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»Wehrhafte Nation« und »innere Wohlfahrt«: Zur militärischen Mobilisierbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft

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Aufsätze Alf Lüdtke

»Wehrhafte Nation« und »innere Wohlfahrt«: Zur militärischen Mobilisierbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft

Konflikt und Konsens zwischen Militär und ziviler Administration in Preußen, 1815-60

Die gesellschaftliche und politische »Doppelrevolution«1, die seit dem späten 18.

Jahrhundert West- und Mitteleuropa prägte, veränderte auch die Organisation obrig- keitlicher Gewaltsamkeit. Eine Analyse sollte bei den Umwälzungen der Produktions- weise beginnen: Seit dem 17. und dem frühen 18. Jahrhundert hatte sich Warenpro- duktion für überregionale Märkte in Agrarwirtschaft wie Gewerbe allmählich durch- gesetzt. Dieser im einzelnen sehr ungleichmäßige Wandel erschütterte die Lebens- weise abhängiger Bauern, städtischer Handwerker und der Massen von »flottanten«

Armen; angeregt wurden die Selbstausbeutung hausindustrieller Produzenten sowie die Ausbreitung und Intensivierung von Manufakturarbeit. Verschärfung herkömmli- cher Notstände, aber auch vermehrte Versuche eigenmächtiger Abhilfe (Klein- und Eigentumskriminalität, kollektive »Tumulte«) waren die Folgen. Pauperisierte und proletarisierte Massen wurden als Arbeitskraft dringend gebraucht, galten aber zu- gleich als »gefährliche Klassen«. Ihr offenbar so unstetes Hin und Her, vor allem aber ihre Zusammenballung in alten wie neuen Gewerbezentren, motivierte die politisch Herrschenden, die bereits in vorkapitalistischer Gesellschaft erprobten physischen Zwangsmittel unvermindert einzusetzen2. Der »stumme Zwang« marktvermittelter Tauschbeziehungen schien keine ausreichende Garantie für die erwünschte Ruhe und

Ordnung in der Gesellschaft. Die realen Entwicklungen im 18., mehr noch im 19. Jahrhundert widerlegten jedenfalls theoretische Annahmen zur »politischen Öko- nomie« der neuen Gesellschaftsformation: »Außerökonomische« Gewalt würde nur noch in Ausnahmefällen vonnöten sein.

Folgenreich für die Gewaltsamkeit »von oben« wurden aber auch die politischen Emanzipationsversuche bürgerlicher Klassen; vor allem konnten sie sich mit den viel- fältigen, weithin »traditionellen« plebejischen Widerständen überlagern. In Frank- reich gipfelten diese Spannungen und Auseinandersetzungen 1789 in revolutionären Aktionen.

Unter dem seither dauerhaften Eindruck massiver Gefährdung intensivierten lokale und staatliche Autoritäten in den europäischen »Mächten« ihre Gewaltdrohung und -praxis »nach innen«. Dabei stützten sie sich kaum auf besondere Polizeikräfte; diese waren ohnehin nur punktuell verfügbar und wenig professionalisiert (ihr flächendek- kender Ausbau wurde erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts forciert). Zentraler Eckpfeiler staatlichen Herrschaftsanspruchs nach innen blieb das stehende Heer — nicht nur, aber insbesondere in Preußen.

Das Konzept der Zähmung aller gesellschaftlichen Regungen, wie es für die Verteidi- ger des Status quo bestimmend war, gründete auf der Voraussetzung: Das Militär, als Kern des physischen Gewaltapparates und als Garantiemacht der herrschenden Ord- nung, mußte als besondere und womöglich privilegierte Institution bewahrt werden.

Dabei hatten die Verantwortlichen in Preußen, wie anderswo, nicht nur z.T. vehe- mente oppositionelle Kritik in Kauf zu nehmen; konstitutionelle Liberale wie republi- kanische Demokraten unterschiedlichster Färbung waren sich einig in der Forderung, die aus dem Ancien Regime überkommene Absonderung des Militärapparates zu 7 M G M 2 / 8 1 überwinden3. Gravierender mußte eine offenbar grundlegende Wandlung der militär-

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strategischen Notwendigkeiten werden: Konflikte zwischen den Mächten fügten sich seit den Revolutionskriegen der 1790er Jahre nicht mehr dem Postulat der strikten T r e n n u n g von Zivil- und Militär-»Stand«.

Im Ancien Regime hatte die institutionelle Separierung in Friedenszeiten eine funktio- nale Verklammerung von Militär- und Zivilgesellschaft nicht ausgeschlossen (beson- ders deutlich im ostelbischen Preußen: hier trafen die gutsuntertänigen Bauern in der Garnison ihren Gutsherrn als Kompaniechef wieder). Allerdings blieb damit die be- sondere Sphäre des Militärs unberührt — vor allem zum Zweck der monarchischen N u t z u n g und Kontrolle, aber auch als Disziplinierungsinstrument für angeblich oder tatsächlich unbotmäßige Ziviluntertanen4. Im Krieg fand dieses Arrangement, das auf die stete Verfügbarkeit des Militärs als Herrschaftsinstrument zielte, seine Parallele in artifiziellen Manövrier- und Ermattungsstrategien5. Diese »eingehegte« Militär- und Kriegsverfassung war jedoch unter dem verzweifelten Ansturm von ungeordneten H a u f e n französischer »citoyens« zusammengebrochen.

Daraus erwuchsen weitreichende Folgen: Die personelle Generalmobilmachung, die französische »levee en masse« zur Abwehr der konterrevolutionären Invasoren, be- stimmte bald auch das Handeln der Gegner. Die Verteidiger des politischen und ge- sellschaftlichen Status quo in Mitteleuropa konnten sich der expansiven Dynamik ei- ner mobilisierten Gesellschaft nicht entziehen. Sie mußten sich auf ein Paradox einlas- sen: Die zeitweilige, im napoleonischen Imperium dann permanente Expansion einer mobilisierten Gesellschaft ließ sich nur mit gleichen W a f f e n bekämpfen. Dies galt zu- mal f ü r Preußen — einen Staat, der weder (wie England) über eine einzigartige geo- graphische Lage bzw. über die Ressourcen weltweiter Marktbeziehungen und eines Kolonialreiches verfügte, noch (wie Rußland) auf unerschöpfliche Personalreserven bauen konnte, unbekümmert um populären Widerstand.

Die Gefahren einer importierten Revolution, die Bedrückung durch die Fremdherr- schaft eines nicht legitimen Souveräns waren offenbar allein militärisch zu balancieren oder zu überwinden. D a z u bedurfte es aber des »Volkskrieges«; die Aktivierung aller materiellen wie personellen Reserven und Ressourcen wurde unerläßlich.

In Preußen zog man diese Konsequenz aus der Niederlage gegen Napoleon von 1806/07 auch ohne große Verzögerung. Mobilisierung aller Ressourcen w u r d e offi- zielle Politik. Die Eingriffe in Eigentumsverhältnisse und Privilegien, die Verwal- tungsumbauten der folgenden Jahre — diese »Staatsreformen« hatten nicht nur das er- klärte Ziel, den drohenden Staatsbankrott abzuwenden6. Zugleich und vor allem soll- ten sie die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung im Innern stabilisieren; auf dieser Grundlage war dann die Handlungsfähigkeit als Großmacht zurückzugewin- nen. Die Ansprüche der Reformbeamten, gesellschaftliche Umwälzung einzuleiten und zu steuern7, verknüpften sich also in den ersten Jahren der Planung und D u r c h - setzung unmittelbar mit dem Ziel, der militärischen Schlagkraft einer erst noch zu be- gründenden »Nation« aufzuhelfen.

Formuliert wurde diese Position z.B. in der Rigaer Denkschrift, die der seinerzeit entlassene Minister H a r d e n b e r g 1807 dem König vorlegte8. Dabei setzte sich der Verfasser en detail mit der nun als ineffektiv erwiesenen bisherigen Militärverfassung auseinander. Als Zweck seiner Vorschläge zur Abhilfe — vor allem der Forderung nach allgemeiner Wehrpflicht — nannte er: »Daß der preußische Staat . . . künftig nicht bloß dem N a m e n nach, sondern in der Realität ein militärischer Staat sein würde«.

Voraussetzung d a f ü r war in der Sicht Hardenbergs die umfassende »Ökonomisie- rung« von Militärverfassung und -politik. Die bisherige Maxime, einmal angesam- melte Reserven zu bewahren, habe im kleinen Bereich (der Kompanie bzw. dem auf 8 Vorteil wirtschaftenden Kompanieinhaber) wie im Staat insgesamt deshalb »zur

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Überspannung« aller Mittel geführt, weil die vorhandenen Ressourcen unproduktiv genutzt worden seien. Der Versuch zu sparen habe die Forderung nach militärischer Effizienz ausgehöhlt. Dem müsse nun durch eine ganze Reihe von organisatorischen Veränderungen begegnet werden; entscheidend sei aber die systematische Einbezie- hung der gesamten Bevölkerung.

Parallel orientierten sich auch die führenden Gruppen im Offizierkorps auf dieses Ziel. W a r die allgemeine Teilnahme aller Staatsbewohner »die Voraussetzung f ü r er- folgreiche Operationen in einem gegenrevolutionären Krieg«, dann mußte auch das Militär lebhaft daran interessiert sein, das »Vermögen der ganzen Nation« in An- spruch nehmen zu können9.

Die Realisierung derartiger Einsichten erforderte die Überwindung des schroffen Ge- gensatzes von ziviler und militärischer Sphäre. Zunächst trat dabei die Konfliktlinie zwischen den Staatsapparaten hervor: Vordergründig standen finanzielle Mittel und administrative Zuständigkeiten auf dem Spiel9*. Letztlich ging es um die »Kompe- tenz-Kompetenz« f ü r die Bestimmung der faktischen Verteilungsmuster von Macht, Profit und Ansehen. V o r 1806 hatten die Beamten nicht selten hochmütige Arroganz und willkürliche Übergriffe durch Soldaten und Offiziere erfahren — oder dies doch gegenüber den »Verwalteten« beobachten können. Sie hatten die Privilegierung der Armee und der befehligenden Junkerklasse nicht nur als abstraktes Prinzip, sondern auch als tägliche Erniedrigung erlitten. Zwar war ihnen das Militär auch zur Nieder- schlagung widerspenstiger Bewegungen der Untertanen notwendig und hilfreich1 0; auf die überhebliche Armee von Fall zu Fall angewiesen zu sein, verstärkte jedoch nur die W a h r n e h m u n g massiver Unterlegenheit1 1. Umgekehrt hatte die überwiegende Mehrheit der Offiziere bisher keinen Grund gesehen, die zivile bzw. meistens bürger- liche »Kanaille« als mehr denn als lästige Gläubiger und weithin unehrenhaftes

»Pack«, äußerstenfalls als potentielle Rekruten zu sehen — jedenfalls nicht als mögli- chen oder gar notwendigen Partner zu akzeptieren.

