• Keine Ergebnisse gefunden

Seniorinnen und Senioren

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Seniorinnen und Senioren"

Copied!
52
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Seniorinnen und Senioren

Einleitung

Der weite und vielschichtige Themenkreis Alter betrifft jeden Einzelnen, es sei denn, er hat das zweifelhafte Glück, jung zu sterben. Er betrifft aber in einem bisher nicht gekannten Ausmaß auch die Gesellschaft insgesamt.

Die Ratlosigkeit der Politiker ist groß. Dabei sehen sie den ganzen Umfang des Problems (mit den Stichworten Rente und Pflege) erst im Ansatz.

Mehrere Einflüsse wirken zusammen:

- Die Lebenserwartung wächst rapide – zur Zeit um drei Monate pro Jahr.

Also gibt es immer mehr ältere Menschen. Zwar geht dies damit einher, dass viele Ältere „länger halten“, also auch länger recht gesund sind, doch das eigentliche Problem liegt darin, dass das Leben sie zermürbt hat und nicht mehr alle von ihnen im Daseinskampf mithalten können.

- Der Arbeitsmarkt braucht die Flexibilität der Jungen dringend, denn seine Strukturen sind zunehmend volatil und verlangen besondere Wendigkeit, diefürFestgefügtes,in vielen JahrenErworbeneskaumVerwendung hat.

Die Älteren fallen aus dem Arbeitsmarkt, lange bevor sie wirklich alt sind.

- Die Geburtsrate sinkt, und damit werden die Menschen in den Jahren der aktiven Berufstätigkeit immer weniger und ihre Last wird immer größer.

Während wir in unseren Interviews die Befindlichkeit der Menschen über Sechzigkennenlernen,entwickeltsichvorunserenAugeneinBildmitvielen Facetten, das im Wesentlichen durch zwei Schwerpunkte bestimmt ist:

- die Fragwürdigkeit unserer sich wandelnden Klischees über die Alten und das „Altenteil“, insbesondere in Bezug auf Familie und Arbeitswelt.

- das große Thema, das um Verlust, Hilflosigkeit, und Pflege zentriert ist, und in das nicht selten das Armutsproblem hineinspielt.

Als Interviewpartner haben sich fast ausschließlich Seniorinnen und Senioren außerhalb von Alten- und Pflegeheimen gemeldet habe, so dass die Interviews über die Situation in diesen Heimen nichts aussagen. Dafür müssen wir andere Informationsquellen nutzen.

(2)

Werfen wir noch einen Blick auf einige Balkendiagramme, die unsere Stichprobe beschreiben und die, vorsichtig gesehen, auch allgemein gelten, wobei es sich fast nur um Menschen handelt, die nicht in Heimen leben.

Fast alle Männer wohnen mit einer Lebenspartnerin zusammen, aber nur knapp die Hälfte der Frauen wohnen mit einem Lebenspartner zusammen:

Mit Partnerin lebende Männer im Seniorenalter Anteil 88 %

von 41

Mit Partner lebende Frauen im Seniorenalter Anteil 45 %

von 40

Häufigen guten Kontakt mit der engeren Familie, normalerweise eigenen Nachkommen, haben vier von zehn Senioren oder Seniorinnen aus unserer Stichprobe, ohne nennenswerten Unterschied zwischen den Geschlechtern.

Kontakt der Seniorinnen und Senioren mit der engeren Familie häufig und gut 36 %

von 81

Etwa sechs von zehn Senioren oder Seniorinnen nehmen an organisierter Freizeit teil, zum Beispiel als Vereinsmitglied, etwa zwei engagieren sich sogar aktiv in der Organisation oder einer anderen steuernden Rolle, auch dies ohne nennenswerten Unterschied zwischen den Geschlechtern.

Freizeit der Seniorinnen und Senioren im organisierten Rahmen aktives Engagement (Ehrenamt)

einfache Teilnahme keine Teilnahme

17 % 46 % 37 % von 81

(3)

Soziales Umfeld

Familie

Wenn man älter wird, gehen die groß gewordenen Kinder aus dem Haus und die Vater-Mutter-Kinder-Struktur des Haushalts löst sich auf, wenn sie wirklich zuvor in dieser Form Bestand hatte. Die Eltern bleiben zurück und hoffen auf Besuche und Telefonate. Für sie ist ein Kapitel des Lebens und damit ein Stück Zukunft zu Ende, der Aufbau des Lebens geht allmählich in seinen Abbau über. Gleichzeitig sind sie entlastet.

Wie unsere Interviews zeigen, ist der Nachwuchs dennoch weiter präsent, sowohl durch sein regelmäßiges Wiederauftauchen im elterlichen Umfeld als auch im Bewusstsein der Eltern. Nicht selten kommt es sogar vor, dass der Nachwuchs gar nicht erst auszieht. Dann ergibt sich ein Arrangement, das die Bedürfnisse der alt werdenden Eltern zufrieden stellt, zumal ihnen vielleicht die wichtige Aufgabe zufällt, auf die Enkelkinder aufzupassen.

Oft kehrt sich spät im Leben der Eltern das Abhängigkeitsverhältnis um, und die Eltern sind auf die Fürsorge ihrer Nachkommen angewiesen. Doch vorher kommt es manchmal zu einer Konstellation, in der Menschen, die selbererwachseneKinderhabenundnichtmehrweitvomRentenaltersind, zugleich für die inzwischen hoch betagten eigenen Eltern sorgen, so dass die Rolle des Sorgenden fließend in die Rolle des Bedürftigen übergeht.

Durch die Vielfalt der familiären Konstellationen hindurch wird sichtbar, dass nach wie vor die eigenen Nachkommen zu den wichtigsten Bezugs- personen alt werdender oder schon alter Menschen gehören. Auch wenn viele Seniorinnen und Senioren die Hilfe ihrer Nachkommen am liebsten nicht in Anspruch nehmen möchten, trägt die bloße Möglichkeit, darauf zurückzugreifen, an sich schon dazu bei, das Sicherheitsgefühl zu erhöhen.

ImmerwiederfindetmanMenschen,dienominellaltsindundsichdennoch in der Rolle derer wohlfühlen, die ihrerseits für alte Menschen sorgen.

Wir stellen die folgenden Fallberichte ohne Zwischenkommentare dar, weilsieinsgesamteinBildzeigen,dasfürdieGruppederzuHauselebenden alten Menschen recht einheitlich ist. Die generationenübergreifende Familie ist auch heute noch sehr wichtig und, wenn vorhanden, der Ehepartner.

(4)

Seniorin (Mitte 70) – Guter Kontakt zur verheirateten Tochter Mit ihrer Tochter und deren Mann versteht sich die Seniorin sehr gut.

Sie besuchen sich gegenseitig. Außerdem leben noch der Bruder und die Schwester ihres Mannes in Gütersloh. Sie hat zwei Schwestern in anderen großen Städten. In ihrem Haus leben sie und ihr Mann allein, und das schon lang. Sonst sind alle, die mit ihnen Anfang der sechziger Jahre hier eingezogen sind, längst ausgezogen. Jetzt wohnen viele junge Familien in den Nachbarwohnungen und Häusern. Darunter sind auch viele türkische Familien und einige ältere alleinstehende Frauen.

Seniorin (Anfang 60) – Nach dem Tod der Mutter

Die Seniorin lebt allein in ihrer Wohnung. Bis vor einem Monat hat sie darinmit ihrer87-jährigen Mutter gelebt, doch diese ist jetzt gestorben.

Die Seniorin hat einen 28-jährigen Sohn. Er kümmert sich liebevoll um seine Mutter. Außerdem hat die Seniorin noch mehrere Cousins, die sieBrüdernennt,unddieauchmitihrenFamilieninderNähewohnen.

Sie ist in Kasachstan geboren und hat dort bis vor zehn Jahren mit ihrer Mutter unter harten Bedingungen gelebt. Als Deutsche war sie in einem Ghetto eingesperrt und durfte dieses Gebiet nicht verlassen.

Geholfen. Der familiäre Zusammenhalt hat sie gestützt. Ihre Mutter hatte noch vier Geschwister und den Glauben an Gott.In Deutschland hat sie immer mit ihrer Mutter zusammen in dieser Wohnung gelebt.

Nach dem Tod der Mutter ist die Wohnung nun zu groß für sie allein.

Seniorin (Anfang 60) – Tod der Mutter im Altenheim

In Zeiten, in denen die Frau sich mit ihrem Ehemann nicht verstand, spielte ihr Glaube eine Rolle. Bis vor kurzem besuchte die Seniorin ihre Mutter, die inzwischen gestorben ist, mehrmals in der Woche im Altenheim. Sie ist sehr dankbar dafür, dass ihre Mutter so friedlich eingeschlafen ist und dabei nicht allein war, da konnte sie gut loslassen.

(5)

Seniorin (Mitte 70) – Hauptsache, den Kindern geht es gut Die Töchter wohnen in der Nähe und besuchen die Seniorin oft, und auch die beiden Enkel kommen nachmittags immer mal wieder vorbei, einfach so. Die beiden Söhne, die viel weiter entfernt wohnen, können nicht so oft kommen. Die Kinder der Söhne besuchen die Großeltern ab und zu einzeln für eine Woche, aber auch die ganze Familie trifft sich schon mal für ein ganzes Familienwochenende. Selber hat sie sich nie etwas gegönnt. Ihr war wichtiger, dass alle ihre Kinder gute Berufe in gehobenen Positionen ergreifen konnten. Darüber freut sie sich ohne viel Stolz, denn ihr ist nur wichtig, dass es den Kindern gut geht.

Sie hätten ebenso gut auch alle Bäcker oder Maurer werden können.

Seniorin (Ende 60) – Späte Trennung vom Ehemann

Als die Seniorin ihre Altersrente bekam, hatte sie eigenes Geld und sah keinen Grund, mit ihrem Ehemann im gemeinsamen Haus zu bleiben.

Sie nahm sich eine kleine Wohnung, auch wenn die Miete die Hälfte der Rente kostet. Da hilft das Wohngeld auch nicht viel. Zum Leben bleibt kaum noch etwas übrig, wenn man Telefon, Strom und Heizung abzieht. Sie will aber nicht zum Sozialamt gehen, weil sie fürchtet, dass dann ihre Kinder für sie zahlen müssen. So dreht sie lieber jeden Euro mehrmals um, und bestimmte Dinge kann sie sich eben nicht leisten.

