• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Neue Länder: Hart an der Grenze" (01.12.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Neue Länder: Hart an der Grenze" (01.12.2000)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

der nicht einwilligungsfähigen Perso- nengruppen schwächen, da nun auch für diese selbst eine fremdnützige For- schung legitimierbar erschiene.

All der vorgebrachten relativieren- den Überlegungen zum Trotz kann die Schlussfolgerung nicht darin bestehen, die Differenzierung zwischen therapeu- tischen und nichttherapeutischen Ver- suchen ganz aufzugeben. Wichtig er- scheint es, die möglichen argumentati- ven Stricke, die diese Unterteilung mit sich bringt, im Auge zu behalten. Eine gänzliche Aufgabe der Unterscheidung zwischen therapeutischen und nicht- therapeutischen Versuchen hätte wie- derum beträchtliche Konsequenzen, denn eine solche Aufgabe würde be- deuten, dass jeder Versuch automatisch als therapeutisch eingestuft werden müsste, wodurch gerade die Nichtein- willigungsfähigen besonders in Gefahr gerieten, zu Forschungen herangezo- gen zu werden, die mit mehr als nur mi- nimalen Risiken verbunden sind, da nur der nichttherapeutische Versuch dieses Schutzniveau garantieren würde.

Ein triftiges Argument für die Beibe- haltung der Unterscheidung von thera- peutischen und nichttherapeutischen Studien ist somit der Schutz vulnerabler Gruppen. Wenn der Nutzen ein legiti- mierender Faktor für den Menschen- versuch ist, so stellt sich diese Frage nach dem Nutzen gerade bei den nicht einwilligungsfähigen Personengruppen, weil bei diesen der legitimierende Fak- tor der Einwilligung wegfällt. Gerade bei den Nichteinwilligungsfähigen ist man somit umso mehr darauf angewie- sen zu wissen, ob ein Versuch mit einem therapeutischen Vorteil für den Betrof- fenen einhergeht oder nicht. Daher bleibt die Unterscheidung von zentraler ethischer Bedeutung.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A 3242–3246[Heft 48]

Das Literaturverzeichnis ist über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich.

Anschrift des Verfassers:

Priv.-Doz. Dr. med. Giovanni Maio

Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte Medizinische Universität zu Lübeck

Königstraße 42 23552 Lübeck

E-Mail: maio@imwg.mu-luebeck.de

T H E M E N D E R Z E I T

A

A3246 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 48½½½½1. Dezember 2000

U

nterwegs zwischen Bautzen und Zittau. Eine friedliche Landschaft mit reichem historischem Erbe, heute im äußersten Zipfel Deutsch- lands gelegen. Caritas und Diakonie ha- ben gemeinsam eingeladen unter dem Motto: „Anschluss verloren“. Mal mit, mal ohne Fragezeichen. Absicht der Veranstalter ist es nicht nur, Sozialpro- jekte in Ostdeutschland vorzuführen, sondern auch auf deren Finanzklemme hinzuweisen.

Beispiel 1: In Bautzen, bis heute as- soziiert mit der berüchtigten Strafan- stalt (wer weiß schon, dass die Stadt vom Barock geprägt ist?), unterhält die

Caritas eine Berufsfachschule für Kin- derpflege. Sie wird sehr gut angenom- men; 106 Schülerinnen werden von 17 Lehrerinnen auf knapp neun Planstel- len unterrichtet. Eine ideale Schüler- Lehrer-Kombination. So weit alles pri- ma. Doch der Fortbestand steht dahin, der Staat muss die Mittel kürzen.

Beispiel 2: Das christliche Jugend- dorfwerk betreibt in Löbau, ein Stück südlich von Bautzen und vormals Stand- ort der Offiziershochschule der Nationa- len Volksarmee, eine Wohnstätte, ange- gliedert sind eine Reihe von Projekten der Jugend- und Familienbetreuung.