Es m u ß offenbleiben, wieweit sich diese tief eingeschliffenen »Disharmonien« unter dem Eindruck der Niederlage überwinden ließen; zumindest bei den leitenden Beam- ten des besiegten Staatswesens traten sie f ü r einige Zeit in den Hintergrund. In den Ministerien konnte es zwar Debatten über die V o r - und Nachteile einzelner Mittel und Schritte geben, aber kaum grundsätzlichen Dissens über die Notwendigkeit einer Mobilisierung »von oben«. Fragen nach den Folgen, nach Tendenzen einer alle Ver- kehrsformen dauerhaft prägenden Militarisierung waren in diesem Zusammenhang kein Thema. Nach dem Ende der Kriegshandlungen mußte jedoch rasch fragwürdig werden, ob eine derart umgreifende militärische Indienstnahme der Gesamtgesell- schaft sinnvoll blieb, ob sie sich durchsetzen ließ.

Dabei ging es nicht um das Problem der politischen und Militärverfassung, wie es z.B. von publizistischen Kritikern mit der Forderung nach dem Milizsystem ganz grundsätzlich erörtert wurde. In der zivilen Administration drängte statt dessen die Frage: W a r e n die für die Mobilisierung bzw. Mobilisierbarkeit erforderlichen Ausga- ben zwanglos mit jener Staatswirtschaft zu verbinden, die nach den Maßstäben der Zeit doch Ausgabensenkung und Einnahmesteigerung zum Zweck des Budgetaus- gleichs erforderte? In Preußen bedeutete das konkret: Neben den laufenden Ausga- ben für das neuformierte Militär1 2 mußten immense kriegsbedingte Staatsschulden aus der ökonomischen Substanz beglichen werden; dies waren ganz oder weithin un- produktive Aufwendungen (zunächst für die Kontribution an Frankreich 1807, dann die direkten Kriegskosten 1813—15).

Entscheidend war aber, daß nach 1815 sehr schnell klar wurde: Militärische Reorga- nisation und andauernde Mobilisierbarkeit vergrößerten nicht nur die fiskalische Mi- sere; vor allem entsprachen sie nicht den ökonomischen Notwendigkeiten, wie sie mit

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der Ausformung »bürgerlicher Gesellschaft« deutlich wurden. Die Zivilbeamten be- griffen und stilisierten sich als Sachwalter dieser Gesellschaft. Für sie konnte es dabei nicht nur um höchstmöglichen fiskalischen Nutzen gehen. Zum brennenden Problem wurde vielmehr, in welchem M a ß e die Militärverfassung wie die Militärstrategie, also die Wehrpflicht, aber auch die Restaurierung und Neuanlage von Befestigungen am Rhein und in den östlichen Provinzen — inwieweit diese vielfältigen alltäglichen Zu- mutungen des Militärs unangemessen in den Lebenszusammenhang »bürgerlicher«

Erwerbs- und Lebensverhältnisse eingriffen. Weniger die Ministerialbeamten, sehr wohl hingegen die Landräte, Polizeidirektoren und Bürgermeister waren betroffen;

sie hatten die lokale Zuständigkeit bei Ersatzaushebungen und Abtretungsentschädi- gungen (bei Bauten). Für diese Vertreter staatlicher Herrschaft »vor Ort« stellte sich (jahres-zyklisch) stets von neuem die Frage: Bedeutete die stehende (Wehrpflicht-) Armee, als Mittel zur »Sicherstellung des Vaterlandes in der Verteidigung desselben«, nicht vorwiegend eine unproduktive Verschleuderung, die mit dem »Privatwohl- stande« zugleich »die K r a f t des Staates« bzw. den »Nationalreichtum« schädigen mußte1 3?

Z u r Debatte stand nun nicht mehr die fiskalische Ineffektivität, sondern die leerlau- fende Mobilisierung produktiver Ressourcen. Wenigstens zeitweilig wurde in der zivi- len Bürokratie beachtet, daß die Ausklammerung des Militärs aus einer ökonomi- schen Gesamtkalkulation aller gesellschaftlichen Potentiale bedeutete: Arbeits- und Produktionskräfte wurden gesellschaftlich-produktiver Verwendung entzogen.

Die Maxime, das »gemeine Beste« zu fördern, konkretisierte sich f ü r die Administra- tion vor allem in dem Ziel, vermehrte Produktion und Zirkulation durch gesteigerte

»Regsamkeit« der wirtschaftenden Subjekte sicherzustellen. In dieser Perspektive mußte die Blockierung von arbeitsfähigen »Händen« durch die Dienstzeiten1 4 ebenso irritieren wie die entschädigungslose Behinderung der Bodennutzung in den Feldmar- ken im Einzugsbereich der Festungsstädte; fragwürdig mußte das militärische Veto- recht bei Straßen- und Eisenbahnbauten werden, aber auch der Einzug von Grund und Boden f ü r Festungsbauten, wenn letzterer auch gegen Entschädigung erfolgte.

Bereits diese Andeutungen zeigen, daß Interessenkonflikte die vielfach angemahnte Kooperation von Zivil- und Militärgewalt fortwährend beeinträchtigen und hemmen mußten. Die Chancen f ü r offene Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktpart- nern waren freilich nur minimal. Die siegreichen Kriege gegen die napoleonischen Armeen (1813/14, 1815) hatten doch erneut bewiesen, daß gesellschaftliche »Ord- nung« und staatliche Souveränität auf militärische Absicherung angewiesen blieben.

V o r allem war der Nimbus des »stehenden« Heeres neu begründet und jedem offenen Zweifel entzogen worden1 5. Militärische Landesverteidigung schien auch weiterhin undenkbar ohne eine Berufsarmee. Dabei wurde kaum noch N o t i z davon genommen, daß das Offizierkorps ungeachtet aller Reorganisation1 6, wie der Abschaffung des Adelsprivilegs, den Anspruch des besonderen »Herrschaftsstandes« wieder aufnahm und fortführte. Überdies mußten die Zivilbeamten immer im Auge behalten, daß das Militär als polizeiliche Eingreifreserve unersetzlich blieb.

Wenig spricht auch dafür, daß umgekehrt die Offiziere eine neue Wertschätzung

»des Zivils« gewonnen hatten. Die Anstrengungen von Freiwilligenkorps und (weitge- hend) unausgebildeten Landwehrtruppen hatten die Ressentiments gegen »das Zivil«

kaum gemildert, gelegentlich eher verschärft1 7. Wenn also die Zivilbeamten als An- wälte der »bürgerlichen Gesellschaft« auftraten, mußten sie mit erheblicher Reserve bei den Militärs rechnen. Kühle Distanz mochte allerdings nicht unbedingt den Beam- ten, sondern mehr den »Verwalteten« gelten, deren Interessen die Land- und Regie- rungsräte zu repräsentieren beanspruchten.

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a) Die allgemeine Dienstpflicht als administratives Problem

Faktisch wie symbolisch bedeutete die allgemeine Wehrpflicht den Eckpfeiler der

»neuen Militärverfassung«1 8. Mit der Einführung dieses Instituts war das Carnot'sche Prinzip revolutionärer Massenmobilisierung übernommen worden. In der Absicht der Militärreformer sollten »bürgerlicher« Elan mit monarchischer Legitimität (und V o r - macht) verkoppelt werden, im Militär wie in der gesamten Gesellschaft. Die Ansätze zur Egalisierung von Klassen- und Standesschranken blieben allerdings großenteils nur zu bald auf der Strecke — die massiven Interessen an gesellschaftlicher Status- quo-Sicherung konnten sich ganz überwiegend behaupten. D e r in der »Nationale-Ar- mee von 1813 mobilisierte (bürgerliche) »Patriotismus« zeigte von Anfang an kaum antihierarchische Schubkraft. Für die Betroffenen mußte dies freilich eher abstrakt bleiben. Für sie war es fraglos weit wichtiger, daß es den Militärs mit der Wehrpflicht möglich wurde, Jahr für Jahr überaus fühlbar in ihre »bürgerlichen« Lebensverhält- nisse einzugreifen.

Das am 3. September 1814 erlassene »Grundgesetz« für die Militärverhältnisse ver- knüpfte die stehende Armee herkömmlichen Zuschnitts mit der Wehrpflichtigenar- mee und ging dabei weiter als z.B. das napoleonische Konskriptionssystem, in dem das Besitzprivileg durch den Freikauf bzw. die Gestellung von »Remplafants« aus- drücklich eingeräumt worden war; die dritte Säule sollte ein Milizelement bilden, die Landwehr. Durch das Gesetz wurden alle Ausnahmebestimmungen des Kantonsregle- ments des Ancien Regime aufgehoben — jedenfalls im Prinzip. N a c h den gesetzlichen Bestimmungen hatten alle M ä n n e r nach ihrem 20. Lebensjahr drei Jahre aktiven Dienst zu leisten, sofern sie nicht aus gesundheitlichen oder »sittlichen« Gründen (d.h. bei Verurteilung wegen »entehrender« Verbrechen)1 9 als untauglich gelten soll- ten; ab 1820 reduzierte sich die Dienstzeit auf zweieinhalb, 1833 bzw. endgültig 1837 auf zwei Jahre; nach 1814 zunächst zwei, ab 1820 zweieinhalb, dann ab 1833 drei Jahre gehörten die Gedienten anschließend zur »Kriegsreserve«.