So würde sie gerne Samstags morgens zur Rheuma-Wassergymnastik im Nachbardorf gehen. Früher wurde sie von einem Nachbar-Ehepaar mit dem Auto dorthin mitgenommen, seitdem dieses Ehepaar jedoch weggezogen ist, kann sie an der Gymnastik nicht mehr teilnehmen, weil der Bus zu teuer für sie ist, aber auch andere Freizeitaktivitäten kosten Geld, sogar die Seniorenveranstaltungen der AWO. Dabei kann sie sich nur Montags den Kaffee- und Handarbeitsnachmittag leisten, zu dem sie, seit sie alleine lebt, gerne geht. Hier hat sie einige Frauen gefunden, mit denen sie sich ganz gut versteht, zusammen mit ihnen macht sie auch schon mal Spaziergänge, und dieses Jahr möchte sie mit ihnen einen kleinen Urlaub machen, vorausgesetzt, die Kinder zahlen dafür. Zu den Kindern hat die Seniorin einen guten Kontakt, fast jeden

(6)

Tagrufteinesanundkommtvorbei.AmWochenendeladendieKinder sie auch mal zum Essen ein, was sie im Hinblick auf ihr Gewicht oft nur mit schlechtem Gewissen annimmt. Öfter als bei den Besuchen am Sonntag möchte sie ihren Kindern nicht zu Last fallen, weil Kinder ja doch andere Ansichten haben als Eltern, da darf man ja nichts sagen.

In ihrer neuen Lebenssituation fühlt sich die Seniorin trotz ihres engen finanziellen Budgets so wohl wie nie in ihrem Leben, zum ersten Mal kann sie tun, was sie will. Nie wieder will sie für einen Mann da sein.

Sie hat wegen ihm keinen einzigen freundschaftlichen Kontakt bewahrt undmuss auch wieder neu lernen, sich in ihrer Freizeit zu beschäftigen.

Senior (Anfang 70) – Bis der Tod Euch scheidet

Mit seiner Frau ist der Senior glücklich. Er hat sein Eheversprechen ernst genommen. „Bis daß der Tod euch scheidet.“, das gilt für ihn heute noch. Er hofft, noch lange mit seiner Frau zusammen zu sein.

Dann ist alles nicht so schlimm. Wenn das Haus ihnen beiden zu groß werdensollte,könntemansichetwasüberlegen.Bisjetztdenkenerund seine Frau aber noch nicht viel daran, weil es beiden ja noch gut geht.

Senior (Anfang 70) – Die Spuren des Patchwork

SeinezweiteFrauhatderSeniorerst1991geheiratet.Zusammenhaben sie fünf Kinder, die alle nicht mehr im Haus leben. Zwei Kinder hat er mit in die Ehe gebracht und drei seine Frau. Insgesamt haben sie sechs Enkelkinder. Alle Kinder untereinander haben nur zu Familienfesten miteinander Kontakt. Es besteht keine Feindschaft untereinander, aber sie haben sich eben nicht viel zu sagen, weil sie auch aus verschiedenen Verhältnissenstammen.Der Senior kann nicht verstehen, warum seine Tochterihnablehnt,wogegenseinSohnabundzuabendshereinschaut.

BeidehabenkaumKontaktmiteinander,obwohlsienur10kmentfernt voneinander leben. Die Tochter besucht ihn höchstens einmal im Jahr.

(7)

Senior (Anfang 80) – Weihnachtsessen bei Oma und Opa

Der Senior hat vier Kinder und neun Enkelkinder. Ein Sohn lebt mit seiner Frau und drei Kindern im oberen Stockwerk des Hauses, alle anderenKinderhaben„ein Eigentum“,wieerstolzberichtet.Innerhalb der großen Familie gibt es einen guten Zusammenhalt, man besucht sich gegenseitig, die Kinder des Sohnes, der oben wohnt, kommen oft herunter, um zu sehen, was die Oma im Topf hat, und Weihnachten gibt es immer ein großes Familienessen bei Oma und Opa. Bis jetzt sind sie beide ja noch ganz fit. Der Senior ist, abgesehen von seiner Schwerhörigkeit und Herzrhythmusstörungen, gesund, was er darauf zurückführt, dass er mit Alkohol maßvoll umgeht und nie geraucht hat.

Senior (Ende 60) – Kinder und Enkelkinder in Reichweite

Mit seiner Frau hat der Senior zwei Kinder. Der Sohn hat studiert und betreibt zusammen mit einem Partner einen Betrieb in der Nähe. Er ist verheiratet und hat einen elfjährigen Sohn, der beide Großeltern gern und häufig besucht, auch zum Sohn selber und zur Schwiegertochter gibt es guten Kontakt. Die Tochter lebt mit einem Lebenspartner im Ausland und hat zwei Töchter, zehn- und elfjährig. Sie ist nach ihrem Studium zuerst einmal durch die Welt gereist, was die Eltern mit Sorge betrachtet haben, jetzt jedoch als sehr gut für die Tochter anerkennen.

Senior (Ende 60) – Das Haus rechtzeitig verschenken

Eigentlich würde der Senior ja gerne noch das Vorderhaus, sein altes Wohnhaus, renovieren, da sind die Wände feucht, und es müsste viel gemacht werden, was er auch tun würde, wenn er nicht genau wüsste, dass die Kinder nie mehr in das Haus zurückkehren werden. So macht er nur das Notwendigste. Über das Haus hat er viel nachgedacht und sich überlegt, dass es günstiger ist, es zu verschenken statt zu vererben.

Einmal wegen der Erbschaftssteuer und dann auch, damit noch etwas für die Kinder davon übrig bleibt, wenn er und seine Frau einmal in ein Pflegeheim kommen sollten. Was nämlich zehn Jahre vor einer

(8)

Heimaufnahme verschenkt wird, kann nicht mehr zur Verrechnung vonHeimkostenherangezogenwerden,dasweißer,ansonstenhoffter, mit seiner Frau noch lange in dem jetzt gerade neu bezogenen Anbau wohnen zu können, bis jetzt sind beide ja noch gesund. Die Ehefrau hat zwar schon ab und zu mit ernsten Erkrankungen im Krankenhaus gelegen, aber jetzt geht es ihnen gut, so gut wie noch nie, sagen beide.

Senior (Anfang 70) – Die Enkelin von gegenüber

Heute lebt die Tochter des Seniors in dem alten Elternhaus der Mutter nebenan. Der Sohn lebt mit seiner Frau und den beiden Enkelkindern ineinemHausaufderanderenStraßenseite.BesondersmitderTochter, aber auch mit dem Sohn gibt es beinahe täglich Kontakt. Da der Sohn weit im Norden arbeitet, ist der Kontakt mit ihm auf das Wochenende begrenzt. Die viereinhalbjährige kleine Enkelin besucht die Großeltern fast täglich und verbringt viel Zeit bei ihnen, sehr zu deren Freude.

Senior (Ende 60) – Ein Witwer kocht für seinen Sohn

Der Senior hat zwei Söhne, von denen einer verheiratet ist, drei Kinder hat und im Norden wohnt. Der jüngere Sohn bewohnt mit dem Vater die Wohnung und studiert in einer Stadt im Norden. Vor einem Jahr ist die Frau des Seniors, mit der er vierzig Jahre verheiratet war, nach zehnjähriger Krankheit an Knochenkrebs gestorben. Jetzt hat er noch seine beiden Söhne, zu denen er ein gutes Verhältnis hat. Den Sohn, der noch bei ihm wohnt, bekocht er jeden Tag. Mit dem Kochen, seiner Hausmeistertätigkeit und seinem Haushalt hat er immer etwas zu tun, Langeweile kennt er nicht. Auch zum älteren Sohn und dessen Familie besteht ein gutes Verhältnis, man besucht sich regelmäßig.

Wie man aus diesen Berichten erkennt, funktioniert die Familie auch heute noch im generationenübergreifenden Verbund, und offensichtlich kann sie nur so funktionieren, wenn der Alltag alter Menschen, die noch in einer eigenen Wohnung leben, nicht von Vereinsamung und Sinnleere geprägt sein soll.

(9)

Bindungen

Während die Kinder wachsen und (hoffentlich) gedeihen und am Ende das Nest verlassen, bleibt doch das Wohnumfeld in vielen Fällen konstant.

Die Nachbarn bleiben, wenn die Kinder weg sind – meistens jedenfalls.

Deshalb auch ist es von Bedeutung, wie gut die Nachbarschaft miteinander auskommt. Da Nachbarn in erreichbarer Nähe sind, kann man sie auch um Unterstützung bitten, wenn man einmal in Not ist. Manchmal helfen sie auch gegen die Einsamkeit. Eine Veränderung in der Zusammensetzung der vertrauten Nachbarschaft wirkt oft bedrückend. Aussagen wie „Alle in meinem Alter sind schon gestorben, und die Jungen kennen mich nicht.“

oder „Unsere Bekannten sind alle weggezogen.“ wirken niederdrückend.

Zum Wohnumfeld gehören auch Plätze, zu denen man gehen kann, um Gleichgesinnte zu treffen – die Gemeindehäuser und Kirchen zum Beispiel.

Für manche alten Menschen spielt die Erreichbarkeit von Kirchen eine wichtige Rolle. Je immobiler man wird, um so wichtiger werden die Stätten, die man noch erreichen kann und die Menschen, die dort sind.

Die Religion ist für viele unserer älteren Interviewpartner ein innerer Besitz – eine feste Bindung, die nicht verloren geht und die ihnen Halt gibt, wenn die Welt, die sie erleben, unerträglich wird. Sie berichten von Phasen ihres Lebens, die so schwer zu ertragen waren, dass nur die Religion ihnen noch Halt geben konnte. Den meisten Jüngeren fehlt dieser Anker.

Weniger bedeutsam, weil weiter weg, sind Vereine. Sie sind besonders für diejenigen von Bedeutung, deren Altersproblem (noch) eher die Langeweile als die Hilfsbedürftigkeit ist. Wer sich aber dank seiner noch verfügbaren Mobilität in altersgemischten Umgebungen aufhalten kann, der hat mehr Anregung und damit die Chance, mit der sich wandelnden Welt vertraut zu bleiben. Seniorenkreise haben eine wichtige Funktion insofern, als sie auch denjenigen soziale Ansprache bieten, um die sich Jüngere nicht kümmern.

Weil es uns so selbstverständlich ist, machen wir uns selten klar, wie sehr unsere sozialen Kontakte auf Mobilität angewiesen sind – trotz Telefon, Kurznachrichten und E-Mails. Der Bewegungsraum alter Menschen wird kleiner, und so sind sie dankbar für jede Gelegenheit, jemanden zu treffen, den sie ansprechen können, sofern ihre Belastbarkeit noch ausreicht.

