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Archiv "„Der Zusammenhang zwischen Volksart und Geistesstörung...“" (18.04.1991)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT MEDIZINGESCHICHTE

W

ir . . . können nicht mehr bezweifeln, daß die besondere Veran- lagung eines Volkes auch in seinen Geisteskrankheiten zu.

bestimmtem Ausdrucke ge- langt, ja, daß Häufigkeit und Formen des Irreseins dereinst eine reiche Fundgrube für das tiefere Verständnis seiner Ei- genart bilden werden." Die Entwicklung der Transkulturel- len oder Vergleichenden Psychiatrie, einem Zweig der Ethnomedizin, hat diese An- sicht des Psychiaters Emil Kraepelin (1856— 1926) bestä- tigt und bestärkt. Das Zitat ent- stammt der 8. Auflage seines Lehrbuches der Psychiatrie, ei- nem Werk, das in der zweiten Dekade unseres Jahrhunderts bereits zu einem Standardwerk geworden war. Kraepelins Dik- tum kam nicht von ungefähr.

Der viel- und weitgereiste Wis- senschaftler ließ keine Gele- genheit aus, um sich jeweils vor Ort die Einrichtungen, in de- nen psychiatrische Patienten betreut wurden, zeigen und sich vom verantwortlichen Arzt über die regionalen Besonder- heiten informieren zu lassen, so etwa in Italien, in Portugal oder in Jugoslawien.

Eine Reise jedoch dürfte Kraepelins Blick für die Eigen- heiten von Geisteskranken ei- ner anderen Kultur besonders geschärft haben: jene, die er 1904 gemeinsam mit seinem Bruder, dem Zoologen Karl Kraepelin, nach Ceylon, Singa- pore und Java unternahm. Die- se Reise war explizit dem Ziel gewidmet, Untersuchungen an außereuropäischen Geistes- kranken vorzunehmen, um festzustellen, ob hinsichtlich deren Morbidität und Mortali- tät bedeutsame Unterschiede zu deutschen Patienten bestün- den. Genaue Gründe nennt Kraepelin im formellen Ur- laubsgesuch an die Universität München, wo er seit 1903 den Lehrstuhl für Psychiatrie inne- hatte:

„Der Zweck dieser Reise ist . . . in erster Linie die Fest- stellung, ob gewisse, bei uns ge- radezu den Hauptinhalt unse- rer Anstalten bildende Formen des Irrsinns auch unter ganz anderen Lebensbedingungen, und bei ganz anderen Volks- stämmen in gleicher Weise und in gleicher Häufigkeit auftreten

Christoph Bendick

wie bei uns. Die Antwort auf diese Fragen, die bei dem jetzi- gen Stande unserer Wissen- schaft schlechterdings nur durch persönliche Untersu- chung zahlreicher Kranker an Ort und Stelle gefunden wer- den kann, wird, wie ich hoffe, nicht ganz ohne Ergebnis für die Aufhellung der Ursachen jener verbreitetsten unserer psychischen Krankheitsformen bleiben, deren Entstehungsbe- dingungen für uns bis jetzt noch vollkommen dunkle sind.

Jedenfalls wird sich ergeben, ob jene Ursachen ganz allge- meine sind, oder ob sie in ir- gendeiner Beziehung zu Rasse und Klima, zu Lebensweise oder Kultur stehen . . ."

Hiermit war die Zielsetzung der Reise umrissen, die nicht allein dem akademischen Er- kenntnisgewinn diente, son- dern den Direktor der größten deutschen Psychiatrischen Kli- nik auch der Lösung der beiden brennendsten Probleme näher- bringen sollte: dem des Alko- holismus und dem der Progres- siven Paralyse. Diese Erkran- kungen machten im München der Jahrhundertwende unge- fähr dreißig Prozent aller Auf- nahmen und Todesfälle der Nervenklinik aus.

Anfang 1904 traten Karl und Emil Kraepelin die Reise nach Buitenzorg (heute Bogor) auf Java an, wo sich die bedeu- tendste „Irrenanstalt" Südost- asiens befand. In der von dem holländischen Arzt Johan Wil- helm Hofman nach modernen Maßstäben geleiteten Klinik wurde auch Deutsch gespro- chen, darüber hinaus boten knapp 600 Patienten aus aller Herren Länder Emil Kraepelin die denkbar günstigsten Vor- aussetzungen für seine verglei- chenden Studien. Innerhalb von drei Wochen explorierte er 225 Patienten: 100 Javaner, 100 Europäer und 25 Chinesen.