Diese Reservisten hatten an Übungen teilzunehmen und wurden bei einer Mobilma- chung, wie 1830 oder 1832, zur aktiven Truppe einberufen. Damit waren aber die mi- litärischen Verpflichtungen noch nicht abgegolten: Bis zum 32. Lebensjahr bzw. sie- ben Jahre lang gehörte man nach der aktiven und Reservezeit zur Landwehr des I. Aufgebots und hatte hier Jahr f ü r Jahr vier- und einwöchige, ab 1818 zwei- und einwöchige Übungen zu machen; außerdem waren sonntägliche »Kontrollversamm- lungen« und mehr oder weniger freiwillige Sonntagsübungen, ζ. B. im Schießen, am Stammplatz des jeweiligen Bataillons abzuleisten. Die 32- bis 29jährigen wurden in die (allerdings meist inaktive) Landwehr des II. Aufgebots eingereiht. Schließlich soll- ten sie als 40- bis 50jährige den Landsturm bilden. Dieses letzte Aufgebot w a r zwar nur beim Eindringen feindlicher Armeen zu mobilisieren, konnte aber auch zur »Un- terstützung der öffentlichen O r d n u n g in einzelnen Fällen gebraucht werden«2 0. In der altpreußischen Armee hatten die Bauern, die Landarmen und Landlosen sowie (mit regionalen Unterschieden) die städtischen Besitzlosen und die Mehrzahl der ländlichen hausindustriellen Produzenten, nicht aber die gewerblich-»kunstfertigen«

und die angesessenen stadtbürgerlichen »Subjekte« die Lasten der Kantonspflicht, d.h. des Militärersatzes getragen2 1. Diese Pflicht war zwar durch Beurlaubungen un- terbrochen worden, hatte die Betroffenen aber doch f ü r 20 Jahre zu »wirklichen Mili- tärpersonen« gemacht. Im Unterschied zu dieser offenkundigen, allerdings sozial überaus unterschiedlichen Belastung sollte nun der Kreis der Betroffenen nur noch nach Kriterien individueller Tauglichkeit begrenzt sein. N u r bei der physischen oder

»sittlichen« Nichteignung schlug die sozial unterschiedliche Verteilung von physi- schem Elend und Kriminalität noch unmittelbar durch: Die sozialökonomische »Frei- 11 Setzung« der »ärmeren Klassen« durch die Mobilisierung von agrarischem und ge-

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werblichem Kapital fand ihre Kehrseite in ihrer nicht nur gelegentlichen »Freistel- lung« vom Militär2 2. Soziale Deklassierung wurde politisch untermauert und bestätigt durch stigmatisierende Ausschließung von der »beiläufig einzigen demokratischen In- stitution, welche in Preußen, wenn auch nur auf dem Papier, besteht« (F. Engels)23. Die soziale Logik des Instituts tritt noch deutlicher hervor, wenn man einbezieht, daß demgegenüber bereits 1816 den »gebildeten Ständen« ein Privileg ausdrücklich zuge- billigt worden war, in das 1817 auch die »kunstgerechten Arbeiter« einbezogen wur- den, wenn sie »sich durch ein örtliches Gewerbsverhältnis zu einer besonderen Be- rücksichtigung« eigneten: W e r seine »wissenschaftliche« oder »künstlerische« Bildung nachwies, der hatte die Möglichkeit, sich für den auf ein Jahr verkürzten »Einjährig- Freiwilligen«-Dienst zu melden2 4. Dabei konnte er den Truppenteil bzw. die Garni- son wählen, mußte allerdings Bekleidung und Verpflegung selbst stellen. Diese Be- günstigung der »Bildung« erwies sich nicht nur bald in erster Linie als Privileg des

»Besitzes«. Sie bot zugleich den höheren Beamten einen kollektiven Vorteil: Sie wa- ren zwar wie alle »Diener des Staates« verpflichtet, den Militärdienst bei ihrer Anstel- lung bzw. beim Referendarexamen nachzuweisen; als Abiturienten genossen sie aber den V o r z u g der verkürzten Dienstzeit. Überdies ließen sich mit diesem Dienst ein Studium oder der erste Ausbildungsabschnitt in der Bürokratie selbst, die »Auskul- tator«, zwanglos verbinden2 5.

Für die Zivilverwaltung bedeutete die Wehrpflicht ein doppelseitiges Problem: admi- nistrativer Vollzug und arbeitsintensive Durchsetzung — aber auch Mitentscheid über Ausnahmen, d.h. über Freistellungen26. Konkreter: Auf der unteren regionalen Ebene waren die Landräte — oder in Städten die Bürgermeister — mit der Registrierung der Pflichtigen betraut; in »Ersatz-Kommissionen« hatten sie, zusammen mit »angesesse- nen« Bürgern und mit Offizieren, über Tauglichkeit und über Frei- und Rückstel- lungsanträge bzw. Unabkömmlichkeit zu entscheiden2 7. Bei Unklarheiten oder Be- schwerden wurde die »Departements«-Kommission eingeschaltet (diese hatte eine Offiziersmehrheit), wenn nicht der jeweilige Landwehrinspekteur oder - k o m m a n d e u r mit dem Militärdezernenten des zuständigen Regierungspräsidiums bereits informell eine Lösung gefunden hatte, die nur noch »abzusegnen« war. D e r Grad der »Taug- lichkeit« der Pflichtigen wurde also nicht ausschließlich von den Militärs festgelegt, sondern — zumindest in der W a h r n e h m u n g der potentiellen Rekruten — gemeinsam von Offizieren, H o n o r a t i o r e n und höheren Beamten.

Die gesetzlich vorgegebene Verpflichtung für die Administration, bei der Aushebung alle männlichen »Untertanen« gleich zu behandeln, kollidierte fraglos mit der sozia- len Privilegierung der »Gebildeten«, zu denen eben auch die höheren Beamten selbst zählten. Daraus entstand zunächst freilich nur ein abstraktes Dilemma; in der Einfüh- rungsphase provozierte weniger diese Verletzung des egalitären Grundsatzes als der Eingriff in althergebrachte Privilegien offene Zweifel des Publikums am administrati- ven Handeln, jedoch nicht an der gesamtstaatlichen Legitimität. Dennoch bestimmten nicht die punktuellen, allerdings z . T . vehementen Proteste von ehemals »eximierten«

Stadtbürgern, von Adligen oder Gewerbetreibenden die administrative Umsetzung der allgemeinen Dienstverpflichtung2 8. Die Zivilbehörden, die seit 1815 jährlich an der Festlegung der tatsächlich Einzuziehenden beteiligt waren, standen unter einem mehrfach geschärften Entscheidungsdruck, der die Entfaltung der »bürgerlichen Ge- sellschaft« sehr direkt spiegelte. Er vermittelte Problemlagen der wirtschaftenden Ei- gentümer wie der »unmittelbaren Produzenten«, aber auch Interessen- und Interpre- tationsdivergenzen mit den Militärs und innerhalb der Administration selbst. Zu- nächst war das Handlungsfeld der Beamten, d.h. der Landräte und der für Militärfra- gen zuständigen Regierungsräte in den Regierungskollegien, eingegrenzt durch eine 12 Vorgabe des Militärs: Die Zahlen derer, die vom Kreis oder Bezirk gestellt werden

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mußten, entzogen sich der zivilen Kompetenz. In ihnen symbolisierte sich der auch offen angemeldete Anspruch der Militärs, zwar nicht die Disposition über jeden Ein- zelfall, aber doch insgesamt die »Kontrolle« zu haben2 9. Die Militärs waren, wie er- wähnt, auch fortwährend physisch präsent: Sie nahmen an den gemischten »Ersatz- Kommissionen« teil, in denen auf Kreis- und Bezirksebene über Einziehung, Rück- stellung oder auch Befreiung befunden wurde.

Entscheidungsspielraum öffnete sich für diese Kommissionen weniger bei der Freistel- lung oder Rückstellung vom aktiven Dienst3 0 als bei der Frage, wer von den Nichtein- gezogenen in welchem U m f a n g an den vier-, dann zwei- oder einwöchigen Land- wehrübungen teilzunehmen hatte. Dazu eine Erläuterung: Ganz abgesehen von der außenpolitischen Konfiguration erlaubten es auch die begrenzten Möglichkeiten des Staatshaushalts nicht, eine Armee aufzustellen, in die alle tauglichen Dienstpflichtigen hätten eingezogen werden können. U m 1820 wurden von den in der Schätzung des Kriegsministeriums ca. 50000 Tauglichen nur ca. 30000 benötigt3 1; vor allem die

»Kapitulation«, d.h. freiwillige Weiterverpflichtung, deckte einen erheblichen Teil des jährlichen Ersatzbedarfs. Dieses Verhältnis von 60% Eingezogenen zu den T a u g - lichen im Gesamtstaat Schloß zwar von Anfang an regionale Unterschiede ein3 2, ins- gesamt mußte es sich aber im Zuge der Bevölkerungsvermehrung, bei unveränderter Stärke der Armee, in jedem Fall allmählich verändern; konkret: D e r Anteil der Nicht- eingezogenen stieg bis in die 1840er Jahre auf nahezu 50% der Tauglichen eines Jahr- gangs.

Diese freigekommenen bzw. (ab 1825) freigelosten Tauglichen, die 40—50% jeden Jahrgangs ausmachten, sollten allerdings nicht jeden Dienstes enthoben sein. V o n An- fang an, d . h . seit Ausscheiden der Kriegsteilnehmer ab 1815, rückten auch Unge- diente zur Landwehr bzw. ihren Übungen ein. U n d 1819 bestimmte eine Kabinettsor- der, daß jedes der 96 Landwehrbataillone pro Jahr 100 »Landwehrrekruten« zu einer vierwöchigen Ausbildungsübung, mit späteren Wiederholungen, aus dem Reservoir der Ungedienten einzuziehen habe3 3. Rechnerisch wurde damit etwa die H ä l f t e derje- nigen Tauglichen erfaßt, die nicht zur Ableistung ihrer Dienstzeit hatten eingezogen werden können. Dieser Ansatz, die Belastung durch ein neues Institut zu egalisieren, war jedoch auch mit einer Einschränkung gekoppelt: Die gleichzeitige Verminderung der Landwehr um ca. ein Drittel (von 136 auf 96 Bataillone) reduzierte die Zahl der Stellen erheblich, die mit Ungedienten besetzt werden konnten bzw. zwischen 1816 und 1819 tatsächlich besetzt worden waren.