(10)

Seniorin (Anfang 90) – Kaum jemand interessiert sich für sie Wenn das Wetter schön ist und die Seniorin sich wohl fühlt, macht sie noch manchmal kleine Spaziergänge mit ihrem Rollwagen. Auch geht siezumKaffeenachmittagdesRotenKreuzes.Dorthatsievoreinpaar Jahren eine 81-jährige Freundin wiedergetroffen, mit der sie sich gut versteht. Manchmal telefonieren sie beide miteinander. Sonst sind viele Bekannte weggestorben, und mit der jungen Nachbarschaft hat sie keinen Kontakt mehr. Die Nachbarn interessieren sich nicht für sie, weil sie eine alte Frau ist. Nur einmal war sie zum Einzug einer jungen Familie eingeladen. Das war sehr schön. In der Seniorengruppe ist es schwierig geworden, Kontakte zu knüpfen, denn die 70-jährigen fühlen sich zu jung für sie. Man sieht dort auch immer die gleichen Gesichter.

Auch sonst ist es mit Bekanntschaften für sie schwierig. Weil sie erst vor sechs Jahren hierher gezogen ist, hat sie keinen Bekanntenkreis.

Deswegen ist sie auf den Seniorenkreis angewiesen. Außerdem gibt es manchmal Themennachmittage, kürzlich über Schokolade. Da geht es in der Hauptsache ums Essen. Es gefällt ihr trotzdem. In der nächsten Woche hat sie gleich zwei Einladungen auf einmal. Das kommt sonst nicht vor. Ob sie dort hingeht, kommt allerdings auf ihre Stimmung an, die ist nämlich manchmal nicht so gut. Dann ist sie sehr traurig.

Seniorin (Mitte 70) – Alles für den Christkindlmarkt

Durch die schweren Zeiten ist die Seniorin mit Hilfe ihres katholischen Glaubens gekommen. Dieser ist bis heute ihre Orientierung geblieben.

Heutehilft siebeiGemeindeaktivitäten,zumBeispielbeimChristkindl- markt. Darum hat sie vor Weihnachten einige Wochen lang keine Zeit.

ZuHausebleibtallesliegen.AuchdieEnkelkinderhelfenmit.Siefindet es wichtig, Kinder früh zu sozialer Arbeit anzuhalten. Sie erzählt von diesen Märkten mit großer Begeisterung. Ab und zu organisiert sie auch eine Haushaltsauflösung für diese Weihnachts- bzw. Flöhmärkte.

Dadurch gibt es viele Kontakte. Sie ist Vorsitzende einer katholischen Organisation. In dieser Eigenschaft besucht sie auch den Bundestag.

(11)

Seniorin (Mitte 70) – Freundliche Distanz

In der Nachbarschaft gibt es nicht so enge Kontakte. Da gibt es eine nette ältere Dame und eine junge Japanerin, mit der die Seniorin ein engeres Verhältnis hat. Da hilft man sich gegenseitig, gießt die Blumen und besucht sich auch mal. Sonst hält man im Haus eine freundliche Distanz. In einem der Nachbarhäuser gibt es noch eine ältere Dame, die früher manchmal zu Besuch gekommen ist. Das geht jetzt nicht mehr, weil sie nach einer Hüftoperation die Treppen bis zum vierten Stock nicht mehr schafft. Es gibt aber aus ihrer Kindergartenzeit noch viele gute Kontakte zu den früheren Kindern und ihren Eltern.

Senior (Anfang 70) – Vier Nachbarn zum Sargtragen

Was die Nachbarschaft angeht, ist das Leben in der Siedlung hier sehr gut. Der Senior hat sieben Nachbarn, aber man braucht nur vier zum Sargtragen. Den fünften kann man sich dazu suchen, der geht vor oder hinter dem Sarg. Dies ist eine Tradition, die einmal sehr wichtig war und für ihn heute noch wichtig ist. Nachbarschaft ist für ihn sowieso sehr wichtig, man hilft sich gegenseitig und feiert zusammen Feste.

Dies ist sehr wichtig für ihn. Die Nachbarn sind aber nicht unbedingt seineFreunde,mansiehtsichnichtindieTöpfe.AlsFreundbezeichnet er nur den Nachbarn von gegenüber, einen ehemaligen Rechtsanwalt.

Aber auch mit diesem bespricht er keine privaten Probleme. Dies tut er nur mit seiner Frau. Beide haben untereinander keine Geheimnisse.

Senior (Anfang 80) – Erinnerungen an den Krieg

Etwas bedauert der Senior, dass es in der Gemeinde und im Schützen- verein, in dem er Mitglied ist, immer weniger Menschen in seinem Alter gibt. Es kommen einfach keine neuen mehr dazu, und die Alten sterben. Aus dem Schützenverein hat er sich deswegen zurückgezogen.

Er hat noch einige Kontakte zu alten Kriegskameraden, mit denen er sich in größeren Abständen jetzt immer noch trifft. Eine besonders gute Beziehung besteht, mittlerweile in dritter Generation, immer noch

(12)

zu einer Familie, die ihn im zweiten Weltkrieg in Holland fürsorglich aufgenommen hat. Mit den Enkeln und Urenkeln dieser Familie gibt es heute noch einen lebhaften Kontakt. Vor einigen Jahren hat der Senior dann einen Mann kennengelernt, der ein Buch über Russland schreibt.

Der Senior hat mit ihm festgestellt, dass sie in der Gefangenschaft fast Nachbarn waren, vor einigen Jahren hat er dann mit dem Autor an einem Buch über die Stadt während der Zeit des Krieges gearbeitet.

Senior (Mitte 60) – Offene Gartengrenzen

Die Nachbarschaft in der Siedlung des Seniors ist sehr gut. Man hat dort keine geschlossenen Gartenhecken. Es ist selbstverständlich, dass der Nachbar einfach durch den Garten rüberkommt. Ab und zu wird auchmalzusammengefeiert.Man ist füreinander da und hilft sich.

Senior (Anfang 80) – Christliche Werte

Viele der Nachbarn werden heute von Pflegediensten versorgt. Sonst sindalleinAltersheimen.DeswegengibtesinderNachbarschaft wenig Kontakte. Man besucht sich kaum. Die vielen neuen, jungen Nachbarn interessieren sich nicht für die Alten. Kontakte hat der Senior schon.

Er hat noch Bekannte von früher vom Sport und Leute, mit denen er sich ab und zu trifft und Probleme bespricht. Viele sind aber schon tot.

Sein Leben lang hat er sich an Werte, die ihm seine Eltern mitgegeben haben, gehalten – christliche Werte, die ihm in schweren Zeiten Halt gaben. Der Glaube hat ihn in der schwersten Zeit seines Lebens, in der Gefangenschaft, geholfen. Er war zwar im Krieg, aber das war nicht so schlimm, weil er wusste, wofür er es tat. Schlimmer war die sadistische Gefangenschaft. Wenn er daran denkt, kommen ihm die Tränen.

Wir erkennen, wie wichtig auch für alte Menschen die soziale Einbindung bleibt, je nach Mobilität in weiterem oder engerem Umkreis. Manche sind aktiv in Organisationen tätig und oft unterwegs, andere können sich nicht mehr viel bewegen und sind darauf angewiesen, dass ein gutes Wohnumfeld mitgutenNachbarnvorhandenist,unddassdieKinder zu Besuch kommen.

(13)

Wohlbefinden

Deprivation

Es ist traurig und macht nachdenklich, wenn man sieht, wie vieles, was das Leben freundlich und lebenswert oder zumindest erträglich macht, vielen Unglücklichen am Ende ihres Lebens Schritt für Schritt abhanden kommt, bis ihnen schließlich der Tod als das geringere Übel erscheint.

Die Bewältigungsfähigkeit vieler Menschen ist, wenn sie gefordert wird, oft erstaunlich, doch liegen Deprivation und Depression eng beieinander.

Nahezu alles, was unser Leben trägt und bereichert, kann leicht verloren gehen – Beweglichkeit, Gesundheit, Gedächtnis und Sinne, Selbstachtung, Partner, soziale Kontakte, Selbständigkeit und das Geld.

Dass die Mitwelt darauf mit Zuwendung und Fürsorglichkeit reagiert, ist nicht selten eine Illusion. Wer sich nicht mehr wehren kann und nichts mehr zu bieten hat, gehört zu den Verlierern, und mit denen will man in unserer Winner–Loser–Gesellschaft allenfalls etwas zu tun haben, wenn mandafürbezahltwird.AuchdamithängtderheuteverbreiteteAnti–Aging–

Kult zusammen. Man will nicht zu denen gehören, denen die Jahre ihre Wehrhaftigkeit stehlen. Der frühere Schach–Weltmeister Bobby Fisher soll es als junger Mann so formuliert haben: „Man muss fit sein, sonst ist alles aus!“ Viele Menschen schaffen das aber nicht.

Auch wenn wir dafür dankbar sein dürfen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Armut randständig und der Krieg nicht allzu nah ist, und in der die Menschen dank vieler günstiger Entwicklungen lange gesund und leistungsfähig bleiben, sind wir doch schlecht beraten, wenn wir denen, die nicht zu dieser Idylle passen, die Solidarität verweigern, und dazu gehören auch diejenigen, denen das Alter tatsächlich zu einer schweren Last wird.

Kein Wunder, dass der Lehrberuf des Automechanikers weit begehrter ist als der des Altenpflegers. Hinschauen ist der Anfang.

Wir stellen nun einen Fall vor, in dem das Deprivations-Syndrom als Ganzes sehr deutlich wird, wogegen in den meisten anderen Fällen nur einzelne Aspekte der Deprivation enthalten sind. Die Gesprächspartnerin wirkte depressiv und weinte. Doch ganz ohne Trost ist ihre Lage nicht.

(14)

Seniorin (79) – Nichts ist mehr wie früher

Die jetzt 79-jährige Seniorin lebt seit 47 Jahren in Gütersloh. Sie ist als FlüchtlingdorthingekommenundhatzudieserZeitGüterslohals sehr schöne Stadt empfunden. Heute bedauert sie, dass die alten Gebäude und das Altvertraute allmählich verschwinden. Auch der Dreiecksplatz und das Kriegerdenkmal sind nicht mehr da. Sie bedauert sehr, dass Gütersloh noch nicht einmal ein Denkmal für die Menschen hat, die im Krieg gefallen sind. Der Stadtpark sei früher auch viel angenehmer gewesen. Heute müsse ein alter Mensch dort Angst vor Übergriffen haben, vor allen in den Abendstunden. Zuerst, als sie nach Gütersloh kam, wohnte sie in einem anderen Ortsteil von Gütersloh. Dann haben sie und ihr Mann vor 30 Jahren das Haus gebaut, in dem heute sie und ihr Sohn, der Anfang 50 ist, leben. Der Sohn hat im Haus ein Schlaf- zimmer und kommt jeden Abend zum Schlafen nach Hause. Er hat als Kaufmann viel Arbeit. Ab und zu bringt er seine Mutter zum Friedhof.

