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Archiv "Die Begleitforschung zur DRG-Einführung: Außer Spesen nichts gewesen..." (04.04.2008)

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hindert werden, dass neben einem Teil der Krankenhäuser letztendlich gerade der Patient der große Verlie- rer der Umstrukturierungen und der Ressourcenverknappung ist.“ (2)

Auch wenn das Bundesministeri- um für Gesundheit die Antworten auf seinen „Fragenkatalog zu den Erfah- rungen mit der DRG-Einführung“

(3) als „Stimmungsbild“ charakteri- siert und von einem nicht überprüf- baren „Wahrheitsgehalt“ spricht, häufen sich dort so viele überein- stimmend kritische Wahrnehmun- gen, dass diese nicht als parteiliche Fantasie abgetan werden können.

Was durch das bisherige Aus- schweigen gesetzlicher Vorschriften verpasst wurde, zeigen die Ergebnis- se des von der Hans-Böckler-Stif- tung, der Gmünder Ersatzkasse, Ver- di und der Landesärztekammer Hes- sen geförderten und unterstützten Forschungsprojekts „Wandel in Me- dizin und Pflege im DRG-System“

des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen und des Wissen- schaftszentrums Berlin für Sozialfor- schung. Das Projekt ist eine sozial- wissenschaftliche, den DRG-Ein- führungsprozess begleitende Unter- suchung der Auswirkungen von DRGs auf die Versorgungsqualität und die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Seit 2002 und noch bis 2008 werden dazu Krankenhauspati- enten, -pflegekräfte und -ärzte in je drei Wellen nach ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen der Versor- gungs- und Arbeitswirklichkeit schriftlich standardisiert befragt.

Hinzu kommen qualitative Fallstudi- en mit allen Beteiligten in vier Kran- kenhäusern. Die bis heute wichtigs- ten Ergebnisse:

Versorgungsstrukturen und -prozesse

Positive Erwartungen an die Wir- kung von DRGs waren und sind eine stärkere Strukturierung und Zielorientierung des Versorgungs- geschehens, das Vermeiden von

„Leerlauf“ und mehr Klarheit und Sicherheit zu Beginn und zum Ende der Behandlung im Krankenhaus.

sich auf die auch wichtige Weiter- entwicklung der Datentechnik und Messgrößen des Systems und schweigt zu allen anderen Fragen.

Das jährlich im Auftrag der DKG von der DRG Research Group am Universitätsklinikum Münster er- stellte Gutachten zum „Anpas- sungsbedarf der Vergütung von Krankenhausleistungen“ (2) listet dagegen schon mehr problematisch erscheinende Aspekte auf. Dazu zählen „Limitationen eines rein da- tengetrieben lernenden Systems“, denen „parallel sinnvolle Anpas- sungen normativ“ folgen sollten.

Durch die „episodenorientierte Fi- nanzierung (werden) falsche Anrei- ze gesetzt“, wodurch „die Qualität der Behandlung chronischer Er- krankungen negativ beeinflusst wer- den“ kann. Angesichts eines enor- men „Transparenzverlustes“ und

„logischer Konstrukte vieler Basis-

W

as wissen wir über die Aus- wirkungen der DRG(Dia- gnosis Related Groups)-Einführung?

Angesichts der auch zu Beginn des letzten Jahres der DRG-Konver- genzphase anhaltenden „Funkstille“

der gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassenspitzenverbän- den, Deutscher Krankenhausgesell- schaft (DKG) und dem Verband der privaten Krankenversicherung bei der eigentlich gesetzlich vorgeschrie- benen DRG-„Begleitforschung“ gibt es nur wenige Quellen, aus denen man verallgemeinerbare und empirie- gestützte Informationen beziehen kann, um die erwünschten und uner- wünschten Auswirkungen des DRG- Systems als eine der größten Struk- turreformen im deutschen Gesund- heitswesen abschätzen zu können.

Der jährliche Bericht des „Insti- tuts für das Entgeltsystem im Kran- kenhaus (InEK)“ (1) konzentriert

(2)

Davon profitieren im Idealfall die Patienten, Beschäftigten und der Betrieb Krankenhaus. Die Projekt- fragen heben folgende Zustände und Entwicklungen hervor:

>In den Häusern von etwa 58 Prozent der Ärzte gibt es 2006 zu- mindest in Ansätzen koordinierte Abläufe von der Patientenaufnahme bis zur Entlassung (Case-Manage- ment/Clinical Pathways). Gegen- über 2004 nahm dieser Anteil um zwölf Prozentpunkte zu.

