht einen schweren Schlag für unsere Soziologie. Zum einen leisteten diese Berufssoziologen an der Basis wertvolle Hilfe für die Forschungsprojekte der Soziologen aus der Akademie und den Universitäten. Außerdem waren sie in der Lage, die sozialtechnologischen Empfehlungen, die Ergebnis dieser Projekte waren, dem Management zur Kenntnis zu bringen oder sie direkt in die Praxis umzusetzen.

Dieses Bindeglied zwischen soziologischer Forschung und sozialer Praxis wird in absehbarer Zukunft sehr fehlen. Zum anderen bot die Betriebssoziologie sehr gute berufliche Perspektiven für die Absolventen des Faches Soziologie beziehungsweise für diejenigen, die sich auf Soziologie hatten umschulen lassen. Diese Perspektiven sind inzwischen fast ganz versperrt, und unsere Soziologiestudenten haben insge­

samt nurmehr sehr schlechte Berufsaussichten.

Daneben vernichtete eine massive Entlassungswelle zahlreiche Arbeitsplätze für Soziologen, die bei den staatlichen Organen beschäftigt gewesen waren (12 Prozent der Teilnehmer des V. Kongresses der BSA setzten sich aus Vertretern dieser Gruppe zusammen), Entlassungen, für die in manchen Fällen zweifellos auch poli­

tische Motive maßgebend waren. Eigentlich sollte man annehmen dürfen, daß unsere gegenwärtige und auch die künftigen Regierungen die Expertise der Sozio­

logen benötigen werden. Doch infolge der drastischen Budgetkürzungen stehen unsere Soziologen in einem erbitterten Konkurrenzkampf mit Ökonomen, Juristen und sogar Psychologen und finden sich im Wettbewerb um Arbeitsstellen im schrumpfenden Staatsapparat oftmals auf der Verliererseite wieder. Viele Sozio­

logen aus dieser Gruppe haben denn auch ihre Stellen und damit ihre berufliche Qualifikation bereits verloren.

Eine beträchtliche Anzahl von Soziologen war bei politischen und verwandten Organisationen beschäftigt (diese Gruppe machte rund 10 Prozent der Kongreß­

delegierten aus). Da sie direkt oder indirekt mit der früher regierenden Kommunistischen Partei verbunden waren, hatten sie die Konsequenzen der Tren­

nung von Partei und Staat zu tragen. Ebenso wie bei den Soziologen im Staatsdienst steht zu vermuten, daß der derzeit blühende politische Pluralismus die Expertise von

Soziologen jetzt eigentlich dringend bräuchte und auch in Zukunft benötigen wird.

Jedoch fehlen den zahlreichen Parteien und Bewegungen, die nach den Umwälzungen die politische Szene Bulgariens so bunt aussehen ließen, die Mittel, um hauptamtliche Soziologen anzustellen. Darüber hinaus haben die neuen politi­

schen Führungspersönlichkeiten kein Vertrauen in Experten, die während der kommunistischen Herrschaft an Entscheidungsprozessen beteiligt waren. Das Problem hat noch eine weitere Seite. Unsere neuen Eliten hoffen nämlich, mit Hilfe der Ratschläge von Experten aus der Soziologie, aber oft auch lediglich durch Beru­

fung auf ihr wissenschaftliches Prestige, schnelle Erfolge erzielen zu können. Aus diesem Grund besteht die Gefahr, daß die Glaubwürdigkeit unserer Soziologie untergraben wird, weil ihr Prestige zwischen die Mühlsteine von politischen Konflikten gerät, die häufig nur allzu sehr von den Regeln eines Nullsummenspiels bestimmt sind. Diese Gefahr ist ganz real, da es Mode geworden ist, die Schuld für unerwartet negative Wahlergebnisse den Soziologen in die Schuhe zu schieben, weil sie die noch relativ leicht manipulierbaren politischen Präferenzen der Bevöl­

kerung nicht ganz genau enträtselt hätten (BSA Bulletin 1992).

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