Ihr Mann ist vor vier Jahren, mit 77 Jahren, an Krebs gestorben. Fünf Jahre lang war er krebskrank. Sie hat in den ersten beiden Jahren nicht daran gedacht, dass es mit ihren Mann noch schlimmer werden könnte und hat immer weiter geplant. Dann hatte ihr Mann eine Operation nach der anderen und kam nur noch zwischen den Krankenhaus- und Kuraufenthalten für ein paar Tage nach Hause. Der Krebs ist immer weiter gewachsen und war nicht mehr zu operieren. Dies war eine sehr schwere Zeit für sie. Sie hat die Krankheit ihres Mannes erlebt, als wäre es ihre eigene und hat sehr mitgelitten. Jetzt ist sie einsam. Sie hat Bekanntschaften, geht auch mal da und dort hin, so lange es noch geht.

Viel kann sie nicht mehr machen, denn sie hat selber eine schwere Krankheit, an der sie fast gestorben wäre. Deswegen fällt sie immer wieder um und bricht sich manches. Einmal im Leben hatte ihr Sohn eine Freundin, diese ist aber auch an Krebs gestorben. Auch dies war eine schwere Zeit. In ihrem Ortsteil hat sie einen Seniorenkreis, mit dem sie oft zusammenkommt. Diese Leute helfen ihr und lassen sie nicht im Stich, nehmen sie auch mal mit, wodurch sie Verbindung zur Außenwelt hat. Dies meisten Bekannten kommen aus dieser Gegend.

Sie fühlt sich in ihrem Seniorenkreis zu Hause. Zu den Nachbarn hat

(15)

siewohlKontakt,undbeidengroßenGeburtstagenfeiertsiemitihnen.

Sie mag keinen Klatschkontakt. Wenn aber jemand ein Problem hat, sinddieNachbarnzurStelle.Wirklichhelfenkannman sich gegenseitig nicht, weil alle Nachbarn selber schon alt sind. Man mag dann auch nicht fragen, wenn man sieht, der Nachbar kann selber kaum laufen.

Es gibt in der Nachbarschaft nur zwei junge Leute, und wenn diese von der Arbeit nach Hause kommen, haben sie ja auch selber zu tun.

Der Sohn kann sie kaum unterstützen, weil er um 6 Uhr mit der Arbeit beginnt. Sie wäscht noch seine Wäsche, weil sie Wäsche nicht gern aus dem Haus gibt. Das Haus kann sie nicht mehr allein sauber halten, dafür kommt manchmal eine Putzfrau. Das kann sie sich aber nicht oft leisten. Sie wird zweimal pro Woche von einem Pflegedienst gebadet, weil sie allein nicht aus der Wanne kommt. Das reicht ihr. Mehr wäre zu anstrengend, und sie muss ja früh aufstehen, wenn der medizinische Dienst kommt. Sie ist ziemlich viel allein, außer wenn jemand kommt, um sie zu holen. Allein kann sie nur mit einem Gehwagen rausgehen.

Vor kurzem hat sie einen neuen Gehwagen bekommen, weil der alte ihr zu schwer geworden ist. Sie konnte die Kurven nicht mehr gehen, weil sie den Wagen mit den Händen nicht mehr halten konnte. Ihr fällt alles aus der Hand. Jetzt im Winter geht sie nicht so gern raus, weil es zu dunkel ist und sie Angst hat, übersehen zu werden. Außerdem sind die Bürgersteige für sie mit ihrem Rollwagen sehr schlecht, weil sie teil- weise zugeparkt sind und es viele Höhenunterschiede gibt. Alleine Busfahren darf sie nicht mehr, und es wäre auch viel zu gefährlich, weil sei Angst haben müsste, beim Anfahren im Bus umzufallen. Sie kann doch nicht so schnell einen Platz im Bus finden. Auch sind die Stufen des Busses für sie viel zu hoch. Die viele Zeit zu Hause vertreibt sie sich mit Lesen, was sie sehr gerne tut. Auch die Gerichtssendungen im Fernsehen sieht sie gern. Vor allem, weil da sehr viele Jugendliche sind, die sich nicht zurechtfinden. Die haben Probleme, von denen sie noch nie etwas gehört hat, und die es früher gar nicht gegeben hat. Darüber kann man als alter Mensch nur staunen. In der Nähe gibt es drei Kirchen – eine apostolische, eine evangelische und eine katholische.

EigentlichistdieSeniorinkatholisch,aberdiekatholischeKircheistihr zu weit. Sie ist mit ihrem evangelischen Mann immer in evangelische

(16)

Kirche gegangen. So hat sie es dabei belassen. Sie findet, dass man dort hin gehen soll, wo man Trost finden kann. Sie besucht alle Kirchen, auch die apostolische. In allen diesen Gemeinden hat sie Freunde und Bekannte. Die Apostolischen können herrlich singen. Dabei machen sie die Fenster auf. Das ist sehr schön. Bei denen findet sie besonders gut, dass sie das Leben in den Gottesdienst einbeziehen. Dies vermisst sie bei den anderen Kirchen. Die Apostolischen haben auch so schöne Rituale, besonders wenn jemand stirbt. Dies findet man sonst nirgends.

Die meisten sterben heute allein. Früher hat die ganze Nachbarschaft um das Sterbebett gesessen und gebetet. Der Pfarrer ist auch nachts noch gekommen. Sie bedauert sehr, dass es das nicht mehr gibt. Es sei alles leer geworden, sagt sie. Keiner habe mehr für den anderen Zeit.

Das Schlimmste für sie ist die Einsamkeit. Letztlich hat man ihr, als sie nichtzuHausewar,schonzumzweitenMaldieHaustüraufgebrochen.

Sie darf kein Geld mehr zu Hause haben. Wenn sie zu Hause ist, hat sie keine Angst. In den letzten 10 Jahren, als ihr Mann noch lebte, hatte sie mit ihm einen Laden, wo es alles gab, was man so braucht.

Dadurch kennt sie jetzt alle Kinder und alle Leute, die dort kauften..

Dieses Beispiel zeigt in großer Klarheit, was es bedeutet, alt zu sein und nichtmehrindieZeitzupassen.VielleichtverschließenvieleMenschenvor einemsolchenBilddesAltersdieAugenundbetrachtenlieberdieIdealfigur der Anti–Aging–Reklame. Doch wer sich in seiner Familie und unter seinen Bekannten umschaut, sieht, wie real die Elemente dieses Beispiels sind.

Der Verlust der Leistungsfähigkeit in elementaren Dingen bedeutet einen tiefen Bruch im Selbstbild. Der Stolz, immer mehr „alleine“ zu können, ist von Kindheit an ein fundamentaler Anteil des Selbstempfindens, dessen Beeinträchtigung schwer zu verkraften ist. Die neue Abhängigkeit geht mit der Angst einher, niemand sei da, der auf die Hilflosigkeit stützend und pflegend reagiert und mit der Scham, nutzlos und Anderen lästig zu sein.

Der Verlust des Partners nach langer, zermürbender Krankheit, zerstört bei vielen Betroffenen das Vertrauen darauf, dass die Welt etwas Gutes und das Leben lebenswert ist. Die Trauer will nicht weichen, nichts lohnt mehr.

Es folgen nun weitere, kürzere Beispiele, die Einzelaspekte hervorheben.

(17)

Seniorin (Anfang 90) – Keine Pflegestufe

Manchmal vergisst die Seniorin, dass sie nicht mehr alles tun kann und bei immer mehr Dingen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen ist.

Sie findet es schlimm, auf die Familie angewiesen zu sein und es nicht wieder gut machen zu können und hat deshalb auch versucht, in eine Pflegestufe eingruppiert zu werden. Man hat ihr aber gesagt, sie sei noch zu fit, könne noch allein essen und sich noch allein waschen und anziehen. Sie findet es nicht richtig, dass die Kinder alles für sie tun müssen und nicht von der Pflegekasse dafür entlohnt werden. Mit ihrer Tochter und deren Familie versteht sie sich Gott sei Dank sehr gut.

Senior (Anfang 70) – Nichts bleibt wie es ist

Vor einigen Jahren hat es im Leben des Seniors einen tiefen Einschnitt gegeben. Seine Frau ist an Brustkrebs erkrankt. Es musste ihr die Brust amputiert werden, und danach wurde sie bestrahlt, und das hatte böse Verbrennungsfolgen. Die Bestrahlung hat ein dreiviertel Jahr gedauert.

Er selber ist wenig später an Prostatakrebs erkrankt und musste sich einer weniger dramatischen Behandlung unterziehen, Doch muss er noch heute Hormone nehmen, und dadurch hat er 15 Kilo an Gewicht zugenommen. Im Lauf dieser Erkrankungen hat er zum ersten Mal in seinem Leben gespürt, dass alles sich ändern kann und nichts so bleibt wie es ist. Dies war die bisher schwerste Zeit in seinem ganzen Leben.

Mit seiner Frau zusammen hat er sich erst einmal kundig gemacht, sie haben Bücher über die Krankheiten gelesen und Vorträge besucht.

Seniorin (Anfang 90) – Selbstständig dank der Tochter

FrüherwarsieSekretärin. Bis1973arbeitete sieunversichert. Erst dann begann ihre Rentenversicherung. Sie bekommt nur eine kleine Rente.

Zusammen mit der Witwenrente reicht es aber. Sie ist in ihrem Leben schon zehnmal umgezogen und wohnt erst seit sechs Jahren in diesem Haus, nach dem Tod der Schwiegereltern ihrer Tochter, die früher hier wohnten.VorherhatsieineinerSeniorenwohnanlage,etwasweiterweg

(18)

gewohnt.Jetztistesfürsieunddie Tochterpraktischer,hierzuwohnen.

Es war doch sehr umständlich für die Tochter, jeden Tag 17 km mit dem Fahrrad zu fahren, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Hier aber kann die Seniorin mit ihrer Tochter und deren Mann selbstständig leben, auch wenn sie manchmal Unterstützung bei der Körperpflege und im Haushalt braucht. Das macht ihre Tochter für sie, die sie auch regelmäßig mit Hilfe eines Lifters badet. Die Tochter versorgt sie auch mitMahlzeiten,ihrSchwiegersohnkümmertsichebensoumsie.Siehat auch einen Enkel und drei Urenkel, die etwas entfernt wohnen und sie im Sommer manchmal besuchen. Im Haus kann sie sich mit ihrem Rollwagen noch fortbewegen, draußen aber wird es immer schwieriger.

Auch zur Kirche kann sie nicht mehr gehen. Das wären zehn Minuten zu Fuß, und der Rückweg geht auch noch bergauf. Das ist zu schwer.