>Um kostendeckend zu arbeiten, ist es unter DRG-Bedingungen schon bei der Aufnahme notwendig, den Patienten diagnostisch auf das richtige Gleis zu stellen, weshalb es von Vorteil ist, bei der Aufnahme möglichst qualifiziertes Personal einzusetzen, um zu stringenten Be- handlungsplänen zu kommen. Ge- fragt, welche Mindestqualifikation die diensthabenden Ärzte in der Notfallaufnahme haben, räumen 74 Prozent (plus zwei Prozentpunkte*) der Befragten ein, dass keine Min- destqualifikation erforderlich ist.

Weitere 19 Prozent (minus zwei) ga- ben an, die Diensthabenden müssten zumindest ein Jahr Berufserfahrung besitzen. Nur in acht Prozent der Fälle müssen die betreffenden Ärzte ihre Weiterbildung zum Facharzt abgeschlossen haben.

>Aus ähnlichen Erwägungen heraus ist es für das Krankenhaus in einem fallpauschalierten System günstig, gleich beim Erstkontakt eine vollständige Patientenakte vorliegen zu haben, weil dies die Diagnose- stellung und Behandlungsdauer ins- gesamt verkürzen kann, überflüssige (teure) Diagnostik vermeiden hilft und die dauerbelastende und sogar gesundheitsbeeinträchtigende Un- gewissheit und Unsicherheit über den Anlass des Krankenhaus- aufenthalts und die Prognose für die Patienten verkürzt. In 57 Prozent (plus eins) der Fälle liegt aus Sicht der Ärzte selten bis nie eine vollstän- dige Akte beim Erstkontakt vor. Auch wenn nahezu unverändert „nur“

knapp zwölf Prozent der Patienten 2002 und 2005 den Eindruck hatten, der aufnehmende Arzt habe keine Information über ihre Vorbehand- lung, zusätzlich rund elf Prozent dies aber nicht wussten, existiert hier of-

fensichtlich noch ein großes Verbes- serungspotenzial.

>Lediglich etwa 55 Prozent der befragten Pflegekräfte bestätigten im Jahr 2003, also vor der verbindli- chen Einführung der DRGs, ein gut funktionierendes Entlassungsma- nagement mit Hausärzten und am- bulanten Diensten. Drei Jahre später hat sich die Situation nicht etwa ver- bessert, sondern verschlechtert (49 Prozent). Der Anteil der Pflegekräf- te, die angaben, dass kein Entlas- sungsmanagement praktiziert wer- de, ist etwa gleich geblieben.

>Auch die Ärzte nehmen eher eine Verschlechterung der Situation seit der Einführung der DRGs wahr. Dies gilt besonders stark für den Bereich der Rehabilitation, wo der Anteil der Krankenhäuser mit gut funktionie- rendem Entlassungsmanagement von 49 auf 40 Prozent gesunken ist.

Im Hinblick auf den Übergang zur stationären Pflege hat sich zwar der Anteil der Ärzte erhöht, die ein gut funktionierendes Entlassungsma- nagement konstatieren. Zugleich ist aber auch der Anteil von 41 Prozent auf 46 Prozent gestiegen, der angibt, dass kein derartiges Entlassungsma- nagement existiere. Fast 60 Prozent der befragten Krankenhausärzte teil- ten mit, dass es in ihrem Kranken- haus kein Entlassungsmanagement mit niedergelassenen Fachärzten gebe.

>Auch wenn mehr als 80 Pro- zent der Patienten mit dem Entlas- sungszeitpunkt zufrieden sind, ver- lief doch die Vorbereitung auf die Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus aus der Sicht derjeni-

gen Patienten, die ausdrücklich Be- ratung und Hilfen für notwendig hielten, nicht immer optimal. Bei den Erklärungen über verabreichte Arzneimittel sieht es noch am bes- ten aus: Knapp zwei Drittel der Pati- enten wurden voll und ganz aufge- klärt. Schlecht sieht es hingegen bei der Einbeziehung von Angehörigen in den Nachsorgeprozess aus. Nur bei knapp einem Viertel wurden die Angehörigen ausführlich aufge- klärt, wie sie zur Genesung beitra- gen können. Im Zeitverlauf, also im Vergleich der ersten und zweiten Befragungswelle, hat sich die Vor- bereitung auf die Zeit nach der Ent- lassung nur wenig verbessert.