Freilich dürfen Kraepelins Un- tersuchungen nur im Kontext seiner Zeit gesehen werden, von einer wirklich kulturver- gleichenden Studie war der

Emil Kraepelin

Pionier noch weit entfernt, fehlte ihm doch fast jeglicher Einblick in die geistige Kultur seines Gastlandes und damit jene Kenntnisse, die unabding- bar zum Verständnis des Frem- den sind.

Erfahrungen mit Geistes- kranken hatte der Psychiater bereits auf den ersten beiden Zwischenstationen seiner Rei- se gemacht: in Ceylon und in Singapore. Besonders im über die Grenzen hinaus bekannten

„lunatic asylum" von Singapore fanden sich Patienten mit den kulturspezifischen Diagnosen Latah und Amok. Auch das im Regelfall der Gesundheit nicht abträgliche Opiumrauchen konnte Kraepelin in Singapore beobachten. Bereits auf Ceylon hatte er das landesübliche und meist harmlose Betelkauen kennengelernt.

„Sehr angenehm berührt das ruhige, anständige Beneh- men aller dieser, doch zum Teil den ganz niedrigen Volks- schichten angehörigen Men- schen, ohne Zweifel wesentlich durch das völlige Fehlen des Alkohols bedingt. Bei uns wür- de es ganz anders zugehen. Wer Augen hat, zu sehen, kann hier überall das Fehlen des Alko- hols mit Händen greifen. Die Leute kauen statt dessen Be- tel . . .", schrieb Kraepelin an seine Frau nach einem Volks- fest in Ceylon.

Nach Abschluß der Unter- suchungen in Buitenzorg rei- sten die beiden Brüder durch Java. Zum einen wollte man sich die Tempelanlagen Boro-

bodur und Prambanan in der Nähe von Jokjakarta ansehen, zum anderen zog es Karl Krae- pelin, den Fachmann für Skor- pione, Spinnen und Hundert- füßler, noch nach Tjibodas, ei- ner Dependance des berühm- ten Buitenzorger Botanischen Gartens am Hange des Berges Gedeh in Zentraljava. Dort sammelte und konservierte er Pflanzen und Tiere, eine Ar- beit, an der sich sein Bruder Emil als biologisch hoch gebil- deter Laie gern beteiligte. En- de März 1904 schließlich wurde die Heimreise nach München angetreten.

Die psychiatrischen Ergeb- nisse der Forschungsreise fin- den sich in zwei kurzen, 1904 veröffentlichten Zeitschriften- beiträgen: „Vergleichende Psychiatrie" und „Psychiatri- sches aus Java". Hieraus geht hervor, daß sich grundsätzlich neue Formen der Geistes- krankheit auf Java nicht finden ließen und daß die klassischen und im südostasiatischen Raum vielbeschriebenen Gei- stesstörungen Latah, Koro und Amok den bereits bekannten Erkrankungen Hysterie, endo- gene Depression und Epilepsie zugeordnet werden konnten.

Darüber hinaus verarbeitete Kraepelin die Forschungser- gebnisse in der maßstabsset- zenden 8. Auflage seines Lehr- buches. Fünf Jahre nach der Java-Reise entstanden, spie- geln die Kapitel „Volksart" und.

„Allgemeine Lebensverhältnis- se" im Rahmen der Allgemei 7

nen Psychopathologie noch einmal die Lehren, die der Psychiater aus seiner Beschäfti- gung mit der Symptomatik aus- ländischer Geisteskranker ge- zogen hat: daß nämlich die Volksart „einen wesentlichen Einfluß . . . auf die besondere Ausgestaltung der einzelnen klinischen Krankheitsbilder auszuüben" vermag. Kraepe- lin formulierte hiermit eine Grundwahrheit der Verglei- chenden Psychiatrie.

Christoph Bendick, Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie. Köln 1989.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Christoph Bendick Wittekindstraße 31

W-5000 Köln 41

„Der Zusammenhang zwischen Volksart und Geistesstörung...

GG

Emil Kraepelins kulturvergleichende Studien in Java

A-1370 (72) Dt. Ärztebl.

88,

Heft 16, 18. April 1991

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