Senior (Ende 60) – Den Tod der Ehefrau nicht verwunden Die vergangenen zehn Jahre des Seniors waren durch die sich ständig verschlimmernde Krebserkrankung seiner Frau geprägt. Immer haben beide damit gerechnet, dass es mal zu Ende geht, als sie dann jedoch vor einem Jahr wirklich starb, war es für ihn zu plötzlich. Den Tod seinerFrauhaterbisheutenichtverwunden.Währenderdavonerzählt, weint er. Die letzte Zeit der Krankheit seiner Frau war für ihn auch körperlich nicht einfach, weil es im Haus keinen Fahrstuhl gibt und er in der zweiten Etage wohnt. So hat er seine Frau zunächst getragen, was für ihn – er ist nur ein kleiner Mann – sicher nicht einfach war.

Später baute er sich eine Sackkarre so um, dass er einen Stuhl darauf befestigen und seine Frau damit die Treppen herauf- und herunter schaffen konnte, da war es gut, dass sein jüngster Sohn noch da war.

Das waren drei schlimme Jahre, die schwerste Zeit seines Lebens, und danach hat er lange gebraucht, bis er überhaupt darüber reden konnte.

Geholfen haben ihn jedoch seine alten Kunden. Wenn er jemand zum Reden braucht, findet er unter ihnen immer jemand, der ihm zuhört.

Auch der Kontakt mit seinem Sohn holt ihn zurück in die Gegenwart.

NunkommtermitseinemLebenzurechtundkanndenTagverbringen, ohneständigvonseinentraurigen Erinnerungen überwältigt zu werden.

(19)

Senior (Mitte 70) – Vorruhestand zur rechten Zeit

In den letzten Jahren seines Berufslebens ist dem Senior die Arbeit schon schwerer gefallen, und er hat deutlich gemerkt, dass er nicht mehr so wendig und flexibel wie früher ist. Er hat dann die Leistung, für die er bezahlt wurde, nicht mehr geschafft. Das Soll wurde immer höher gesetzt, und es wurde schwerer, neue Kunden zu werben, weil der Markt eigentlich voll war. Neue Kunden sind nur durch niedrigere Preise zu gewinnen oder wenn man sich gegenseitig abwirbt. Darum sagte er dann auch sofort ja, als man ihm anbot, schon mit 60 Jahren in den Vorruhestand zu gehen. Das musste er bis heute nicht bereuen.

Sorgen

In jedem Lebensalter sind Sorgen Teil des Alltags. In den späteren Jahr- zehnten sind sie zusätzlich vom Empfinden nachlassender Wehrhaftigkeit gefärbt, also vom Gefühl, das Geschehen in der näheren und weiteren Umgebung nicht mehr so gut aus eigener Kraft beeinflussen zu können, andererseits von der Furcht, selber behindert, krank und hilflos zu werden.

Die Sorge, wie es in der Welt weitergeht, wenn man nicht mehr da ist – also endgültig jeden Einfluss verloren hat –, betrifft nicht nur die eigenen Nachkommen,sondern das Schicksal kommender Generationen überhaupt.

Eine besondere, für Jüngere schwer nachvollziehbare Obsession mancher älterer Menschen drückt sich in der Klage darüber aus, dass die Welt nicht mehr so ist wie früher. Ehe man sich darüber lustig macht, sollte man sich daran erinnern, dass jeder von uns sich insgeheim ein System von Regeln und Vorstellungen darüber aneignet, was im Leben wichtig und gut ist, und worauf es ankommt. Mit diesem System richten wir uns ein, und wenn wir damit halbwegs zurecht kommen, möchten wir, dass es so bleibt. Die Welt aber ändert sich, und was heute gilt, wird irgendwann überholt sein – eben von gestern. Und so ist auch der Trost gefährdet, dass nach uns wenigstens die Welt so bleibt, wie wir sie kannten, wenn wir schon selber nicht mehr da sind. Daran schließt sich die Sorge an, die eigenen Kinder und Enkel könnten mit der Welt, die sich im alltäglichen Umfeld und in den Berichten

(20)

der Medien abzuzeichnen scheint, nicht mehr zurechtkommen, sie nicht mehr bewältigen. Zum Teil projizieren die Alten das Wissen um die eigene zunehmendeWehrlosigkeitaufdieJungen.DieaberkönnensichzumGlück gut behaupten und verstehen die Ängstlichkeit der Opas und Omas nicht.

Einige der am häufigsten genannten Sorgen liegen recht nahe. Was wird, wenn mein Partner krank wird oder stirbt? Was wird, wenn einer von uns so hilflos wird, dass er einen Pflegedienst benötigt oder gar ins Pflegeheim muss? Wie wird das den gewohnten Alltag verändern, wer bezahlt das und wovon? Wie werden sich die Kinder verhalten, wenn ich hilflos bin?

EineRollespieltfürSeniorinnenundSeniorendieAngstvorKriminalität.

Zwar sind die Älteren in der Kriminalstatistik als Opfer unterrepräsentiert und werden seltener angegriffen als etwa Jugendliche, das Gefühl jedoch, mankönne sich im Notfall nicht wehren, macht die Angst überdimensional.

AuchfürältereMenschenisteseinguterWeg,sichallenEinschränkungen zumTrotzaufdieKraftzubesinnen,dieeinemnochbleibt,unddieseKraft für andere Menschen einzusetzen oder für Ideen, die einem wichtig sind.

Zwar geben sich auch die Medien bei aller formalen Rücksicht doch immer wieder dem Spaß hin, die Alten unter dem Beifall des jüngeren Publikums zu verspotten. Respekt vor der Weisheit des Alters? Na ja, dann schon eher Spaß mit Alzheimer! Doch sollten sich die Älteren diesen Schuh nicht so rasch anziehen,sondern einmal darüber nachdenken, obsienicht wirklich etwaszubietenhaben,wieErfahrung,Geschichte(n)unddieoftgeradevon den Enkeln so geschätzte Distanz zu den Aufgeregtheiten der Macher.

Hier nun Interviewauszüge zum Thema „Sorgen“: Seniorin (Mitte 70) – Die Angst kommt erst noch

Bis jetzt sind die Seniorin und ihr Mann ja noch ganz gut zurecht und machen sich noch keine Gedanken über die Zukunft. Wenn sie aber an die Zukunft denkt und daran, dass sie mal allein sein könnte und sich dannselbernichtmehrhelfenkann,hatsieAngst,sichkeinPflegeheim leisten zu können, weil es zu teuer ist. Darüber macht sie sich schon Gedanken, aber so lange noch der Partner da ist, ist der Gedanke an das Alter noch nicht so bedrohlich. Noch hilft man sich ja gegenseitig.

(21)

Seniorin (Ende 60) – Sorge um die kommende Generation Heute macht die Seniorin sich viele Gedanken darüber, was so in ihrer Umgebung passiert. Zum Beispiel um Kinder, die in der Schule nicht klar kommen, und bei denen es nicht an der Intelligenz liegt, sondern amUmfeld,zumBeispielbeiRusslanddeutschenundAusländerkindern.

Manchmal möchte die Seniorin gerne Nachhilfe geben, was sie auch schon einmal für ein Nachbarkind gemacht hat. Dies hat ihr sehr viel Spaß gemacht, und wenn sie dann hört, wie viele Kinder allein gelassen werden, hat sie schon das Bedürfnis, zu helfen. Obwohl sie meint, dass man als Einzelner nicht viel tun könne. Besonders macht ihr Sorgen, dass die Kinder nicht genug Betreuung und Förderung bekommen und die jungen Frauen nicht klar kommen. Wenn sie Kinder haben, müssen sie fürchten, nicht wieder in den Beruf zu kommen, wenn sie jedoch im Beruf sind, haben sie niemanden, der sich um das Kind kümmert.

Seniorin (Anfang 90) – Wie wird es den Kindern gehen?

Wenn die Seniorin an die Zukunft denkt, hat sie für sich keine Angst.

Sie hat ja nichts mehr zu erwarten. Nur für die Kinder hat sie Angst, dass, wenn es so weiter geht mit der Umwelt, die Welt bald untergeht.

Seniorin (Mitte 70) – Die Alten am Rand der Gesellschaft

FürdieZukunftbefürchtetdieSeniorin,dassihresgleichenimmermehr an den Rand der Gesellschaft geraten, und dass die Senioren immer wenigerwahrgenommenwerden.Es gibtinderInnenstadt vonRheda keine Lebensmittelläden, aber Altersheime und viele alte Menschen.

Außerdem sollen jetzt noch die Postfilialen und die Sparkassenfilialen abgeschafft werden. Wo sollen dann die Senioren ihre Angelegenheiten erledigen? Für sich selber kann sie sich nicht vorstellen, mal von ihren Kindern gepflegt zu werden, weil sie erfahren hat, wie schwer das ist.

Sie stellt sich vor, sich dann Hilfe zu holen. Weil man dann nicht mehr indenUrlaubfährtwiejetzt,kannmandasGeldeben dafür verwenden.

(22)

Seniorin (Mitte 70) – Abends nicht mehr auf die Straße

WegendesLehrermangelsimZweitenWeltkriegistdieSeniorininihrer Jugend fast zwei Jahre gar nicht zur Schule gegangen. Statt dessen musste sie am Flugplatz Munition verpacken. In der Zeit ihrer Berufs- tätigkeit blieb ihr keine Zeit, sich um andere Dinge zu kümmern, weil sie fast jeden Abend Elternabende oder Fortbildungen oder Ähnliches hatte.NunhatsieZeit,trautsichaberabendskaumnochaufdieStraße, undwenndoch,nimmtsiekeineHandtaschemitundbefestigtihrGeld am Körper. Sie findet Gütersloh gefährlich und unsicher. Darum wäre es schön, auch vormittags Volkshochschulkurse besuchen zu können.

Seniorin (Mitte 70) – Kinder und Jugendliche besser schützen Die größte Sorge bereitet der Seniorin die Vorstellung, möglicherweise sehr pflegebedürftig zu werden. Große Sorgen macht sie sich auch um die Kinder und Jugendlichen. Sie meint, man dürfe nicht warten, bis KinderundJugendlicheinkritischeSituationengeraten,sondernmüsse schonimVorfeldMaßnahmenergreifen, damit es nicht so weit kommt.

Senior (Anfang 70) – Sorge um Kriminalität

ÜberseinAlterhatderSeniorsichnochnichtvieleGedankengemacht.

Vielleicht verdrängt er solche Gedanken ja auch, weil es ihm jetzt noch gut geht. Er hat ja Kinder, und wenn die nicht mehr helfen können, müssen er und seine Frau eben ins Altersheim. Aber er weiß nicht, wohin seine Kinder ihn abschieben. Außerdem kommt es darauf an, werübrigbleibt.DasBestewäresowieso:Umfallen,unddannwegsein.