Kooperation

Die Wirklichkeit der Kooperation von Berufsgruppen sieht so aus:

>Bei der ersten Befragung (2002) waren mehr als 90 Prozent der Patien- ten der Meinung, dass Ärzte und Pfle- gekräfte gut zusammengearbeitet hät- ten. Dieser Anteil ist bei der zweiten Welle (2005) leicht zurückgegangen.

Lediglich 1,6 Prozent beziehungs- weise zwei Prozent bezeichneten die Kooperation jedoch als schlecht.

>Aber: In beiden Befragungs- wellen meint gut ein Drittel der Ärz- te, dass sich die DRGs negativ auf die Kooperation mit der Pflege aus- wirken. Der Anteil der positiven Stimmen ist von knapp acht Prozent auf gut fünf Prozent zurückgegan- gen. Bei der Befragung 2003 bewer- tete fast ein Fünftel der Pflegekräfte, die bereits unter DRG-Bedingungen arbeiteten, den Einfluss der DRGs

GRAFIK

Belegungstage, Fallzahlen, Verweildauer

* Sofern im weiteren Text nach einer Prozentan- gabe in Klammern ge- setzte Zahlen auftau- chen, bezeichnen sie, sofern nichts anderes genannt wird, die Zu- oder Abnahme zwischen zwei Erhebun- gen in Prozentpunkten.

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auf die Kooperation mit Ärzten po- sitiv und „nur“ ein knappes Viertel sah zu dem Zeitpunkt negative Aus- wirkungen. In der zweiten Welle hat sich der Anteil negativer Bewertun- gen auf mehr als 40 Prozent erhöht.

>Die Zusammenarbeit mit der Verwaltung wird von den Ärzten in beiden Wellen mehrheitlich schlecht oder sehr schlecht bewertet (72,8 Prozent beziehungsweise 72,7 Prozent). Auch die Zusammenarbeit mit dem Qualitätsmanagement ist aus Sicht der Ärzte eher schlecht, wenngleich sich der Anteil schlech- ter oder sehr schlechter Zusammen- arbeit von 62,7 Prozent auf 56,4 Prozent verringert hat. Verbessert hat sich durchweg die Kooperation mit dem technischen Hilfspersonal.

Information/Kommunikation Neben der klassischen Visite finden andere Formen des Austausches zwi- schen Ärzten und Pflegekräften, etwa gemeinsame Besprechungen, ver- gleichsweise selten statt, haben aber leicht an Bedeutung zugenommen.

45,7 Prozent (Welle 1) beziehungs- weise 47,3 Prozent (Welle 2) der Ärz- te meinen, dass es meistens oder häu- fig Besprechungen mit Pflegekräften gibt. Von den Pflegekräften sagt 2006 etwa ein Drittel, dass mindestens ein- mal pro Woche Besprechungen mit Ärzten stattfinden. Weitere 36 Pro- zent meinen, dass dies seltener als einmal pro Woche geschieht, gut 25 Prozent geben an, dass dies nie der Fall sei. In der Sicht der Pflegekräfte haben Besprechungen mit den Ärzten somit etwas an Bedeutung gewon- nen. Bei den Ärzten ist die Häufigkeit von Fallbesprechungen mit Ärzten in der eigenen Abteilung oder anderen Abteilungen zwischen den Befra- gungszeitpunkten nahezu unverän- dert (Anteil meistens/häufig in Welle 1: 78,9 Prozent beziehungsweise 46,4 Prozent; Welle 2: 79,7 Prozent bezie- hungsweise 47,8 Prozent). Der Infor- mationsfluss vonseiten des Qualitäts- managements und der Verwaltung wird eher schlecht beurteilt. Im End- effekt hat sich also die Kooperation im Krankenhaus unter DRG-Bedin- gungen nicht verbessert, obwohl be- schleunigte Abläufe vermehrte Ko- operation erfordern, um (Behand- lungs-)Fehler zu vermeiden.