Die Wohnstätte Horizont ist in einer al- ten Villa untergebracht, gepflegt und mit Möbeln im Baumarktstil ausgestattet. 13 Mitarbeiter betreuen 20 Kinder und Ju- gendliche. Die kommen aus Familien, die mit ihren Kindern nicht fertig wur- den; im Gespräch mit den Jugendlichen drängt sich freilich der Eindruck auf, dass eher die Kinder mit ihren Eltern nicht fertig wurden. Sie alle sind auf der Suche nach Halt, den eine relativ straffe Führung durch die Erzieher zu vermit- teln sucht. Die älteren haben ganz kon- krete und kreuzbrave Berufsvorstellun- gen, wie Bäcker oder Maurer. Die Lei- tung des Hauses lässt durchblicken, dass die Finanzierung der personalintensiven Betreuung infrage gestellt wird.

Beispiel 3: Zittau. Die Lage, hart an der Grenze zu Polen und Tschechien, verführt zum kleinen Grenzverkehr.

Sind es in Polen die Polenmärkte, die vom Gemäldekitsch bis zu Waldpilzen allerlei zu billigem Preis anbieten, ist es auf der tschechischen Seite die Straßen- prostitution, kombiniert mit dem bil- ligen Tanken. Bei einer Tankfüllung spart ein deutscher Freier gerade so viel ein, wie eine kurze Visite am Straßen- rand kostet. Das Geschäft blüht. Es blühen auch die einschlägigen Infektio- nen. Wer ist nun zuständig für Betreu- ung und Behandlung ukrainischer Mädchen, die von rumänischen Zuhäl- tern an deutsche Interessenten in Tschechien vermarktet werden? Die Diakonie in Zittau, die sich „um alle kümmert, um die sich kein Schwein kümmert“, hat ein Street-working-Pro- jekt aufgezogen, betrieben durch drei

Neue Länder

Hart an der Grenze

Von Sozialarbeit, rechtem Potenzial und finanziellen Engpässen in Deutschlands östlichstem Winkel

Wohnstätte Horizont: Suche nach Halt; die Eltern waren vor drei Monaten zum letzten Mal da.

(2)

gestandene tschechische Damen. Die Finanzierung ist Jahr für Jahr eine Zit- terpartie. Im nächsten Jahr wird sie wohl nicht mehr klappen, denn der Staat Sachsen sieht nicht ein, weshalb er drei Tschechinnen, die zwar in Zittau angestellt sind, aber jenseits der Grenze arbeiten, aus deutschen Steuermitteln unterhalten soll.

Die Reihe der Beispiele ließe sich fast beliebig fortsetzen. Die Finanzenge tritt überall zutage. Der Winkel zwi-

schen Bautzen und Zittau ist zurzeit aus sich heraus nicht lebensfähig, sondern auf Zuschüsse von außen angewiesen.

Die Arbeitslosigkeit liegt um die 20 Prozent, zählt man den so genannten zweiten Arbeitsmarkt hinzu, dann sind es 40 Prozent. Aussicht auf Besserung besteht kurzfristig nicht. Einige hoffen auf die Erweiterung der EU, andere fürchten diese. Der Leiter des Bautze- ner Arbeitsamtes meint jedenfalls, die Lage werde bei Öffnung der Grenze noch kritischer, weil minderqualifizier- te deutsche Arbeitskräfte gegenüber einströmenden Arbeitern aus Polen oder Tschechien nicht konkurrenzfähig sind. Das alles wissen die Jungen und

Aktiven, die Gebildeten und gut Aus- gebildeten – und wandern ab.

Der sächsische Sozialminister, Dr.

Hans Geisler, den wir gegen Abschluss unserer Studienfahrt im Tagungsraum der Herrenhuter Brüdergemeinde tref- fen, rechnet damit, dass in fünf Jahren die Schülerzahl um 30 bis 40 Prozent gesun- ken ist. Das bedeutet weniger Schulen, und damit erklärt sich auch die Finanzen- ge der Berufsfachschule in Bautzen.

Geisler weist darauf hin, dass die Kran- kenhäuser etwa im Jahr 2010 vor dem gleichen Problem stehen.

Ein Teufelskreis: Die Infra- struktur wird ausgedünnt, und weil Infrastruktur fehlt, verlas- sen die Aktiven die Gegend, so schön und heimatlich sie auch ist. Resignation breitet sich aus.

Ein Sozialwissenschaftler hat festgestellt, dass 86 Prozent der Ostdeutschen die Aussage: „Ich kann sowieso nichts ändern“, unterschreiben.