Er macht sich Gedanken, ob die Kriminalität sich nicht erhöht. Dies geschieht schon durch die ausländischen Mitbürger. Es gibt viele, meist junge Menschen, die keine Arbeit bekommen, sogar hier wo er wohnt.

Es gibt Leute, die machen Einbrüche und Bandenkriege. Kein Arbeit- geber wäre bereit, solche Jugendliche einzustellen. Das liegt aber nicht nur an den Jugendlichen, sondern auch an deren Familien. Es ist schlimm, dass es hier, wo er wohnt, nur zwei Polizisten gibt, tagsüber.

(23)

Senior (Mitte 60) – Angst um die Sicherheit der Siedlung Die Sicherheit der Siedlung liegt dem Senior am Herzen. Deswegen hat er jetzt erst einmal einen Referenten von der Kripo besorgt, der einen Vortrag über die Sicherheit rund ums Haus hält. Die Leute haben viel Angst. In der Nachbarschaft passt man auf, wenn mal ein Fremder in der Gegend gesehen wird. Dann kriegtt es irgendjemand bestimmt mit.

Senior (Anfang 80) – Deutschland verliert die Eigenständigkeit Der Senior hat gehört, dass der Prozentsatz der Kinder von Deutschen bis zum Jahre 2030 sinken werde. Dann gebe es einen Vielvölkerstaat, undeineLagewiezurZeitaufdemBalkan,wodieethnischenGruppen sich bekämpfen. Außerdem müssten Deutsche dann Minderheitsrechte beantragen, das sei seine größte Sorge, und viele Leute, die er kennt, denken ähnlich. Für sein eigenes Alter hat er am meisten Angst, hilflos zu sein. Er muss dann wohl einen Pflegedienst in Anspruch nehmen.

Politisch stört ihn vieles, so zum Beispiel, dass bald alles von Brüssel bestimmtwerdenkönnteundDeutschlanddieEigenständigkeitverliert.

Die Sorgen um diese politischen Dinge beschäftigen ihn am meisten.

Senior (Mitte 70) – Sparsam sein und hoffen

Über die Zukunft hat der Senior mit seiner Frau und seiner Tochter gesprochen. Er hat ein Testament gemacht und hofft, noch möglichst lange mit seiner erheblich jüngeren Frau zusammenbleiben zu können.

Im Moment macht er sich keine besonderen Gedanken über das Alter.

Wenn beide allerdings krank werden, kann es schon sein, dass sie ins Altenheim gehen müssen. Dann kann es auch sein, dass sein Erspartes und das Häuschen dafür geopfert werden. So viel Geld kann man ja gar nicht gespart haben, dass man die hohen Kosten für ein Altenheim bezahlen könnte. Er ist immer sparsam gewesen und hat für Notfälle ein kleines finanzielles Polster angelegt. Er und seine Frau brauchen aber nicht mehr so viel. Für das Haus muss man immer wieder etwas anschaffen. Da muss man sparsam leben und das Geld gut einteilen.

(24)

Interessen

Zeitvertreib

Das Seniorenalter umfasst eine weite Altersspanne. Man hat versucht, diese wiederum aufzuteilen. Doch ist es an sich fragwürdig, Menschen nach ihrem kalendarischen Alter in Gruppen einzuteilen. Es gibt 60-Jährige, die in einem bejammernswerten Zustand sind und 80-Jährige, die noch sehr viel bewegen können, nicht nur sich selber.

Die angeborene Konstitution kann einen Menschen mit hervorragender Bewältigungsfähigkeit ausstatten, einen anderen aber schon bei gar nicht so großen Belastungen im Stich lassen. Das Schicksal wiederum kann einen Menschen wie ein Sonntagskind behandeln, den anderen aber beuteln und zermürben. In den späten Jahrzehnten des Lebens wirkt beides zusammen.

Das Ergebnis kann sein, dass man früh am Ende ist oder unverwüstlich.

Die Variationsbreite ist riesig.Das haben unsere Interviews deutlich gezeigt.

Aus mancherlei Gründen mustert man viele „Alte“ auf dem Arbeitsmarkt aus, bevor sie Senioren sind. Angeblich sind sie nicht mehr anpassungsfähig und formbar genug, auch zu anspruchsvoll. Dass sie Zeit hatten, zu lernen und Erfahrung zu sammeln, erkennt man nicht an. Wer „auf Rente“ geht, hat oft lange zuvor die Bindung an sein berufliches Tätigkeitsfeld gelockert.

Die Lust am Tun ist vielen Seniorinnen und Senioren nicht vergangen.

Einige der folgenden Beispiele zeigen dies eindrucksvoll. Man darf sich fragen, ob die Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit dieser Menschen wirklich nur auf eine Senioren-Spielwiese begrenzt und mit dem Tätschel- wort „rüstig“ qualifiziert werden sollte. Andere Beispiele wiederum lassen erkennen, dass die Betroffenen nicht mehr viel leisten können, aber noch ein wenig Anregung und hin und wieder einen Gesprächspartner brauchen.

Sport spielt manchmal eine Rolle. Gewöhnlich war die eigene aktive Zeit vielleicht mit Leistungs– und Wettkampfsport, nur kurz. Danach kam dann entweder das Herunterfahren des Leistungsniveaus bei weiterer Aktivität oder der Wechsel in die Rolle des passiven Mitglieds. Wo immer Senioren noch aktiv Sport treiben können, und sei es auf niedrigem Niveau, nutzt er ihnen in vielfältiger Weise als förderliche Anregung für Körper und Geist.

(25)

Seniorin (Mitte 70) – Alles im Lot

Bis 1965 hat die heutige Seniorin in einer Bäckerei gearbeitet, seitdem bezieht sie eine kleine Rente und kümmert sich in der Hauptsache um den Haushalt, der ihr genug zu tun gibt. Mit ihrem Mann lebt sie ein geordnetes Leben, in dem es feste Zeiten zum Aufstehen, Essen und Zu–Bett–Gehen gibt. Langeweile hatte sie nie. Wenn man zu zweit ist, ist Langeweile kein Problem. Sie liest auch gerne. Organisierte Freizeit, wie sie Institutionen oder Vereine anbieten, mag sie nicht. Vormittags erledigt sie den Haushalt, und sie hat auch sonst eine Menge zu tun.

Mittwochs und Samstags geht sie mit ihrem Mann zum Einkaufen in die Stadt. Sie sind beide gut zu Fuß, machen auch jeden Nachmittag lange Spaziergänge. Bis auf den Diabetes geht es ihr gesundheitlich gut.

Diesen hat sie nun im Griff, seitdem sie ihre Ernährung umgestellt hat und Tabletten nimmt, und sonst hat sie keine Gesundheitsprobleme.

Am Anfang, nach der Hochzeit, war es schwer, weil weder sie noch ihr Mann etwas besaß oder gespart hatte. Sie haben sich zuerst nicht viel leisten können. Jetzt kommen sie mit ihrer und der Rente ihres Mannes gut zurecht. Sie haben keine Schulden und können sich alles leisten, was sie möchten. Die Wohnung ist groß genug, und es ist immer noch ein Zimmer frei, wenn die Tochter kommt. Seit 27 Jahren fährt sie mit ihrem Mann in die gleiche Pension ins Zillertal, und dort entdecken sie die Gegend immer wieder neu, wenn auch nicht mehr so viel zu Fuß.

Sie hat nun ihre frühere Angst überwunden, einen Lift zu verwenden.

Seniorin (Ende 60) – Noch einmal neu angefangen

Weil der Haushalt und die anderen Aufgaben sie nicht so ausfüllten, hat sich die Seniorin nach ihrem Arbeitsleben gleich beim Telekolleg eingeschriebenundihrFachabiturgemacht,weilsieimmergernelernte.

Das hat ihr Spaß gemacht. Alle drei Wochen gab es ein Blockseminar, und dort wurden Klausuren geschrieben. Ein Lehrer machte sie darauf aufmerksam, dass man so auch das vollständige Abitur machen könne.

Sie solle mal nicht so schüchtern und ängstlich sein und es sich ruhig zutrauen. Das hat sie getan, und sie ist von den zuständigen Lehrern

(26)

begleitet worden. Nach etlichen Jahren hat sie die Prüfung gemacht.

Sie hat einfach weiter gemacht und dann auch an der Fernuniversität ein Studium aufgenommen: Soziologie. Ihr Mann findet dies sehr gut, und sie macht es so, dass sie ihn zeitlich damit nicht stört. Nur wenn sie nichts zu tun hat, ist ihr langweilig. Die Nachbarn allerdings dürfen nichts von ihrem Abitur und dem Studium wissen. Sie hat ihnen bis jetzt nichts davon erzählt, weil sie fürchtet, dann nicht mehr integriert zu sein, und weil sie auch sonst nicht weiß, wie die Nachbarn darauf reagieren würden. Die Nachbarn könnten denken, mit ihr könne man nicht mehr reden. Sie sei aber doch nach wie vor eine von ihnen, weil in einem wissenschaftlichen Studium auch viel Blödsinn gelehrt werde.

Oft seien es überholte Sachen, die man dort lernt. Gut aber ist, dass sie inihrerEhenunmehrGesprächsstoffhatundneueImpulsebekommt.

Es gehe in der Ehe ja nicht nur um das Aufwaschen. Ihr Mann und sie sind im Turnverein. Dort machen sie zusammen mit Nachbarn Spiele und Gymnastik. Sie haben eine Fahrgemeinschaft. Außerdem gehen sie mit Bekannten zweimal im Monat zum Kegeln. Sie sind im Turnverein vielfach engagiert und helfen beim Fechten, die Kasse zu prüfen oder ein Kuchenbuffet zu organisieren. Sie haben sich vorgenommen, jedes Jahr eine andere Stadt zu besichtigen. Bis jetzt fährt sie jedes Jahr mit ihrem Mann zur Nordsee. Demnächst wollen sie Nürnberg, Prag und Dresdensehen.SiebesuchenregelmäßigihreKinder.NächstenMontag hat die Familie zum ersten Geburtstag des Enkels ein Familientreffen.

Seniorin (Anfang 60) – Eine Seniorin sorgt für alte Menschen Für die Seniorin ist ihr Hobby und größtes Anliegen die Arbeit mit alten Menschen, für die sie unentgeltlich Kurse in Gymnastik, Wasser- gymnastik und Yoga gibt. Ihr Seniorenkreis ist mittlerweile auf etwa hundert Personen angewachsen. Auf sie hat die Probandin ihr ganzes Leben ausgerichtet, es ist ihr ein großes Anliegen und eine Freude, sich fürihreSenioreninallenLebensbereichenzuengagieren,dazugehören Aktivitäten aller Art, von der Freizeitbeschäftigung bis zur Begleitung bei Krankheit und Sterben. Einmal im Jahr fährt sie eine Woche lang mit zu einer Seniorenfreizeit, bei der Organisation dieser Freizeiten legt

(27)

sie Wert darauf, dass diese auch in ihrem Sinne ablaufen, deshalb bereitet sie selber viel vor. Besonders weil sie weiß, wieviel alte Leute im Leben ertragen und durchmachen mussten, ist es ihr ein Bedürfnis, etwas für sie zu tun und ihnen ihren Lebensabend schöner zu machen, auch weil sie ihren, sich um Menschen zu kümmern, bei den eigenen Kindern nicht mehr ausleben kann. Da hat sie gelernt loszulassen, und sie meint, dass ihre Kinder auch darum immer gerne wiederkommen.