Insgesamt mußte die vor wie nach 1819 nur wenig kaschierte Aushöhlung des Al!ge- meinheitsprinzips die Bereitschaft der »Verwalteten« empfindlich treffen, sich der ge- setzlichen Zumutung des Dienstes und ihrer administrativen Umsetzung zu fügen.

Symptomatisch f ü r die tatsächlichen Ungleichheiten ist die eher hilflose Deklamation eines der bei der Aushebung beteiligten Landräte — es müsse jedem Zweifel entzogen bleiben, daß die »bürgerliche Existenz des einen . . . im Vergleich zu der des anderen«

nicht in besonderer Weise »gehemmt« werde3 4.

V o r wie nach der Zäsur von 1819, die im folgenden noch zu behandeln ist, standen die Beamten bei der Aushebung zur aktiven Truppe bei jedem einzelnen Dienstpflich- tigen nur einmal vor der Entscheidung über Befreiungs- oder Rückstellungsanträge, eventuell noch ein weiteres Mal bei Gesuchen um vorzeitige Entlassung jeweils f ü r einzige Ernährer von Witwen oder Familien. Demgegenüber stellte sich bei der Ein- berufung zur Landwehr des I. Aufgebots bzw. der Befreiung von den vierwöchigen, später zweiwöchigen Hauptübungen f ü r jeden Pflichtigen sieben Jahre lang J a h r für Jahr erneut die Frage, wie seine Situation bzw. »Unabkömmlichkeit« zu beurteilen sei (die Übungen der ungedienten Landwehrrekruten dauerten unverändert vier W o - 13 chen!). V o r allem aber bot die Landwehrinstruktion den Zivilbehörden einen Ansatz-

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punkt, der Interventionen für das von ihnen vertretene oder wenigstens beanspruchte

»gemeine Wohl« ermöglichte: Das Institut sollte schließlich »auf keine Art störend in die bürgerlichen Verhältnisse eingreifen«, deshalb müsse »Rücksicht auf die Lokalver- hältnisse genommen werden«, eine »Beeinträchtigung der Gewerbe« sei auf jeden Fall zu vermeiden35.

1. Die Umfrage von 1818: Wehrstand oder Nährstand?

In welcher Weise sich an Aushebungen und Einberufungen typische Konflikte zwi- schen den beteiligten Beamten und Offizieren entzünden konnten, ist für die zivile Seite aus den Antworten auf eine Umfrage zu erkennen, in der das Innenministerium im Mai 1818 von den Regierungen eine erste »freimütige Beurteilung« der seit 1814 für das Militärwesen bzw. für den Ersatz erlassenen gesetzlichen Bestimmungen an- forderte 36. Die Ministerialbeamten wollten die mit der »neuen Militärverfassung her- vorgebrachte Lage des ganzen Staates in allen einzelnen Teilen . . . konzentriert über- sehen«. Sie erkannten allerdings auch die möglichen Fährnisse ihrer Anfrage. Deshalb ermahnten sie die Untergebenen, »entfernt von allem theoretischen Raisonnement«

zu schreiben; zugleich warnten sie, »irgend einer Idee von bevorstehenden neuen Re- formen Raum geben zu wollen«. Dieser deutliche Hinweis bezog sich wohl weniger auf das erbitterte Tauziehen in und zwischen den Ministerien und am Hof um das an- geblich revolutionäre Potential der Landwehr und eventueller organisatorischer Kon- sequenzen37; vielmehr lassen sich die Ermahnungen als Aufforderung lesen, die Ein- sprüche und Zudringlichkeiten der im alten Militärsystem Freigestellten nicht allzu ernst zu nehmen oder gar eine Rückkehr zum Kanton ins Auge zu fassen. Die provin- ziale und lokale Administration sollte sich gefälligst auf Fragen der Durchführung und der institutionellen Verläßlichkeit konzentrieren.

Die Umfrage und ihre Ergebnisse sind hier nicht im einzelnen auszubreiten. An dieser Stelle geht es darum, die Argumentationsweisen der Berichterstatter zu beleuchten.

Deutlich werden sollen ihre Erfahrungen mit den Konfliktlinien zwischen Militär und Zivil, aber auch ihre Versuche, Lösungen zu finden oder von den Vorgesetzten zu verlangen.

Dazu eine Vorbemerkung: Das vorliegende Material erlaubt nur regional begrenzte Einblicke, vorwiegend aus den westlichen Provinzen. Da die Umfrage aber gerade die Diskrepanz oder Kongruenz von Militär- und Gesellschaftsverfassung in den einzel- nen Regionen zum Thema hatte, ist dieses Defizit nicht per Analogie von einer Pro- vinz zur anderen zu lösen. Hier können die strukturell brisanten Besonderheiten nur im allgemeinen notiert werden. Oberflächlich ging es um die Verschiedenartigkeit zwischen westlichen und östlichen Provinzen38, d.h. zu differenzieren war zwischen (bis auf Teile Sachsens ganz überwiegend) »alten« Provinzen östlich der Elbe und großenteils »neuen« Provinzen in Westfalen und den Mittel- und Niederrheingebie- ten. Bei genauerem Hinsehen bedeutete das: Unterschiede für Erwerbs- und Lebens- chancen zeigten sich zwischen Gebieten mit gutswirtschaftlicher bzw. vorwiegend grundherrschaftlicher Agrarverfassung (letztere im Westen), zwischen Regionen mit Agrarproduktion und ländlichem wie städtischem Gewerbe im Westen bzw. im Osten: mit gutswirtschaftlicher und bäuerlicher Ökonomie, demographischer »Explo- sion« der Landarmen und Landlosen und nur geringem Gewerbebesatz (in regionaler Konzentration), letzterer vor allem in Mittel- und Oberschlesien.

1.1 Die Stellungnahme der Regierung in Minden: Vorsichtige Detailkritik

14 Die Regierung in Minden bzw. ihr zuständiger Dezernent, der Regierungsrat Bissel, antwortete bereits im November 1818 auf die Anfrage des Staatskanzlers39. Die Re-

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gierung in Köln ließ sich mit ihrem Bericht wesentlich mehr Zeit — bis zum Sommer 1819; der dortige Dezernent, Schoenwald, konnte dann freilich bereits auf die Erfah- rung mit der Aushebung eines weiteren Jahrgangs zurückgreifen40.

Der Mindener Dezernent beließ es bei einer nüchternen Aufreihung von Hinweisen und Vorschlägen zur Präzisierung bzw. inhaltlichen Ausfüllung der Gesetze. In der Perspektive dieses Berichts gab es keine grundsätzlichen Konflikte. Mit den Militärs war danach nur eines zu klären: Bei den ungedienten Landwehrrekruten sei zweifel- haft, nach welchem Maßstab ihr »militärischer Fortschritt« und damit die Intensität weiterer Übungen bemessen werde. Bissel forderte:

»Um den Militär-Behörden um den Begriff eines Ungedienten nicht zu viel Willkür zu lassen«, müsse festgelegt werden, »daß in dieser Hinsicht nach drei Jahren ein Un- gedienter in die Kategorie der Gedienten kommt«.

Hier war die Praxis der Militärvorgesetzten gemeint, ohne Rücksprache, in jedem Fall aber nach ausschließlich militärischen Gründen zu Übungen einzuberufen: Ange- sichts der hohen Zahl von Nichtgedienten konnten sie damit beinahe die Hälfte jeden Jahrgangs über Jahre hin fortwährend in ihren »bürgerlichen Verhältnissen« belästi- gen, wenn nicht dieser »Willkür« ein Riegel vorgelegt wurde.

Und auch bei der Frage, nach welchen Prinzipien die Zivilverwaltung selbst bei An- trägen auf »Berücksichtigungen« bzw. Frei- und Rückstellungen zu verfahren hatte, um tatsächlich die »Schonung des Landes« zu betreiben, sah Bissel keine erheblichen Probleme. Für den Regierungsrat war mit der zitierten Frage nach den Ungedienten, allenfalls noch mit der Sorge um die Entfernung der sonntäglichen Übungsplätze (nicht mehr als zwei Wegstunden) das Maß des Möglichen und Legitimen erfüllt.

In der Berichterstattung über die Militärverfassung zeigen die Darlegungen der Köl- ner Regierung, aber auch die eines Landrats aus dem Regierungsbezirk Arnsberg ab- weichende, ζ. T. alternative Möglichkeiten der Wahrnehmung und Artikulation.

1.2 Die Stellungnahme der Regierung in Köln: Die »nachteilige Einwirkung« der Mi- litärverfassung

Der Kölner Regierungsrat Schoenwald verknüpfte die prinzipielle Zustimmung zum Grundsatz der allgemeinen Dienstpflicht mit einer Kritik einzelner Mängel durch Hinweise auf die Praxis in den Kommissionen. Zugleich gibt sein Bericht die Mög- lichkeit, für einen der (1818) 27 Regierungsbezirke die Größenordnung der für die Beamten und die anderen Kommissionsmitglieder jeweils anstehenden Entscheidun- gen mit einschlägigen Zahlen plastisch zu machen.

Der Bezirk, der mit 333 795 Einwohnern etwa 10°/o weniger Menschen umfaßte als der Mindener und 15% weniger als der Arnsberger, hatte von 1816 bis 1818 jährlich etwa 1000 Rekruten gestellt, d.h. 0,3°/o der Einwohner; einschließlich der Kriegsre- serven gehörten danach zum Zeitpunkt des Berichts 5000 Männer zum stehenden Heer, also 1,6% der Bevölkerung des Bezirks. — Für die Männer der Jahrgänge 1796 und 1797 gab Schoenwald eine detaillierte Aufschlüsselung der Aushebungsergeb- nisse:

Gesamtzahl: 4287

»bereits fertig gedient«: 225 z.Zt. »beim Heer«: 89 freiwillig auf 3 Jahre verpflichtet: 44

ljähr. Dienst: 41

15

wegen »unbedingter körperlicher oder geistiger

Unfähigkeit«: 409 Entlassungsscheine

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»wegen verletzter bürgerlicher Ehre waren vom Dienst

ausgeschlossen«: 15

»wegen Mangel an Größe und zeitiger körperlicher

Fehler waren übergangen«: 1797 einstweilen zurückgestellt (»Berücksichtigungs-

gründe«): 821

»ausgehoben wurden«: 846 Die Gesamtzahl der zu Musternden betrug also 4287. V o n ihnen waren aufgrund me-

dizinischer, wohl nicht selten sozial begründeter, jedenfalls vom Militärarzt zu beur- teilender, von der Kommission jedoch zu akzeptierender Untauglichkeit bereits 2206 bzw. 51% ausgefallen. Die »bürgerlichen Verhältnisse« mußten im Hinblick auf Frei- oder Rückstellungen demnach äußerstenfalls bei 1682 Männern geprüft werden, min- destens bei 836 (den tatsächlich Berücksichtigten und den wegen »verletzter bürgerli- cher Ehre« Ausgeschlossenen). Für die kommenden Jahre sind außerdem die jeweils im V o r j a h r Zurückgestellten hinzuzunehmen. Bei jeder Aushebung waren somit in den ersten Jahren nach 1815 für jeden Jahrgang etwa 1000 bis 1100 Einzelfälle zu prüfen und zu entscheiden.