Arbeitsbelastungen

Durch die aus ihrer Sicht höheren An- forderungen und den erhöhten Zeit- druck fühlen sich die Pflegekräfte in gestiegenem Ausmaß nicht mehr gut genug für ihren Job ausgebildet. Ne- ben dem Zeitdruck werden auch ver- mehrt Unterbrechungen, administra- tive Tätigkeiten und die Angst um den Arbeitsplatz als Belastungen wahrgenommen. Die Zahl derer, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, weil sie sich den Anforderungen nicht mehr gewachsen fühlen, steigt dabei von 1,6 Prozent auf 8,3 Prozent. Die Pflege war in den letzten Jahren vom Stellenabbau betroffen, der zu einer Verringerung der „Hände“ je Schicht und Station geführt hat.

Für Ärzte steht zum Beispiel durch die Beschleunigung der Ab- läufe noch mehr als bisher die Ganz- heitlichkeit der Behandlung infrage:

Nur 14 Prozent (plus/minus null) der Befragten sind der Meinung, dass sie ihren Patienten genügend soziale und emotionale Zuwendung zukommen lassen. Weitere 47 Prozent (minus fünf) sind zumindest eingeschränkt der Ansicht, dies zu schaffen. Für 35 Prozent (plus vier) ist dies grundsätz- lich eher nicht der Fall und für vier Prozent (plus ein) gar nicht. Auch Pflegende sagen, sie würden den Pa- tienten zu wenig (32 Prozent) oder gar keine (vier Prozent) soziale und emotionale Unterstützung zuteil werden lassen. Unter DRG-Bedin- gungen vollzieht sich eher eine Ent- wicklung hin zum Schlechteren.

Intrarollenkonflikte und -spannungen

Der Grad der Übereinstimmung zwischen internalisierten professio- nellen Standards und Rollenkonzep- ten und den Chancen, sie zu ver- wirklichen, spielt für Ärzte und Pflegekräfte eine große Rolle. Eine Reihe der Fragen versucht daher Wunsch und Wirklichkeit in den Be- reichen medizinische Leistungen und psychosoziale Zuwendung und Unterstützung der Patienten zu er- gründen. Dabei ergibt sich ein kon- flikt- und spannungsreiches Bild:

>Sehr deutlich wird das Span- nungsverhältnis zwischen Soll und Ist an der Rationierungsfrage sicht- bar: Während insgesamt 87 Prozent

der Ärzte es mehr oder weniger stark ablehnen, effektive Leistungen aus Kostengründen vorzuenthalten, ver- neinen nur neun Prozent (plus/

minus null) uneingeschränkt die Abwesenheit von Rationierung in ihrem Bereich. Anders ausgedrückt arbeiten lediglich 16 Prozent der Ärz- te, die eine Rationierung medizinisch notwendiger Leistungen normativ voll ablehnen, in einem Kontext, in dem das nach ihrer Einschätzung tatsächlich auch der Fall ist.

>Auch bei den Pflegekräften klaffen Anspruch und Realität häufig auseinander. Fast alle meinen, der Patient solle mitentscheiden; doch weniger als 30 Prozent der Pflege- kräfte geben an, dies sei tatsächliche Praxis. Ebenso weitverbreitet ist die Wunschvorstellung, eine Kostenori- entierung möglichst gering zu halten.

In der Praxis sagen aber nur circa 55 Prozent, die Behandlung verlaufe überwiegend ohne Kostenorientie- rung. Auch bezüglich der sozialen und emotionalen Zuwendung haben die Pflegekräfte hehrere Ziele, als ihre Praxis sie zulässt. So sagen lediglich knapp über 50 Prozent, die Patienten erhielten ausreichend Zuwendung.

Die dafür notwendige Zeit wird aber nicht nur für die Zuwendung knapp;

vor allem die Unterstützung der Pati- enten in ihrer Selbstständigkeit wird zunehmend vernachlässigt. Pflege- abläufe werden deutlich weniger an die Patientenwünsche angepasst, und eine würdevolle Behandlung verliert an Selbstverständlichkeit.

Wie die hier zitierten Studien zei- gen, gibt es dann, wenn differenziert hingeschaut wird, Hinweise auf Er- wünschtes wie Unerwünschtes, wo- bei als Tendenz festzuhalten ist, dass die grundsätzlich positiv zu bewer- tende Beschleunigung der Prozesse derzeit zu Problemen in der Versor- gung der Patienten führt, weil diese Beschleunigung nicht parallel von notwendigen organisatorisch-struk- turellen Verbesserungen in der Ver- sorgung flankiert wurde. Für die gesetzliche Pflichtbegleitforschung gibt es also genügend und auch dring- liche Ansatz- und Einstiegspunkte sowie offensichtlich ertragreiche Analysewege. Dabei könnte vor- handenen Hinweisen auf Defizite und Mängel vertieft nachgegangen wer-

(4)

den (zum Beispiel die Situation im Entlassungsmanagement), es könn- ten aber auch mit anderen Methoden (zum Beispiel Versorgungskettenfor- schung mit Routinedaten der Kassen) oder disziplinären Sichtweisen (zum Beispiel Betriebswirtschaft oder Or- ganisationswissenschaft) zusätzliche Analysen durchgeführt werden.