Seniorin (Mitte 70) – Lernlust

Sonntags trifft sich die Seniorin oft noch mit ihren alten Kolleginnen aus dem Kindergarten zu Kaffee und Kuchen, und manchmal besucht sie auch Vorträge oder Lesungen, die ein Gütersloher Buchhändler seit langen Jahren organisiert. Früher hat sie auch gerne an Ausflügen teil- genommen, die von der Volkshochschule organisiert wurden und zum Beispiel ins Münsterland führten, wo man Burgen sehen kann. Es gab auch andere historische Ziele. Darauf bereitete sie sich durch Bücher und das Hören von Vorträgen vor. Wegen ihrer Gehbehinderung kann sie diese Ausflüge heute nicht mehr machen, sie würde die anderen Teilnehmer dadurch nur behindern. Sie bedauert sehr, dass sie wegen der Kriegswirren ihrer Schulzeit – damals fehlten die Lehrer – nur eine eingeschränkteSchulbildunghat.DeshalbfreutüberalleGelegenheiten, etwas davon heute nachzuholen, zum Beispiel in Französischkursen.

Senior (Anfang 70) – Auf nach London!

Auf seine Gesundheit achtet der Senior sehr. Jeden Tag trainiert er auf dem Trimmrad und mehrmals geht er mit dem Hund, einem Boxer, raus. Außer einer Hüftgelenkoperation, die er vor einigen Jahren hatte, und die ihn beeinträchtigt, ist er gesund. Seine Frau hatte vor kurzen auch eine Hüftgelenkoperation. Deswegen haben sie mit dem Tennis- spielen aufgehört. Er ist Sänger und organisiert als Geschäftsführer eines Chors Reisen, die nächste nach London. Als er einmal Englisch sprechen musste, hat er als Rentner Volkshochschulkurse in Englisch

(28)

genommen. Da er als Einziger in seinem Chor Englisch spricht, hat er 17 Mitglieder des Chors motiviert, jetzt auch Englisch zu lernen, und zwar regelmäßig bei ihm zu Hause, wo er eine Lehrerin engagiert hat.

Außerdem ist er seit langen Jahren Kegelvater in seinem Kegelverein.

Seit zwei Jahren hat er auch einen Computer, und da er seit einigen Jahren seine Lebensgeschichte schreibt, hat er Spaß daran. Schreiben macht ihm sowieso Spaß, wohl weil sein Vater bei der Zeitung war.

Einmal hat er für eine Heimatzeitung etwas über die Geschehnisse in der Reichskristallnacht geschrieben, die er hautnah mitbekommen hat.

Senior (Anfang 70) – Sport als Lebensprinzip

In der Freizeit nimmt der Hund, ein riesiger Bernhardiner, den Senior und seine Frau in Anspruch. Da sie mehrmals am Tag mit ihm raus müssen, teilen sie sich die Arbeit. Morgens und abends geht der Mann mit dem Hund, mittags und nachmittags seine Frau. Außerdem sieht er sich in seiner Freizeit gerne Kirchen an. Trotzdem ist er nicht religiös.

Es fehlt ihm dadurch nichts. Sein Leben lang har er Sport getrieben, früher Boxen und Ringen sowie Gewichtheben. Mit 38 Jahren har er das Sportabzeichen gemacht, das er bis heute jedes Jahr wiederholt.

1964 hat er eine Laufgruppe mitgegründet, die nun 100 Mitglieder hat.

Er hat dann angefangen, Marathon zu laufen. Das macht ihm heute noch Spaß. Es geht ihm dabei so richtig gut. Seine alten Sportarten betreibt er nicht mehr. Er achtet sehr auf seine Gesundheit, raucht nicht, isst wenig Fleisch und viel Gemüse. Ein Schnäpschen erlaubt er sich allerdings schon mal. Auch Politik interessiert ihn. Früher fuhr er Motorrad, und im Sommer macht er Reisen mit seinem Wohnmobil.

Senior (Anfang 80) – Mal etwas Neues hören

Bis vor fünf Jahren war der Senior Kassenwart im Schützenverein, mit seiner Frau zusammen war er auch schon einmal König und Königin, das war schon etwas Besonderes. Im Schützenverein kennt er immer noch alle Leute und kommt gut mit ihnen aus. In der Nachbarschaft

(29)

versteht man sich gut, zu Namens- oder Geburtstagen besucht man sich gegenseitig und kümmert sich auch, wenn mal jemand krank ist.

Vom Kolpingverein aus fährt das Paar jedes Jahr zu einem Seminar nach Soest, immer zu einem anderen Thema, dieses Jahr ging es um das Thema: „Gemeinsam einsam.“ Das trifft für sie beide ja nicht zu, aber interessant war es schon, da gab es einen Vortrag über die Arbeit der Telefonseelsorge, davon hatten sie vorher keine Ahnung. Einen Grund dafür, solche Seminare zu besuchen, haben die beiden Eheleute nicht, sie nehmen regelmäßig daran teil, um mal etwas Neues zu hören.

Senior (Anfang 80) – Immer etwas zu tun

Bis vor zehn Jahren hat der heutige Senior sein Geschäft geführt, und er war schon siebzig Jahre alt, als er aufhörte zu arbeiten. Eher hätte er nicht aufhören können, weil er es gewohnt ist, viel zu arbeiten und dies gerne tut. Noch heute kümmert er sich um das ehemalige Geschäfts- haus und um das große Grundstück, und ebenso um das Haus, in dem er und seine Frau jetzt wohnen und welches er selbst geplant und ohne Architekt gebaut hat. Die Arbeit an den beiden Häusern macht ihm viel Freude und ist heute sein Lebensinhalt, er hat immer etwas zu tun.

Senior (Mitte 60) – Der Helfer

Das Rentendasein bezeichnet der Senior als Unruhestand, weil er sich seit seiner Frühberentung stark engagiert. Er ist Vereinsvorsitzender.

Diese Funktion füllt ihn aus. Damit ist er den ganzen Tag beschäftigt.

Er nutzt die Funktion für vielfältige soziale Aktivitäten. Er organisiert zum Beispiel jedes Jahr einen großen, neun Tage dauernden Trödel- markt, einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt und mehr. Der Erlös kommt jeweils Kindern in Not zugute. Im letzten Jahr konnten durch diese Aktivitäten fast 50 000 Euro erwirtschaftet werden. Diese Gelder werden für die Wohnstätten von Behinderten verwendet. Es werden auch noch einige Missionsstationen unterstützt. Das sind meistens Stationen in Afrika, die bekommen Geld für neue Schuldächer oder

(30)

Ähnliches, aber auch nach Indien fließen Hilfsgelder. Durch diese Arbeit ergeben sich für ihn noch andere gesellschaftliche Aktivitäten.

So organisiert er schon seit Jahren Busreisen für die Mitglieder, die in alle europäischen Länder führen. Weil er selber starksehbehindertist, haterdamitangefangen,BrillenfürdiedritteWelt zu sammeln. Er hat in Arztpraxen, Kirchen und Apotheken und an ähnlichen Orten Behälter zum Sammeln der Brillen aufgestellt. Bis jetzt hat er schon 24 000 Brillen gesammelt. Da die Portokosten für ihn allmählich zu hoch werden, übernehmen die AOK und der Lion Club diese Kosten.

Manchmal schickt er auch Container mit Hilfsmitteln nach Indien.

Damit die Öffentlichkeit auch richtig informiert wird, legt er Wert auf Bildberichterstattung in der lokalen Presse, weil Bilder immer mehr bringen als Worte. Er glaubt, es sei die Öffentlichkeitsarbeit gewesen, die etwa 10 000 Leute zum Basarbesuch animiert habe. Darüber und über die Einnahmen, die dort erzielt werden können, freut er sich sehr.

Mit seinem sozialen Engagement ist er von morgens bis abends ganz ausgefüllt. Da er wegen seiner Augen nicht mehr Auto fahren darf, macht er alle Wege mit dem Fahrrad. Nur manchmal fährt ihn seine Frau, seine Tochter oder ein Vereinskamerad. Jetzt gerade muss er zu einer alten Frau, die in einem betreuten Altenwohnheim gelebt hat, jetzt jedoch pflegebedürftig geworden ist und in ein Pflegeheim muss.

Er hilft, wo es nötig ist. Die Leute rufen ihn notfalls an. Er findet solche Hilfe für alte Leute wichtig, weil alte Leute ja ihre Ordnung brauchen und ihre Sachen immer in den gleichen Schubladen finden wollen. Er geht nicht allein in eine solche Wohnung, sondern sichert sich ab und holt sich eine Betreuerin dazu. Alles kann er auch nicht allein machen, darum versucht er, viele andere Leute zu motivieren.

Senior (Anfang 80) – Bewegung muss sein

Bewegung verschafft sich der Senior durch seinen Heimtrainer und durch Wanderungen. Wegen der Arthrose der Ehefrau geht er allein.

Er hat vor einigen Jahren eine Herzoperation mit vier Bypässen gehabt und leidet unter hohem Blutdruck. Im Moment geht es ihm aber gut.

Er darf sich nur nicht sehr belasten, vor allen Dingen nicht nervlich.

(31)

Seniorin (Mitte 70) – Ehrenamtliche Hilfe für Hochbetagte Als die Seniorin in ihre Heimatgemeinde zurückgekehrt war, hat man sie gebeten, einem Besucherkreis beizutreten, der sich um sehr alte, allein stehende Menschen kümmert. Sie selber betreut ehrenamtlich zwei über 90-jährige alte Damen. Sie begleitet sie zum Arzt, unterhält sich mit ihnen, geht gelegentlich mit ihnen spazieren und erledigt auch Einkäufe für sie. Die soziale Arbeit ist ihr immer sehr wichtig gewesen.

Senior (Ende 60) – Nicht in der Kneipe

Für den Senior ist es sehr wichtig, sich zu beschäftigen, um noch etwas zu tun zu haben, denn er sieht bei vielen anderen, die nichts zu tun haben,dasssieschonmorgensinderKneipesind.VonsolchenLeuten hält er sich fern und will mit ihnen nichts gemein haben. Traurig ist er, dass sich die Nachbarschaft inzwischen so verändert hat, es wohnen gar keine älteren Leute mehr dort, rundherum wohnen fast nur junge, mit denen er keinen Kontakt mehr hat, man grüßt sich, und das war es.