D a die Musterung auf Kreisebene erfolgte, läßt sich ein rechnerischer Durchschnitt von 90 derartigen Entscheidungen pro Kreisersatzkommission ermitteln — eine Zahl, die mit dem Bevölkerungswachstum in den folgenden Jahren fraglos steigen mußte.

Schoenwald unterstrich die Kalamität dieses Entscheidungszwanges, der an einem einzigen T a g zu bewältigen w a r ; das Ersatzgeschäft sei »höchst lästiger und schwieri- ger Art«.

»Die Beschaffenheit des Geschäfts bringt es mit sich, daß jeder einzelne Fall auf der Stelle und schnell entschieden werden muß, und doch ist es nicht zu leugnen, daß das künftige Wohl ganzer Familien o f t von der Entscheidung abhängt.«

Er empfahl deshalb eine verbesserte Vorinformation. Es reiche nicht aus, daß zwei Väter von ebenfalls Dienstpflichtigen die Unabkömmlichkeit des Nachbarjungen be- zeugen sollten; damit könne man sich nicht gegen »Unterschleife« schützen. Erfor- derlich sei, daß die Bürgermeister, die für jeden Antragsteller ein Attest auszustellen hatten, sorgfältigere Erkundigungen einzögen, vor allem aber, daß Anträge und Atte- ste spätestens drei Wochen vor dem Musterungstermin den Landräten und den zivilen Kommissionsmitgliedern vorlägen.

Erfolg hatte die Regierung mit diesem Vorschlag jedoch ebensowenig wie mit dem Antrag, die Altersgrenze f ü r die Landwehr zu senken (von 32 auf 30 f ü r das erste bzw. von 39 auf 35 Jahren f ü r das zweite Aufgebot). Schoenwalds Begründung d a f ü r lautete, daß sich »nicht ohne Grund« der Vorwurf hören lasse, die Militärpflicht dehne sich »gar zu weit« aus und habe »dadurch eine nachteilige Einwirkung auf die bürgerlichen Verhältnisse der Untertanen zur Folge«. Die Verpflichtung f ü r den ein- zelnen und die Last für die gesellschaftlichen Beziehungen seien nicht zu trennen:

»Es gehört nicht viel weniger als die mittlere Lebensdauer eines Menschen dazu, um seine Dienstpflicht völlig abzulösen; daß dieses auf den Betrieb der bürgerlichen Ge- werbe und häuslichen Einrichtungen nur nachtheilig einwirken können, bedarf keines weiteren Beweises, als den der Erfahrung.«

Dieser Versuch, die Belastung für alle zu reduzieren, wurde ohne Reaktion zu den Akten genommen. Die »Stimmung« der »Untertanen« sollte — sofern überhaupt — of- fenbar nicht durch gleichmäßige Entlastungen, sondern allenfalls durch Umverteilung der Belastungen beeinflußt werden. So lassen sich jedenfalls das Schweigen der V o r - 16 gesetzten und die gleichzeitige positive ministerielle Reaktion auf eine Initiative der

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westfälischen Behörden deuten, die nicht auf Entlastung, sondern gleichmäßigere Be- lastung zielte. Sie wird noch zu behandeln sein.

Die Kölner Regierung monierte aber auch die vorgeschriebene »Konkurrenz« von Zi- vilbehörden und Militär in der Kommission; die Machtfrage stellt sich hier als Kom- petenz- und Organisationsproblem. Zum einen müsse der gemeinsame Vorsitz von Landrat und Bataillonskommandeur zugunsten des Landrats geändert werden:

»Das Abhängigkeits-Verhältnis jgegen die Militär-Behörde nimmt, in jeder Bezie- hung, erst mit dem wirklichen Ubertritt aus dem bürgerlichen in den Militärstand, oder mit der wirklichen Abnahme der Rekruten, seinen Anfang.«

Z u m zweiten sei ein einziger Offizier ausreichend. Die Anwesenheit mehrerer verur- sache nur »unnütze Kosten« für die Staatskasse (im Unterschied dazu sei bei der »De- partements«- bzw. Bezirkskommission die Mehrzahl von Offizieren gerechtfertigt, ginge es hier doch um die Verteilung auf die verschiedenen Waffengattungen).

1.3 Landrätlicher Widerspruch: Der Landrat des Kreises Iserlohn

Das Kompetenzproblem beschäftigte vor allem auch die unmittelbar beteiligten Be- amten, d.h. die Landräte. Sie legten aber zudem — entgegen der Aufforderung des In- nenministeriums — teilweise weitgehende Modifikationsvorschläge zur Militärverfas- sung insgesamt vor. Besonders pointiert und ausführlich antwortete der Landrat des Kreises Iserlohn4 1. D e r 52jährige Müllensiefen, K a u f m a n n , Verleger und (Nadelfa- brik-)Besitzer, war erst seit drei Jahren tätig, in der Verwaltung also ein Neuling. Er war aber auch insofern ein Außenseiter, als er der einzige unter den Kollegen war — zumindest in dieser Provinz —, der nicht zu den agrarischen, sondern zu den gewerb- lichen Eigentümern gehörte.

Müllensiefen zielte in seinem sehr ausführlichen Bericht auf vier kritische Punkte:

zum einen — noch sehr allgemein — auf die Frage, ob nicht die ökonomische P r o d u k - tivität der Gesellschaft durch die militärische Beanspruchung der begrenzten Ressour- cen in Gefahr geraten mußte. Direkt verbunden mit der ökonomischen Beeinträchti- gung erschien (zweitens) das Problem der gesellschaftlichen Rangordnung. Im Unter- schied zum Kollegen Wiethaus im benachbarten Kreis H a m m , f ü r den die veränderte Militärverfassung voraussetzte, daß »der Soldat also keinen eigenen Stand ausmachen soll«, sah Müllensiefen ganz nüchtern die faktisch weiterbestehende »Scheidewand«

zwischen Militär- und Zivil-»Stand«. Dementsprechend mußte er bei der » H a n d h a - bung« der Gesetze deren »innere Haltung« bzw. die prekäre Abgrenzung zwischen Zivil- und Militärapparat einbeziehen (dies der dritte Punkt).

Schließlich — und viertens — bündelte er die Konfliktlinien in der Überlegung zum Zusammenhang von praktizierter Militärverfassung und Legitimierung des Staates.

Weniger durch ungleiche als durch insgesamt zu »einschneidende« Belastungen sah er die »Liebe der Völker« gemindert oder gefährdet, d. h. eine Zustimmung zur H e r r - schaft aus »freien Stücken« blockiert, wobei ausgeklammert war, ob Überzeugung oder Apathie in der »Liebe der Völker« vorherrschen würde. In jedem Fall galt ihm die Intervention zu militärischen Zwecken, an der die Administration wesentlich be- teiligt war, als unvereinbar mit rechtmäßiger, d. h. »gerechter« Herrschaft. Die W e h r - pflicht verletzte in dieser Sicht zumindest die »moral polity« der »guten Bürger«; offe- ner Protest, wie im August 1817 in Breslau bei einer Landwehrvereidigung, konnte bei Fortdauer dieses Wehrpflichtsystems also nicht ausgeschlossen werden.

N a c h der grundsätzlichen Markierung der Position wurde Müllensiefen konkret. Er veranschaulichte mit Einzelbeispielen, wie die Besonderung des »Wehrstandes« im administrativen Alltag gesellschaftliche Wirklichkeit wurde. Dabei kritisierte er vor al- lem die »Willkür« des Militärs. Bei Rückstellungen f ü r die Linie, die aktive Truppe, 17 wie bei Einberufungen zur Landwehr kenne er Fälle, »wo die Zivilbehörde, die doch

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nur allein über die vorkommenden Familienverhältnisse competent zu urteilen ver- mag, nur eine Null vor der Ziffer galt, und wo im tiefsten Frieden mit einer Strenge verfahren wurde, die im Angesicht des Feindes keine schärfere Anwendung hätte fin- den können«.

Im Mittelpunkt der Argumentation des Landrats stand die Erläuterung der »bürgerli- chen Verhältnisse«. Sein Augenmerk galt dem Zusammenhang von Sicherung des Pri- vateigentums, »bürgerlichem Wohlstand« und »Kraft des Staates«. Zur ökonomischen Befestigung und Entwicklung der konkreten Produktionsstätten, der »Fabriken«, landwirtschaftlichen Betriebe bzw. »Güter« und der »Manufakturen«, aber auch der Warenhandlungen (und damit wohl der in diesem Gebiet verbreiteten Verlegerkauf- leute) sei aber dringend erforderlich: die »Schonung der männlichen Erstgeburt oder desjenigen Sohnes, der Nachfolger in dem Besitz und der Bewirtschaftung der Güter, Fabriken und Manufakturen ist«. Es sei ganz unmöglich, für die Jahre des Dienstes brauchbare Stellvertreter zu finden; die Eigentümer bzw. Söhne hätten ihr Gewerbe schließlich über Jahre hin mühsam erlernt. In jedem Fall sei die Befreiung erforder- lich, wenn eine Handlung und eine Fabrik (bzw. Manufaktur) geführt würden — nach Prüfung der Verhältnisse, wenn nur eine von beiden betrieben würde. Die Befreiung solle allerdings gegen ein Loskaufgeld erfolgen. Bei »Armeren« sah Müllensiefen ei- nen Betrag zwischen 5—20 Talern als angemessen an. Zur Begründung verwies er auf sein bereits genanntes Argument, die ungesicherte Legitimierung der gesamten Mili- tärverfassung. Ein Loskaufgeld würde aber für »das Gefühl der Gerechtigkeit in der öffentlichen Meinung vollständig genügen«.