Eine Begleitforschung, die erst kurz vor dem Ende des von ihr zu be- gleitenden Prozesses beginnt, hat an Qualität und Einwirkungsmöglich- keiten verloren. Selbst wenn sie also im Verlauf des Jahres 2008 in die Gänge kommen sollte, muss überlegt werden, den bisher zum Teil ver- schlafenen Lern- und Anpassungs- prozess zu verlängern. In der Selbst- verwaltung herrscht jedoch eine Patt- situation. Dies ist nachvollziehbar, weil alle beteiligten Akteure kein Interesse verspüren, sich parallel zur betriebswirtschaftlichen Umstellung auf das DRG-System zu sehr mit Qualitätsfragen befassen zu müssen.

Selbst der Gesetzgeber erweckt den Anschein, sein eigenes Werk in dieser Hinsicht nicht richtig ernst zu neh- men, da er von der Ersatzvornahme keinen Gebrauch macht, sodass sein eigener Sachverständigenrat ihn in seinem letzten Gutachten hierzu er- muntert hat.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2008; 105(14): A 732–5

LITERATUR

1. INEK: Abschlussbericht Weiterentwicklung des G-DRG-Systems für das Jahr 2008 – Klassifikation, Katalog und Bewertungsrela- tionen, Teil I: Projektbericht vom 14. 12. 2007;

Siegburg.

2. Roeder N, Fiori W, Bunzemeier H, Team der DRG-Research-Group Universitätsklinikum Münster: Anpassungsbedarf der Vergütung von Krankenhausleistungen für 2008. Gut- achten im Auftrag der Deutschen Kranken- hausgesellschaft Münster, Mai 2007.

3. Auswertung des BMG-Fragenkatalogs zu den Erfahrungen mit der DRG-Einführung (www.bmg.bund.de/nn_600148/DE/

Themenschwerpunkte/Gesundheit/Kran kenhaeuser/drg-langfassung, templated=

raw,property=publicationFile.pdf/drg-lang fassung.pdf).

Anschrift für die Verfasser Dr. Bernard J. M. Braun c/o Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen Parkallee 39, 28209 Bremen E-Mail: bbraun@zes.uni-bremen.de

K

eine Frau in Afrika müsste als Ausgestoßene leben“, sagt Kees Waaldijk. Der niederlän- dische Chirurg weiß, wovon er spricht. Seit 24 Jahren operiert er im Norden Nigerias Frauen, die an ei- ner vesicovaginalen oder rektovagi- nalen Fistel leiden. Mehr als 18 000 Betroffene hat er nach eigenen An- gaben operiert. Je nach Verletzung verliert die Frau ihren Urin oder ihren Stuhl, in etwa zehn bis 15 Pro- zent der Fälle auch beides.

Zwei Millionen Frauen sind welt- weit betroffen. Das zumindest schätzt der UN-Bevölkerungsfonds UNFPA. Die weitaus meisten Frau- en leben in Afrika, aber auch in eini- gen arabischen und asiatischen Län- dern. Einer kürzlich erschienenen UNFPA-Studie zufolge kommen jährlich mindestens 75 000 neue Fälle hinzu. Waaldijk hingegen spricht eher von bis zu 150 000 Frauen. Seiner Ansicht nach wird die Zahl der Betroffenen weiter stei- gen, denn die Bevölkerung in den afrikanischen Ländern nehme zu, aber die geburtshilfliche Vor- und

Nachsorge halte weder quantitativ noch qualitativ Schritt. Und genau da liege das größte Problem.

In den Industrieländern kommen Fisteln dank moderner Geburtshilfe seit Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch vor. In vielen ländlichen Regionen Afrikas hingegen gibt es keine geburtshilflichen Einrichtun- gen, geschweige denn ausgebildetes medizinisches Personal, das einen Kaiserschnitt durchführen könnte.