Senior (Mitte 70) – Nützliche Tätigkeiten

Im Seniorenbeirat sind die Interessen der Senioren ein großes Anliegen für den Interviewpartner. Deswegen will er sich auch dafür einsetzen, dass in Gemeinden, in denen es bisher noch keine Seniorenbeiräte gibt, ebendiesegewähltwerden.ErbetrachtetdieSeniorenbeirätealsMittler zwischen Politikern und Senioren. Er organisiert auch Sommerfeste für die Senioren, zu denen die Stadt Zuschüsse gibt. Die Frauen backen zu diesen Gelegenheiten Kuchen, und es gibt auch kleine Aufführungen oder Musikdarbietungen, die von den Teilnehmern selber inszeniert und eingeübt werden. Außerdem organisiert der Interviewpartner mit HelfernzusammenTheaterfahrtennachGütersloh,diesehrbeliebtsind.

Wenn er im Ortsteil Mängel entdeckt, wie defekte Straßenlampen oder Bordsteinkanten, sorgt er hartnäckig dafür, dass sie beseitigt werden.

Dafür verwendet er viel Zeit, und er hat damit auch schon viel erreicht.

(32)

Erinnerungen

Viele alte Menschen haben Geschichten zu erzählen, die kaum Zuhörer finden. Ihnen sind Dinge widerfahren, die es wert wären, in einem Roman festgehaltenzuwerden,unddennocherscheinensieheuteniemandemmehr wichtig, obwohl sie doch damals so abenteuerlich, so schwer zu ertragen oder so gefährlich waren. Das Erlebte gehörte für sie zum Aufregendsten überhaupt, trotzdem sind die historischen Ereignisse und Verwicklungen, in die es eingebettet war, lange vorbei und vergessen. Nichts davon ist mehr wichtig, aber die alten Zeitzeugen erzählen es immer wieder.

Würde man sich wirklich auf das einlassen, was die alten Menschen erlebt oder erlitten haben, müsste man großen Respekt vor ihrer Bewältigungs- fähigkeit haben,Bewunderung dafür, dass sie damit zurechtgekommen sind.

Denn was wir heute als das Wichtigste auf der Welt erleben, von dem sindinwenigenJahrzehntenvielleichtnurverstreuteSpurenübriggeblieben, und wenn sie verblasst sind, ist es gar nicht mehr wahr, nie wahr gewesen.

Mit den Spuren der Vergangenheit verschwindet die Vergangenheit selber ausderExistenz.AndereDingesinddannwichtig.Zudem,wasirgendwann nicht mehr wahr ist, gehört man selber. Die Zeit frisst alles auf.

Sehr schön hat Gottfried BENN diesem traurig stimmenden Phänomen in seinem Gedicht „Trunkene Fluten“ Ausdruck gegeben (BENN 1949), dessenEndelautet: „Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergeh’n.“

Vielleichtistesdennochsinnvoll,denGeschichtenvonfrüherzuzuhören, wenigstens einmal, auch wenn sie immer wieder erzählt werden, als würde die Schlacht von Stalingrad immer wieder neu geschlagen, als seien Nieren- tische und Tütenlampen noch immer modern und als würde die Popmusik noch immer von Elvis Presley dominiert. Dann können wir verstehen, was diese Menschen geprägt hat und wie die heutige Welt aus ihrem Blickpunkt aussehen muss, und wir können einen Eindruck davon bekommen, dass Alt–Werden auch heißt, vom Leben zermürbt zu werden. Vielleicht können wir auch etwas daraus lernen, denn wer sagt denn, dass sich die Ereignisse nicht in dieser oder jener Form wiederholen. Und vielleicht lernen wir auch, die Wichtigkeiten von heute aus der Distanz zu sehen, sie zu relativieren,

Und hier eine Quizfrage für Heutige: Was waren Lebensmittelkarten?

(33)

Seniorin (Mitte 70) – Vertrieben

Die Interviewpartnerin wurde 1946 mit ihrer Familie aus Schlesien vertrieben. Sie mussten alles aufgeben, und dies war die schlimmste ErfahrunginihremLeben.Esistihrsehrschwergefallen.Dafürbekam sie keinerlei Entschädigung. Sie ist froh, dass niemand aus ihrer Familie in dieser schweren Zeit abgerutscht ist, und dass alle es psychisch gut verkraftet haben. Ansonsten hat sie ihr Leben lang ihr Gleichgewicht behalten, sie ist weder depressiv geworden, noch körperlich krank.

Seniorin (Anfang 60) – Ein entbehrungsreiches Leben

Mit vier Jahren hat die Interviewpartnerin in Russland eine schwere entzündliche Hauterkrankung bekommen. Als Folge davon ist sie jetzt auf einem Auge blind. Sie hat als Kind sehr viel hungern müssen, und als sie zur Schule gehen sollte, war sie so dünn und schwach, dass sie nicht dorthin laufen konnte. So ist sie zu Hause geblieben und hat nie lesen und schreiben gelernt. Mit zwölf Jahren war sie so weit genesen, dass sie mit der Arbeit beginnen konnte. Sie hat 32 Jahre lang Getreide von einem Silo in Eisenbahnwaggons geschaufelt, 12 Stunden am Tag.

Dies war eine schwere Arbeit, die sie in den letzten Jahren vor ihrer Übersiedlungleistenmusste.SiehatgehungertundimmermehrWasser in den Beinen bekommen. Als sie vor 10 Jahren zusammen mit ihrer Mutter nach Deutschland übersiedelte, war sie wieder sehr krank. Ihre Füße waren nur noch dicke Klumpen. Sie wurde in Deutschland sehr freundlich aufgenommen und konnte sofort eine kleine Invalidenrente beziehen.AuchihreMutterbekameineRente.Beidekonnten gut leben.

Seniorin (Mitte 70) – Odyssee im Osten

Die Interviewpartnerin ist in Schlesien geboren, von wo sie 1944 mit ihrer Mutter von den Russen vertrieben wurde. Sie sind dann zu Fuß, mit einem Fahrrad, bei –20°C bis Dresden gekommen. Dort hat sie dann in Kellern und Bunkern die Bombardierung Dresdens erlebt, sie hat gehungert und gefroren. Auf der Flucht hat sie große Angst vor

(34)

den Russen gehabt und sich zusammen mit ihrer Mutter unter Strohballen versteckt, damit sie kein Russe findet. Einmal ist sie von einem Russen angesprochen worden, der ihre Adresse haben wollte.

Sie ist vor Angst fast gestorben und hat ihm aus lauter Not irgendeine Adresse gegeben, die sie aus der Luft gegriffen hat. Sie hofft, dass keine andere Frau zu Schaden gekommen ist. Nach dem Krieg hat sie längere Zeit in einem kleineren Ort in Sachsen gelebt, wo die Familie – der Vater als Heimkehrer aus dem Krieg – zusammen mit anderen Familien in einer Schule einquartiert war. Sie sind damals arm gewesen und haben weiter gehungert und gefroren. Weil sie keine Aufenthalts- erlaubnis hatten, bekamen sie auch keine Lebensmittelkarten. Heute schämt sie sich nicht, zuzugeben, dass sie Äpfel von den Bäumen und KohlvomAckergestohlenhat.DenKohlhabensieinWassergekocht.

Mehr hatten sie nicht. Aus Dresden ist sie nach dem Krieg wieder vertrieben worden, wieder zurück in die Heimat, wo die Russen waren.

Nur vierzehn Tage hat sie dann in ihrem Elternhaus bleiben können und ist dann ins polnische Gefängnis nach Hindenburg eingeliefert worden. Da war es sehr schlimm, aber die Polen haben sie wenigstens nicht angefasst. Sie war etwa fünf Wochen fort und kam dann in ein Lager, wo es noch schlimmer war. Aus dem Männerlager hat sie jede Nacht Schreie gehört, und sie hat noch mehr gehungert. Die Schreie hört sie heute oft noch nachts im Schlaf, im Traum. Im Herbst 1946 ist sie unter Maschinengewehrbewachung im Viehwagen bis nach Kottbus transportiert worden. Dort waren auf einmal keine Polen mehr, und alle standen hilflos da, wussten nicht wohin. Alle liefen nur Richtung Westen.DieInterviewpartnerinistmitihrerMuttervonFlüchtlingslager zu Flüchtlingslager gezogen, bis sie in Thüringen eine Aufenthalts- genehmigung bekamen, und das bedeutete, endlich Lebensmittelkarten zu erhalten und nicht mehr zu hungern. Sie besaßen aber trotzdem noch nichts. Hatten nur das, was sie an Kleidung bei der Einlieferung ins Gefängnis trugen, und das war für sie nur ein Dirndlkleid, und es wurde Winter. Da sind sie dann betteln gegangen. Sie hatten ja nicht einmal etwas zum Tauschen. Kurz bevor die DDR-Grenze gebaut wurde, hat der Vater, der sie in Thüringen wiedergefunden hatte, dann einen Fluchtweg gefunden und die Familie über die Grenze gebracht.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Eingeladen sind Seniorinnen und Senioren aus Mundenheim, Besucherinnen und Besucher des Seniorentreffs "Mundenheim Aktiv" sowie Bewohnerinnen und Bewohner des

Die Seniorenförderung der Stadt Ludwigshafen lädt anlässlich der Ruchheimer Kerwe zu einem unterhaltsamen Nachmittag für Seniorinnen und Senioren am Montag, 18. Zum Kerwe-Montag

Ein Hort des Optimismus auch in Krisenzeiten, wo sich jeder Bettler auf dem Pflaster für einen Global Player und jeder Girlandenverkäufer für einen kommenden Bollywoodstar

Rote Blutkörperchen können sich auch von alleine bewegen – vorausgesetzt, sie haben genug Zeit, selbst aktiv zu werden, bevor schnellere Moleküle sie treffen und

«Als grösste Fachorganisation für alle Altersfragen setzen wir uns dafür ein, dass Menschen, die sich besonders vor einer Ansteckung mit COVID-19 schützen müssen, auch beim Zugang

Aber auch wenn es nur ein Zimmer ist: Jedes Zimmer sollte heute nicht nur über eine eigene Toilette und einer Dusche verfügen, sondern in Zukunft auch über eine eigene Teeküche..

Allerdings gibt es Ausnahmen: Befreit sind von der Pflicht Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres sowie Menschen, für die das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes wegen

Zu einer Fasnachtssitzung mit der Karnevalsgesellschaft "Farweschlucker" lädt der Bereich Senioren, Abteilung Seniorenförderung, der Stadt Ludwigshafen alle älteren