Etwa den gleichen Umfang wie dieser Antrag zur Linie hatten die Passagen, in denen Müllensiefen Probleme der Landwehreinziehung behandelte. Die inhaltliche Argu- mentation unterschied sich in ihrem Grundzug nicht von der eben skizzierten. Mül- lensiefen erläuterte seine Einwände aber zusätzlich durch einige Beispiele, die wohl nicht nur für die damaligen Leser einiges an Anschaulichkeit vermitteln können. Vor- auszuschicken ist allerdings, daß — wie bereits angedeutet — die Landwehrordnung den Militärs einen erheblich größeren Spielraum bot, vor allem bei der Einziehung der Nichtgedienten, aber Tauglichen, zu Übungen. Nicht zuletzt war es auch eine Folge der Altersgrenze (bis 32 Jahre), daß zwangsläufig sehr viel mehr Männer mit Familien, d.h. zu berücksichtigenden »häuslichen« Verhältnissen der Pflicht zum Landwehrdienst unterlagen als der zum Dienst in der Linie. Hier mußte demnach bei der Durchsetzung des militärtechnischen Gesichtspunktes, d.h. eines Maximums an Exerzieren und Ausbildung, die Beeinträchtigung der »bürgerlichen Nahrungsver- hältnisse« für die Betroffenen fühlbarer werden und für die Beamten sehr viel sichtba- rer hervortreten.

Müllensiefen führte drei Besitzer »kleiner Güter« an; sie hätten jeweils ein Pferd zur Bewirtschaftung, aber keinen stellvertretenden Pferdeführer. Zwei von ihnen seien die einzigen Söhne von Witwen, einer habe einen 65jährigen blinden Vater. Die Ver- schärfung gegenüber der Dienstpflicht für die Linie ließ sich bei allen dreien erken- nen: Sie waren bisher als »einzige Ernährer« ihrer Familien vom aktiven Dienst zu- rückgestellt worden. In einem anderen Fall sei der älteste Sohn eines am Arm gelähm- ten Vaters und einer »schwachsinnigen« Mutter ebenfalls als einziger Ernährer bisher zurückgestellt gewesen; die Familie umfasse übrigens noch 7 weitere Söhne und 5 Töchter. Der Zweitälteste Sohn war danach mit seinem Bruder ebenfalls 1817 zur Landwehr als Rekrut eingezogen worden, so daß während der Übung nur noch halb- wüchsige Kinder neben den behinderten Eltern auf dem Hof geblieben waren. Die Verbitterung der Betroffenen gab Müllensiefen mit der abschließenden Bemerkung weiter: Der Vater habe während der Übung zudem eine »bedeutende Anzahl Land- 18 wehrmänner« zu beherbergen und zu verpflegen gehabt; es sei wohl klar, daß die Fa-

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milie »während der Übungszeit mehr einbüßt, als auf einem solchen Gut in einem Jahr gewonnen werden kann«.

D e r dritte Fall sollte zeigen, daß nicht nur der »Nährstand«, sondern auch die staatli- che Administration direkt und nachteilig betroffen war: In der Bürgermeisterei H e - mer sei der Verwaltungssekretär einberufen worden. Während der Übung sei die lo- kale Verwaltung gelähmt gewesen, »da der Bürgermeister nur zu unterschreiben ge- w o h n t ist«. — Erstaunlich ist der Bericht über diesen Fall auch deswegen, weil sich der Landrat damit fraglos selbst ein schlechtes Zeugnis ausstellte. Wie mußte es mit seiner Aufsicht über die kommunalen Amtsträger bestellt sein, wenn er hier keine Abhilfe fand? Aber vielleicht deutet gerade deshalb das Beispiel darauf hin, wie nachhaltig Be- sorgnis und Unmut über die »neue Militärverfassung« diesem betont »bürgerlichen«

Beamten »vor Ort« zusetzten.

In diesen Beispielen waren für den Landrat die ökonomische mit der gesellschaftli- chen (Ir-)Rationalität und diese unlösbar mit der individuellen Belastung oder N o t - lage der einzelnen Produktionsmittelbesitzer verbunden. In dieser V e r k n ü p f u n g lag für ihn der Bezugspunkt f ü r seine kritische Bewertung von Entscheidungen der Mili- tärbehörden.

Müllensiefen ergänzte aber das Argument zur Hinnahmebereitschaft der »Verwalte- ten« gegenüber der Militärordnung noch um einen weiteren Punkt — die Kosten der jährlichen Landwehrübungen: Sie »kosten der Stadt Iserlohn — Geschäftsversäumnis ungerechnet — wenigstens den Totalbetrag aller Steuern«; vor allem die dabei anfal- lenden Einquartierungs- und »Servis«-Lasten42 verdoppelten also faktisch die Abga- ben an den Staat. Die Konsequenz sei, daß »viele Bürger, die in dieser drückenden Last ihren Ruin voraussehen wollen . . . daher ihren Grundbesitz verwünschen, um augenblicklich die Monarchie verlassen zu können«.

Hier wurden also die unmittelbaren pekuniären V o r - und Nachteile, die der militäri- sche Zugriff bringen konnte, in Beziehung gesetzt zu der Bereitschaft der Betroffe- nen, ein politisches System, das derartige Lasten weiterhin in Aussicht stellte, zu ak- zeptieren und auch zu stützen. — In dem Bemühen, die eigene Skepsis über diese Be- reitschaft noch bildkräftiger zu machen, fügte Müllensiefen hinzu, daß »selbst der gute Geist der Landwehroffiziere . . . oft nur der Geist der Betäubung entgegenge- setzter Gefühle durch berauschende Spirituosa ist« — und auch dafür »mag die Aus- lage manchem schwer abgehen«.

Die Mischung aus nachdrücklicher M a h n u n g und Besorgnis mit offener, an einigen Punkten scharf zugespitzter Bitterkeit mochte sicherlich z . T . den Eigenheiten dieses bürgerstolzen »Dieners des Staats« zuzurechnen sein. Allerdings kann das nicht hei- ßen, daß seine Positionen und Argumente bloß Ausdruck einer persönlichen Schrulle waren. Die Thesen von der volkswirtschaftlichen Schädlichkeit des Militärs im allge- meinen und der Wehrpflichtarmee im besonderen, von der sozialen und administrati- ven D o m i n a n z des Offizier-»Standes«, vor allem aber die V e r k n ü p f u n g der Legiti- mierung des staatlich-politischen Systems mit der Belastung der einzelnen »Unterta- nen«, d.h. sowohl der Eingezogenen wie besonders der angesessenen und besitzenden Bürger bzw. ihrer Kommunen — diese skeptischen Rückfragen wurden in der Büro- kratie weithin geteilt, zumindest als seriös genommen. Allerdings setzten Kollegen und Vorgesetzte z . T . andere Akzente, etwa bei der Belastung der Eigentümer. V o r allem aber legten sie — soweit zu sehen — ausnahmslos weit weniger dezidiert-kon- krete und zugleich umfassende Lösungsvorschläge vor.

Müllensiefens Überlegungen, Klagen u n d Empfehlungen kreisten um die Entlastung des »Nährstandes«, den er in der Vielzahl der einzelnen Eigentümer verkörpert sah.

Ihre partikularen Interessen zu sichern, galt in dieser Sicht als optimaler Beitrag der

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Administration zum »gemeinen Wohl«. Die delikate Balance, die die Behörden bei der »Ersatzgestellung« zu halten hatten, damit die »gesetzliche Verbindlichkeit« nicht zu dem gefürchteten »belästigenden Eingriff in die bürgerlichen Verhältnisse« wurde, konnte jedoch in der Koppelung mit den Interessen der Eigentümer keine eindeutige Stütze finden. Auch wenn der Zusammenhang zwischen individueller Produktivität und »Nationalwohlstand« grundsätzlich außer Frage stand, blieb es ganz unklar, wie im Rahmen der geltenden Militärverfassung daraus unzweifelhafte Grenzen f ü r die militärische »Definitionsmacht« über die Personalrekrutierung abzuleiten waren. Lö- sungen, wie die von den zitierten Landräten empfohlene Substitution bzw. der Frei- kauf, hätten dem bereits offiziell eingeführten Bildungsprivileg eine nicht mehr nur (im Einjährigen-Institut) versteckte, sondern eine ganz ausdrückliche Bevorzugung des »Besitzes« hinzugefügt. Eine offene Diskriminierung der nichtbesitzenden »Mas- sen« erwies sich aber — zumal unmittelbar nach vielfachem freiwilligen militärischen Einsatz f ü r das »Vaterland« 1813/15 — als kritische Grenze.

2. Militärdienst und politische Legitimierung: »Scheinbare Gerechtigkeit« (Vincke) und ungleiche Belastung

Das Postulat der gleichen Verpflichtung hatte zumindest indirekt die Legitimität von kritischen Rückfragen und expressivem Protest gestärkt. V o r allem direkte Verweige- rung, d.h. Entzug der Pflichtigen durch unerlaubtes Auswandern oder auch Selbst- verstümmelung von Betroffenen, so bei Landarbeitern im Kreis Ahaus4 3, ließen sich nicht mehr nur als Ausdruck eigensüchtig-brutaler »Ehrenlosigkeit« einzelner baga- tellisieren.

Einsicht in das Politisierungspotential der Gleichheitsnorm beunruhigte offenbar auch die westfälischen und rheinischen Mittelbehörden, als sie in den ersten Jahren nach 1815 ein allgemein schwindendes »Zutrauen der Eingesessenen gegen die Regierung«

konstatierten4 4. Ursache sei weniger die neue Herrschaft generell, die Besitznahme durch Preußen, sondern speziell die damit verbundene Militärverfassung und deren Praktizierung. Für derartige Besorgnisse gab es konkrete Anlässe: Überziehen der Dienstzeit durch die Militärbehörden, d.h. »unpünktliche Entlassung« der W e h r - pflichtigen; aber auch der Einsatz von Landsturmsoldaten, also von 40- bis 50jähri- gen, f ü r Transport- und Wachdienste. V o r allem f ü r Betroffene »aus der Klasse der H a n d w e r k e r und Tagelöhner« konnten die mehrtägigen Aufgebote existenzbedro- hend werden — die sozialen Kosten waren zumindest ungleich verteilt45.