Bei einem Geburtsstillstand liegt die Frau daher nicht selten mehrere Tage in den Wehen. Da der Kopf des Kindes konstant auf das mütterliche Gewebe drückt, wird es nicht mehr richtig durchblutet und nekrotisiert;

es bildet sich eine Fistel. In weit über 90 Prozent aller Fälle stirbt das Kind unter der Geburt.

Die betroffene Frau muss nach der Entbindung nicht nur mit dem Tod ihres Kindes fertig werden, son- dern auch mit schweren intravagi- nalen Verletzungen, neurologischen Störungen oder Infektionen. Kann die Frau postpartal ihre Ausschei- dungen nicht mehr kontrollieren, FISTELN IN DER GYNÄKOLOGIE

Leben in Scham und Einsamkeit

Fisteln entstehen meist bei der Geburt und führen oft zu ständiger Inkontinenz. Zwei Millionen Frauen sind weltweit betroffen, vor allem in Afrika.

Foto:Lucian Read/WpN/UNFPA

Weltweite Kampagne:

Seit 2003 widmet sich der UN-Bevöl- kerungsfonds in Entwicklungslän- dern dem Kampf gegen Fisteln.

Betroffen sind vor allem junge Erst- gebärende auf

dem Land.

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beginnt der wahre Schrecken: Nicht selten verstößt der Ehemann sie, da sie so streng nach Urin riecht. Auch Familienangehörige, manchmal so- gar die ganze Dorfgemeinschaft, kehren der Betroffenen den Rücken.

Völlig isoliert leben viele dieser Frauen aufgrund des Stigmas in großer Armut und Scham. Sie ent- wickeln Depressionen und Angstzu- stände, manchmal sehen sie nur in der Selbsttötung einen Ausweg.

„Eine meiner Patientinnen hat rund 50 Jahre mit einer Fistel gelebt.

Ein halbes Jahrhundert hat sie als Aussätzige verbracht, bevor sie zu mir kam“, erklärt Kees Waaldijk.

„Diese Frau war nach dem erfolgrei- chen Eingriff unglaublich wütend, weil ihr all die Jahre niemand gesagt hatte, dass eine Fistel operiert werden kann.“ Der Weltgesundheitsorganisa- tion zufolge liegt die Heilungsrate immerhin bei über 90 Prozent.

Fünf Jahre lang hat die UNFPA in 29 Ländern weltweit die soziokultu- rellen und wirtschaftlichen Aspekte geburtshilflicher Fisteln erforscht.

Die typische Patientin ist demnach jung, erkrankt bei ihrer ersten Ge- burt an einer Fistel und lebt in einer ländlichen Region. Stark gefährdet sind auch Frauen, die bereits mehr als vier Kinder geboren haben.

Die meisten dieser Mädchen und Frauen entbinden ihr Kind zu Hause.

Der niedrige gesellschaftliche Status der Frau, ihre geringe Entschei-

dungsmacht innerhalb der Familie und große Unwissenheit darüber, welche Komplikationen bei einer Geburt auftreten können, verhindern oft, dass die Frau bei einem Geburts- stillstand in ein Krankenhaus ge- bracht wird. Hinzu kommt, dass es häufig keine Transportmittel gibt oder das Geld dafür fehlt, die nächs- te Klinik weit entfernt liegt und bis- weilen auch dort niemand einen Kai- serschnitt durchführen kann.

Die Studie zeigt auch Vorurteile auf, die verhindern, dass eine be- troffene Frau Hilfe erhält. So gilt ei- ne schwierige Geburt, die zu einer

Fistel führt, vielerorts als Fluch oder Strafe für die Untreue der Frau ge- genüber ihrem Ehemann. Einige Dorfgemeinschaften in Kenia und Tansania erachten vorgeburtliche Hilfe oder einen Kaiserschnitt gar als unweiblich. Für andere kommt nur eine Hausgeburt infrage, zu der Fremde keinen Zutritt haben.