Wer im Osten unterwegs ist, fragt unweigerlich nach Er- klärungen für die Umtriebe von

„rechts“. Um ehrlich zu sein, die mei- sten, die wir befragt haben, sind genau so ratlos wie wir selbst. Aber ein paar Anhaltspunkte gibt es doch.

Jugendliche, wie die in der Wohn- stätte Horizont, sind wahrlich nicht

„rechts“, wohl aber anfällig. Sie suchen Halt im Heim. Andere suchen Halt und finden den in den kleinen Gruppen am Bahnhof oder an den Parkecken, wo man zusammensteht, raucht, nicht zu knapp trinkt und Parolen brüllt. Man erfährt zwar wenig Liebe von zu Hause, aber zumindest die Kumpanei in der Gruppe. Ein Erzieher von Horizont:

„Wo kann man so einfach Zuwendung erhalten als bei einer rechten Truppe?“

Hinzuzufügen wäre: Wer traut sich, aus der Truppe auszubrechen, wenn die mal zum Draufschlagen losmarschiert?

Man könnte dem Problem, zumin- dest soweit Jugendliche betroffen sind, beikommen durch Sozialarbeit im Klei- nen – und die Öffnung von Lebensper- spektiven. Ein Musterbeispiel glaubt Diakonie-Präsident Jürgen Gohde in Hoyerswerda entdeckt zu haben, jenem Ort, der als erster unrühmlich bekannt wurde. Die Jugendarbeit sei hier durch kleinräumige Initiativen, vielfältige Be- gegnungsmöglichkeiten, Selbstgestal- tung durch die Jugendlichen gekenn- zeichnet. Gohde fordert folglich gene- rell: Keine Schließung von Jugendclubs.

Erhalt der Infrastruktur, um den jun- gen Leuten Chancen für die Zukunft aufzuweisen.

Caritas-Präsident Hellmut Pusch- mann formuliert das so: Die Kirche müsse Lebensräume schaffen, auch durch Sozialarbeit. Wird aber die Kir- che im Osten auch akzeptiert – in ei- nem weitgehend entkirchlichten Land?

Die Frage blieb offen.

Wie auch immer Jugendclubs und In- frastruktur organisiert werden mögen, es mangelt schlichtweg für solche Ar- beit an Geld. Der Sozialhaushalt Sach- sens muss in den nächsten Jahren zurückgeführt werden, unter anderem deshalb, weil die westlichen Bundeslän- der im Rahmen des Länderfinanzaus- gleichs gewisse osttypische Soziallei- stungen nicht anerkennen wollen.

Doch das Geld wäre gut angelegt. So, wie die Überweisungen unter dem Strich nach Ostdeutschland bisher gut angelegt waren. Darin stimmen Sozial- minister Geisler und sein politischer Gegner, der Vorsitzende der SPD- Landtagsfraktion, Thomas Jurk, über- ein: Mit den Transfergeldern ist viel er- reicht worden. Der Osten ist kein Fass ohne Boden. Norbert Jachertz T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 48½½½½1. Dezember 2000 AA3249

Löbau: Stimmungsbild Fotos: Norbert Jachertz

Bautzen: Perfekt restauriertes Kaufmannshaus mit modernem Drogeriemarkt

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Lösungsschlüssel: Ein Punkt ist genau dann zu geben, wenn ausschließlich alle laut Lösungserwartung richtigen Antwortmöglichkeiten

Aufgabenstellung: Geben Sie die für den abgebildeten Graphen passenden Parameterwerte von f an!.

Lösungsschlüssel: Ein Punkt ist genau dann zu geben, wenn jedem der vier Graphen ausschließlich der laut Lösungserwartung richtige Buchstabe zugeordnet ist.. 13

Ein Punkt für die Angabe der korrekten Werte

Ist nur für eine der beiden Lücken der richtige Satzteil angekreuzt, ist ein halber Punkt

Ist nur einer der angegebenen Werte richtig, ist ein halber Punkt

Lösungsschlüssel: Ein Punkt für eine korrekte Skizze, wobei der Verlauf des Graphen der Funktion s1 mit der Funktionsgleichung s1x = 2 ∙ sinx erkennbar sein muss... 13

Für die Angabe von nur einem richtigen Wert ist ein halber Punkt