Es läßt sich nicht zuverlässig übersehen, inwieweit regionale und lokale Militärbe- fehlshaber in diesen Jahren in gleicher oder ähnlicher Weise deutliche Anzeichen ei- ner eher zu- als abnehmenden Unwilligkeit über Militärorganisation und -dienst- pflicht bemerkten. Aber auch unter militärtechnischen Aspekten ließ sich U n m u t arti- kulieren — über die mangelnde N u t z u n g des Menschenreservoirs.

2.1 D e r Vorstoß des Generals v. H a k e : Allgemeine Erfassung und Alleinentscheid des Militärs?

Beide Kritikpunkte schienen in einem Vorschlag verbunden, mit dem der K o m m a n - dierende General des VIII. Armeekorps in Koblenz am 21. Mai 1818 an den Oberprä- sidenten der mittel- und oberrheinischen Gebiete herantrat4 4. D e r General v. H a k e regte an, in den Bezirken dieser Provinz unverzüglich f ü r beide Aufgebote der Land- wehr eine Landwehrreserve zu bilden, analog zur Kriegsreserve f ü r das stehende Heer. D e r Grundgedanke war unkompliziert: Die nach militärischen Maßstäben, d . h . nach den Urteilen der zuständigen Landwehrkommandeure »ausreichend« geüb- ten Wehrmänner sollten aus der Übungsverpflichtung entlassen, d a f ü r aber die Unge-

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dienten herangezogen und bis zu ihrer — wieder von den Militärs zu beurteilenden — militärischen Reife durch vierwöchige Rekrutenübungen und bei den (eigentlich als freiwillig konzipierten) Sonntagsübungen »abgerichtet« werden.

Die Zivilbehörden, d. h. der Oberpräsident v. Ingersleben und die von diesem umge- hend mit befürwortendem Anschreiben unterrichteten Regierungen in Trier, Aachen und Koblenz reagierten uneinheitlich47. Während in Koblenz der Präsident v. Schmitz-Grollenburg bereits eine Woche später eine gemeinsame Konferenz mit dem Militärreferenten seiner Regierung (v. Bonin) und dem zuständigen Landwehrin- spekteur (v. Tippeiskirch) abhielt, äußerten die beiden anderen Regierungen sehr massive Zweifel — beide kamen zu einem ganz ablehnenden Urteil, das sie bei aller Anerkennung der »Wichtigkeit der Sache und der vortrefflichen Absichten des K o m - mandierenden H e r r n Generals« (so die Trierer Beamten) mit N a c h d r u c k vorbrach- ten.

D e m H a u p t a r g u m e n t des Generals, eine »allgemeine Militärverpflichtung« sei »des Beispiels« wegen notwendig, hielt die Trierer Regierung bei einer vom General nur wenige T a g e nach Absendung seines Vorschlags regelrecht erzwungenen Zusammen- k u n f t nüchtern entgegen, daß dabei kaum mehr als unnützer Aufwand und Personal- einsatz (der Ausbilder) getrieben würde: »Die Ausübung solcher Personen, die doch nie ohne große H ä r t e zum Felddienst bestimmt werden können, sei im Grunde zwecklos und verlorene Mühe.«

Daraus zogen die Beamten die Folgerung, die Auswahl der — nach Hakes Plan — je- weils neu einzuberufenden Landwehrmänner sei nicht nachträglich, d.h. nach Ab- schluß der Übungen zu treffen und »allein von der subjektiven Ansicht der Militärbe- hörde abhängig« zu machen. Vielmehr müsse die Auswahl vorher erfolgen, mit Mit- wirkung der Zivilbehörden und nach dem regulären Verfahren der Ersatzkommissio- nen. H a k e schlug diese Forderung auch nicht rundweg ab, sondern erklärte sich bereit — so jedenfalls der Bericht der Trierer Regierung —, von diesem, d. h. einem seiner zentralen Punkte abzurücken. Für die Trierer Beamten w a r der General auf den Antrag eingegangen, »die Ausübung nur auf wirklich abkömmliche und ihm als solche von der Verwaltung überwiesene Individuen auszudehnen«. Damit hätte er im- merhin die administrative Vorauswahl, also eine teilweise U m k e h r u n g der von ihm konzipierten Entscheidungsbefugnisse zugelassen. Dies kann ein Hinweis darauf sein, daß H a k e tatsächlich in diesem Bereich nicht primär nach vermehrter Alleinzustän- digkeit des Militärs, sondern nach vollständiger Erfassung aller männlichen Bewoh- ner strebte — eine Form allgemeiner militärischer Disziplinierung und Kontrolle, bei der Kompetenzfragen ä la longue in jedem Fall unwichtig werden mußten. Gleich- wohl, oder vielleicht gerade deshalb, blieb die Trierer Regierung bei ihrer Ablehnung:

Z u m einen sei doch mehr als eine bloße Interpretation der Gesetze vorgeschlagen;

wenn ζ. B. jemand schon vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze in die Landwehr des II. Aufgebots versetzt würde (weil er im I. »ausgeübt« sei), so lasse sich das im Ge- setz nicht wiederfinden. Aber auch der vorgeschlagene Entscheidungsmodus sei nicht gesetzlich begründet oder verankert — die Regierung verwies also auf die vorgesetz- ten Ministerien, wohl in der stillschweigenden Annahme, damit würde der Vorschlag erst einmal auf Eis liegen (zumal nur zwei Wochen zuvor der Erlaß des Staatskanz- lers ergangen war, über die neue Militärverfassung zu berichten, dabei aber von Än- derungen des Systems abzusehen). Die Trierer Beamten machten aber auch auf die schon jetzt auftretenden Engpässe bei der Personalbeschaffung bzw. Ersatzgestellung aufmerksam. Danach waren bereits 0,6% der (rund 270 000) Bewohner des Bezirks Landwehrmänner im I.Aufgebot. Das Potential an Tauglichen sei überaus schmal;

bisher sei man kaum in der Lage, auch nur den nach den geltenden Regeln erforderli- 21 chen Ersatz f ü r die Linie und die Ungedienten f ü r die Landwehr aufzubringen. T a u g -

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liehe, die dennoch nicht eingezogen worden seien, gäbe es überhaupt nicht.

Ganz ähnlich argumentierte die Aachener Regierung — dabei fällt bei beiden Stel- lungnahmen auf, daß sie ganz ungewöhnlich rasch vorgelegt wurden. Beide Regie- rungen antworteten bereits sechs T a g e nach Ausfertigung des Planes an sie. Aller- dings legte das Aachener Kollegium seine Einwände noch grundsätzlicher und aus- führlicher an. Bei aller Anerkenntnis der »Allgemeinheit der Dienstpflicht« machte es schon im selben Satz auf die »Schranken« aufmerksam, die in der Gesetzgebung selbst angelegt seien; der Gesetzgeber habe sehr wohl die »Wichtigkeit der bürgerli- chen Verhältnisse« erwogen und dementsprechend die tatsächliche »Teilnahme an dem Militärdienst« geordnet. Diese Linie verfolgte der Referent, der Regierungsrat Barth, dann im einzelnen. Seine (vorweggenommene) Schlußfolgerung w a r : »Wegen Lokal- und gewerblicher Verhältnisse« sei eine »Ausdehnung der Dienstpflicht nicht anrätlich«. Man müsse vielmehr »sowohl bei der Auswahl zum Liniendienst als bei der Ergänzung der Landwehr mit möglichster Schonung und Vorsicht zu Werke gehen«.

Zur Begründung nannte er zunächst die, zumal in den Städten, prekäre Legitimität

»jenes National-Instituts«. Die »Zuneigung für unsere Militär-Verfassung« stehe auf dem Spiel, äußerste Behutsamkeit sei geboten.

Der »bei einem gesetzmäßigen und sonst vorschriftsmäßigen Verfahren hoffentlich sich mit der Zeit entwickelnde Keim dieser Zuneigung würde durch die beabsichtigte uneingeschränkte Erweiterung der Teilnahme an dem Militärdienst gewiß völlig er- stickt werden«.

Dies wäre zumal dann zu besorgen, wenn nach dem Plan H a k e s militärisch ausrei- chend geübte Wehrmänner entlassen würden, deren »bürgerliche Verhältnisse« dies weit weniger dringlich machten als die anderer Betroffener, die aber weiter üben müßten. Die ebenfalls angespannte Lage im Bezirk bei der Ersatzgestellung — »beson- ders in den Fabrikgegenden« fehle es »an qualifizierten Subjekten zur Ergänzung des ersten Aufgebots und der Linie« — würde noch weiter zugespitzt.

Die Ursache f ü r die mit Sicherheit zu erwartenden erheblichen Probleme f ü r die Be- troffenen ließen sich, so Barth und die Regierung, nur durch Verweis auf die beson- dere sozialökonomische Lage des »Fabrikarbeiters« erklären. Im Unterschied zu Ge- genden agrarischer Produktion sei dieser »in der Regel ohne alles Grundeigentum«.

Er »lebt allein von seinem Tagelohn, sein Erwerb geht aus der H a n d in den M u n d , sein Brotherr zahlt ihm nur so lange als er arbeitet; er vermag nicht zu sparen oder Vorräte an Lebensmitteln anzuschaffen; von dem Augenblick an, wo sein Geschäft aufhört, hat er keinen Verdienst, als Landwehrmann ruft ihn seine Pflicht zu den W a f f e n ü b u n g e n , und während der D a u e r derselben m u ß er seinen Arbeitslohn ent- behren und seine Familie hilflos zurücklassen . . .«

Bei der Frage nach Abhilfe oder Unterstützung könne man zwar prüfen, inwieweit der bisherige »Brotherr« einzuspringen habe, aber: »Wodurch könnte der Fabrikherr verpflichtet werden, den Tagelohn f ü r einen Arbeiter fortwährend zu zahlen, den er durch einen andern ersetzen muß . . .?«

Überdies sei die konjunkturelle Entwicklung zu bedenken: Die Regierung verwies also auf die Folgen der Hungerkrise von 1816/17 und die Anzeichen der Handels- krise (die 1819 voll durchbrach): »Mit welchem G r u n d e dürfte man jetzt bei dem Stocken der Fabriken und Kommerzial-Verhältnisse eine dergleichen Aufopferung [sc. der »Brotherrn«] fordern?« O f f e n b a r gebe es keinen Ausweg: »Verdienstlosigkeit setzt bei ihrem ersten Eintritt den Fabriken-Arbeiter in die Klasse der Bettler.« Hier liege eine wesentliche Differenz zu »dem Landmann«. Dieser sei in dem fraglichen Alter (um oder Anfang 20) »selten Familienvater«, da er erst heirate, wenn er ein »si- cheres Auskommen erwarten darf«. Hingegen heirateten die fraglichen Fabrikarbei- ter, d.h. vorwiegend hausindustrielle Produzenten oder Manufakturarbeiter vielfach bereits mit 17 und hätten deshalb in der Regel vor Beginn der Militärpflichtigkeit Kin-

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der zu ernähren.