Wie wichtig es ist, insbesondere die traditionellen Hebammen über Fisteln aufzuklären, weiß der Gynä- kologe Jürgen Wacker aus eigener Erfahrung. Der Chefarzt der Bruch- saler Frauenklinik arbeitete in den 80er-Jahren als Entwicklungshelfer für den Deutschen Entwicklungs- dienst in Burkina Faso. Damals wurde er erstmals mit Fistelpatien- tinnen konfrontiert. Seit 2002 orga- nisiert er jährlich einen einwöchigen Fistelworkshop in Dori, im Norden von Burkina Faso. Sein interdiszi- plinäres Team aus Urologen, Chirur- gen und Gynäkologen operiert rund 15 Patientinnen in dieser Woche. Da- bei arbeitet er eng mit den traditio- nellen Hebammen zusammen. „Wir haben für sie das einfach zu verste- hende Sonnenpartogramm ent- wickelt, damit sie genau wissen, wann sie eine Gebärende ins Kran- kenhaus überweisen müssen.“

Auch Wackers Patientinnen in Burkina Faso sind oft jung. Aicha ist eine von ihnen. Mit 13 Jahren heira- tet sie und gebiert mit 15 Jahren ihr erstes Kind. Da ihr Becken so

schmal ist, kommt es zu einem Ge- burtsstillstand. Eine alte Frau, die sie bei der Geburt begleitet, holt ei- nen traditionellen Heiler zu Hilfe, doch dessen Trunk wirkt nicht. Am dritten Tag tritt der Familienrat zu- sammen, und der Onkel entscheidet, Aicha in eine kleine Klinik zu brin- gen. Der Krankenpfleger kann je- doch keinen Kaiserschnitt durch- führen und überweist die junge Frau ins 50 Kilometer entfernte Distrikt- krankenhaus. Als sie dort endlich ankommt, hat Aicha bereits hohes Fieber, erbricht sich und ist stark de- hydriert. Ihr Kind stirbt, sie überlebt

mit einer vesicovaginalen Fistel.

Vom Ehemann verstoßen, lebt sie zwei Jahre lang wie eine Ausge- stoßene. Als sie irgendwann zufällig hört, dass in Dori Fisteln operiert werden, schöpft sie erstmals Hoff- nung. Kees Waaldijk, der als Exper- te von Jürgen Wacker zum ersten Workshop 2002 eingeladen wird, behandelt das Mädchen erfolgreich.

„Aicha steht für viele andere Mädchen und Frauen mit ähnlichem Los“, sagt Chefarzt Jürgen Wacker.

Der Gynäkologe will in Dori ein Fistelzentrum mit zehn Betten eröff- nen. Vorreiter hierfür sind die neun Zentren, die Kees Waaldijk in Nige- ria und Niger betreut, und das Fistel- krankenhaus des australischen Ehe- paars Hamlin in Äthiopien, das be- reits landesweit drei kleinere Ableger hat. Die Kosten je Patientin liegen laut UNFPA bei 300 Dollar: für die Operation selbst, die nachoperative Pflege und die unverzichtbare Kran- kengymnastik, um die Beckenbo- denmuskulatur wiederaufzubauen.

Die UNFPA-Studie weist neben den geburtshilflichen Fisteln auch auf solche hin, die durch Verletzungen entstehen. Denn in Bürgerkriegslän- dern, in denen (Massen-)Vergewalti- gungen zur Kriegsstrategie gehören, sind Fisteln keine ungewöhnliche Folge. Schließlich werden die Frauen auch mit Stöcken, Flaschenhälsen oder Gewehrläufen penetriert. Die Datenlage ist zwar schlecht, doch gibt es Berichte über traumatische Fisteln aus diversen afrikanischen Ländern, wie dem Tschad, Äthiopien, Ruanda, Sierra Leone, Uganda, Sudan oder der Demokratischen Republik Kon- go. Die US-amerikanische Organisa- tion Heal Africa ließ in der ostkongo- lesischen Stadt Goma innerhalb von zwei Jahren 600 Fisteloperationen durchführen. 68 Prozent der Pa- tientinnen waren zuvor vergewaltigt

worden. I

Petra Meyer

LITERATUR

1. UNFPA: Living Testimony: Obstetric Fistula and Inequities in Maternal Health, 2007.

2. Jürgen Wacker: Die verlorenen und verstoße- nen Frauen von Dori. In: Kultur und Gerechtig- keit, S. 223–34, Nomos Verlag 2007.

3. Kees Waaldijk: Handout. Step-by-step surgery of the vesicovaginal fistula, 2006.

4. Catherine Hamlin: The Hospital by the river, Monarch Books, 2004.

Eine Patientin war nach dem erfolgreichen Eingriff unglaublich wütend, weil ihr 50 Jahre lang niemand gesagt hatte,

dass man eine Fistel operieren kann.

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