Fraglos verkannte das Aachener Kollegium die Lage der vergleichbaren Klasse ländli- cher Produzenten, der Landarmen oder Landlosen — sowohl was deren unstetes Ein- kommen wie ihre Sorgeverpflichtungen bzw. die demographische Vermehrung an- ging. Auch bei ihnen wäre durchaus davon auszugehen gewesen, daß die Familienan- gehörigen (nicht zuletzt Eltern und minderjährige Geschwister) bei Einberufungen der M ä n n e r bzw. Söhne und Brüder »die Zahl der Bettler vermehrt«. U n d anderer- seits hätten die Beamten bei der familienwirtschaftlichen Hausindustrie, die nicht zu- letzt im Aachen—Düren—Eupener Raum vorherrschte, die Elastizität der Restfami- lien bzw. der familialen Produktionseinheit, d. h. ihre Kapazität zur »Selbst-Ausbeu- tung« einbeziehen können.

An dieser Stelle geht es jedoch nicht um die Qualität der sozialökonomischen Infor- mationen und Interpretationen der Beamten — wichtiger ist, daß sie mit der skizzier- ten Argumentation im Rahmen einer um Legitimierung besorgten Politik die Maxime umzusetzen suchten, welche sie der Gesetzgebung entnahmen: die »überall empfoh- lene Schonung der bürgerlichen gewerblichen und Familien-Verhältnisse nicht aus dem Auge verlieren zu dürfen«. — Bemerkenswert ist der Akzent auf der armenpoli- zeilichen Fürsorge. Nicht einmal angedeutet wurde hingegen deren Kehrseite: Die Förderung bzw. in diesem Fall die mögliche Beeinträchtigung einer stetigen Produk- tion oder gleichmäßiger Warenlieferungen (für Verlegerkaufleute), d.h. eine f ü r Fa- brikbesitzer wie Kaufleute fühlbare Einschränkung ihrer Dispositionsfreiheit und in deren Folge wahrscheinlich auch Minderung ihres Einkommens — das aber mußte in der administrativ-gouvernementalen Perspektive auch sehr unmittelbar die ange- strebte Mehrung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums beeinträchtigen.

Der Vorstoß des Generals hatte keinen Erfolg. Auch das sofortige Mitziehen der Ko- blenzer Regierung konnte daran nichts ändern. Der Widerstand der beiden anderen Regierungen, aber auch die von Hardenberg angeordnete Berichterstattung, bei der auf jeden Fall derart weitreichende Änderungen ausgespart bleiben sollten, ließen in der Ziviladministration keine weiteren Bündnispartner auftreten; ob H a k e dennoch nachsetzte, läßt sich aus den vorliegenden Unterlagen nicht erkennen.

Allerdings w a r damit weder das politisch-legitimatorische noch das militärtechnische Problem gelöst. V o r allem die Diskrepanz zwischen Allgemeinheitsanspruch und den tatsächlichen Ausnahmeregelungen bzw. nur partieller Betroffenheit beunruhigte auch Beamte in anderen Regionen, blieb aber auch kommandierenden Offizieren nicht verborgen. Dies gilt in jedem Fall für die zweite der beiden weitgehend »neu«

erworbenen Provinzen, f ü r Westfalen.

2.2 Die Konferenz in Lippstadt

Unklar ist, ob die Initiative des Kommandierenden Generals der in Westfalen statio- nierten Truppen, des Generalleutnants Frhr. v. Thielmann, zu einer gemeinsamen K o n f e r e n z mit den Zivilbehörden über Fragen der Landwehr, die am 17. August 1818 in Lippstadt gehalten wurde4 8, nur allgemein von ähnlichen Absichten motiviert war, wie sie H a k e verfolgt hatte, oder ob jener die zu vermutende Information aus dem Koblenzer Generalkommando direkt aufgenommen hatte. Nicht klar ist auch, ob sein Vorstoß, anders als bei H a k e , taktischem Kalkül im Rahmen der »Konkurrenz« mit der Zivilverwaltung entsprang. Denn daß es zwischen beiden Apparaten diffizile Pro- bleme bei der Einbeziehung zur Landwehr gab, war unschwer zu erkennen.

Die von Thielmann vorgeschlagenen Verhandlungspunkte zeigen jedoch, daß er im Unterschied zu H a k e einen wesentlichen Stein des Anstoßes gar nicht erst einbrachte:

Die Entscheidung über Freistellungen von vier- wie einwöchigen, aber auch von ein- tägigen Sonntagsübungen, sollte die Zivilbehörde erhalten. Allerdings sollte im Ge-

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genzug das Militär über alles weitere frei bestimmen, vor allem über Zeitpunkt und auch Häufigkeit der Einziehung der dann nach »bürgerlichen« Gesichtspunkten ohne Schwierigkeiten verfügbaren Ungedienten.

Das Angebot des Generals, sich über die Befreiungen von den langen (vierwöchigen) Übungen der konkreten »Disposition« begeben zu wollen, konnte dabei der Versuch sein, Arger und Mühe vom Militär abzuwälzen. Überdies ließ sich auf diese Weise recht elegant der Eindruck dementieren, das Militär sperre sich gegen Kooperation und rechtfertige »Willkür«. Immerhin interpretierte ein interner Militärbefehl, der M o n a t e später die Konferenzergebnisse zusammenfaßte, in dieser handfesten Weise die »Nachgiebigkeit« der eigenen Seite: Im Gegenzug würden sich die »Zivil-Mitglie- der der Ersatzkommissionen gewiß zur Einstimmung der Beurteilung der körperli- chen Beschaffenheit. . . bereit erklären«, wenn die endgültigen Listen der Landwehr- angehörigen aufzustellen seien49.

Die zivile Administration betonte demgegenüber den Legitimationsdruck. Allerdings im Unterschied ζ. B. zur Aachener Regierung sah man bei den Beamten in Westfalen, sah insbesondere Vincke selbst f ü r zivile wie militärische Autoritäten nicht die N o t - wendigkeit, die Pflichtigen möglichst zu »schonen«. D e r einzig mögliche W e g schien ihnen, eine gleichmäßigere Verteilung der Belastung zu organisieren. In seinem Kon- ferenzresümee unterstrich der westfälische Oberpräsident diesen Punkt mit allem Nachdruck5 0. Die Lippstadter Konferenz, die eine stärkere Heranziehung der Unge- dienten zu den Sonntags- und längeren Übungen sowie erleichterte Freistellungen der Gedienten aufgrund ihrer »bürgerlichen Verhältnisse« mit einer Reihe von Detailbe- stimmungen festlegte51, habe den »leitenden Gesichtspunkt« gehabt:

»Die große H ä r t e zu beseitigen, wenigstens zu mildern, daß diejenigen, welche das Los zum stehenden H e e r bestimmt, vorzugsweise ihre ganze bessere Lebenszeit hin- durch den D r u c k der Militärpflicht fühlen, dagegen die, welche wegen häuslicher Verhältnisse und wegen nicht durch die Linie gänzlich absorbierten Vorrats befreit, fast gänzlich aller Dienstpflicht entzogen bleiben.«

W ä h r e n d sich der Wortlaut des Gesetzes so verstehen ließ, daß die Freigestellten wie die per Altersregelung Freigekommenen erst mit 25 Jahren zur Landwehr eingezogen werden sollten, hatte die Konferenz die Altersgrenze auf 22 Jahre vorgezogen. In der gleichfalls beschlossenen stärkeren Heranziehung der Ungedienten, nicht zuletzt zu den Sonntagsübungen jede zweite Woche, sah Vincke ein bemerkenswertes militäri- sches Zugeständnis; denn nach den militärischen Erfordernissen mußten ausgediente Leute als die wesentlich brauchbareren und deshalb nützlicheren Landwehrmänner gelten. Aber auch den Militärvertretern hatte — nach Vincke — eingeleuchtet, daß diese Regelung »die allgemeine Stimmung verbessert, weil dadurch wenigstens eine scheinbare Gleichmäßigkeit hergestellt wird«. »Nur auf diese Weise« wären aber auch die »ganz unentbehrlichen« Sonntagsübungen populärer zu machen. — In diesen letz- ten Punkten wird immerhin doch eine Parallele zu dem Vorschlag H a k e s deutlich.

Zusammen mit der vereinbarten sofortigen Überweisung der Untauglichen zur Land- wehr des II. Aufgebots würde insgesamt »die Bildung einer ganz abkömmlichen Landwehr I. Aufgebots« möglich. Vincke Schloß: Die Regelung »schafft im Falle ei- nes Krieges eine ganze in den W a f f e n geübte Nation«. Inwieweit diese abschließende Folgerung eine rhetorische und legitimatorische Floskel nur f ü r den eigenen Apparat oder auch für die Militärs war, und ob nicht manchen Offizieren diese Perspektive eher bedrohlich sein mußte — dies sei dahingestellt.

Die direkte Kooperation, wie sie im Zusammenhang der Lippstadter Konferenz zwi- schen Militär- und Zivilbehörden zu beobachten ist, blieb auf ein einzelnes M o m e n t der Militärverfassung beschränkt. In einem zentralen Punkt wurden ihre Ergebnisse zudem bereits ein Jahr später in ihrer Wirkung eingeschränkt: Die Verminderung der 24 Landwehr um ein Drittel, die im Zusammenhang ihrer stärkeren Anbindung an die

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