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Globalisierte Geologie

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Georg Fischer, Dr. phil., ist Assistant Professor für Brasilienstudien am Institut für Globale Studien an der Universität Aarhus.

Band 30

Herausgegeben von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Margrit Pernau

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Georg Fischer

Globalisierte Geologie

Eine Wissensgeschichte des Eisenerzes in Brasilien (1876–1914)

Campus Verlag

Frankfurt/New York

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Zugleich Dissertation Freie Universität Berlin 2015 ISBN 978-3-593-50815-3 Print

ISBN 978-3-593-43746-0 E-Book (PDF)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Copyright © 2017 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln

Umschlagmotiv: Der Gipfel des »Eisenbergs« Cauê hinter der Stadt Itabira do Mato Dentro im Bundesstaat Minas Gerais (Brasilien) © Harder, Edmund C./Chamberlin, Rollin T., »The Geology of Central Minas Gerais, Brazil. Part I«, The Journal of Geology, Jg. 23, H. 4 (1915), S. 387 Gesetzt aus der Garamond

Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH Printed in Germany

www.campus.de

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Inhalt

1. Einleitung: Die Globalisierung des Wissens über Natur ... 7

1.1. Das brasilianische Eisenzeitalter ... 7

1.2. Geschichtsschreibung und stumme Materie ... 15

1.3. Stoffe, die nicht »einfach da« sind ... 18

1.4. Globale Wissenschaftsgeschichte, Wissensgeschichte und Expertentum ... 21

1.5. Vorschau: Verwobene Maßstabsebenen ... 34

2. Internationale Geologie zwischen Wissenschaft und Anwendung... 39

2.1. Eisen und Stahl als Symbole der Moderne ... 45

2.2. Industrialisierung und Rohstoffnachfrage ... 47

2.3. Die Internationalisierung der Geologie ... 52

2.4. Die Globalisierung der praktischen Geologie ... 63

2.5. Globale Rohstoffinventur: Der Stockholmer Eisenerzbericht ... 84

2.6. Fazit ... 93

3. Geologie, Staat und Wirtschaft in Brasilien, 1876–1914 ... 98

3.1. Region, Nation und Wirtschaftspolitik im späten Kaiserreich und in der frühen Republik ... 101

3.2. Die Ingenieurs- und Bergbauschulen... 105

3.3. Die ersten geographischen und geologischen Kommissionen ... 110

3.4. Internationale Ausstellungen ... 122

3.5. Expertenwissen und Bergrecht ... 128

3.6. Kritik des »pedantischen Szientismus« ... 134

3.7. Eisenerz und internationale Öffentlichkeit ... 140

3.8. Nationales Expertentum und brasilianische Industriepolitik... 145

3.9. Fazit ... 163

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4. Transatlantische Wissenszirkulationen: Investoren, Expertise

und der Staat, 1910–1914 ... 165

4.1. Netzwerkbildung: Barings und die Brazilian Iron and Steel ... 171

4.2. Netzwerkkonsolidierung: Expertenhabitus, Referenzen und Repräsentation ... 178

4.3. Netzwerkverknüpfung: Expertenwissen und die Artikulation britisch-amerikanischer Geschäftsinteressen ... 190

4.4. Eisennarrative: Cecil Baring in Brasilien ... 212

4.5. Fazit ... 225

5. Verselbstständigung des Expertentums im Gelände: Der Eisenwettlauf in Minas Gerais, 1908–1914 ... 228

5.1. Aggressive Amateure ... 233

5.2. Autonome Agenten ... 238

5.3. Konkurrierende Sachwalter ... 248

5.4. Übersetzungsprobleme: Die Wisconsin-Schule zwischen Wissenschaft, Markt und Staat ... 261

5.5. Die brasilianische Wahrnehmung ausländischer Prospektoren ... 273

5.6. Fazit ... 276

6. Schluss: Globalgeschichte des Industrialisierungswissens... 280

Abkürzungsverzeichnis ... 292

Quellen und Literatur ... 293

Dank ... 327

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1. Einleitung: Die Globalisierung des Wissens über Natur

1.1. Das brasilianische Eisenzeitalter

Vor ungefähr 3,5 Milliarden Jahren setzte im Ozean des Archaikums ein neuer chemischer Prozess ein. Das Eisen, das durch submarine vulkani- sche Aktivität in großen Mengen im Wasser gelöst war, reagierte mit dem von Mikroalgen produzierten Sauerstoff. Es bildete Eisenoxidverbindun- gen, fällte aus und lagerte sich in gelartigen Sedimenten am Grund des Ozeans ab. Dieser Prozess dauerte fast zwei Milliarden Jahre an, Zwi- schenschichten aus Kalk, Quarz und Kieselsäuregestein bildeten sich und trugen zur gebänderten Form der entstehenden Eisenformationen bei.

Dann stoppte der Prozess. Das Eisen im Ozean war ausgefällt, und immer mehr Sauerstoff konnte in die Atmosphäre entweichen. Alle Bändererze der Welt stammen aus dieser Phase des Präkambriums und wurden in den nächsten Jahrmilliarden in ihrer Form, ihrem Gehalt und ihren Beziehun- gen zu Nachbargesteinen durch Metamorphose, Verwitterung, Anreiche- rung und zahlreiche andere Prozesse verändert. Alle großen Eisen- formationen Australiens, Nord- und Südamerikas, Afrikas und Eurasiens sind in demselben Zeitraum durch dieselben metallogenetischen Prozesse entstanden. So weiß man heute.1

Sucht man den Begriff »Bändererz« in einem aktuellen geologischen Wörterbuch, findet man einen Querverweis auf »Itabirit«, ein »festes, massiges bis dünnbankiges, präkambrisches Eisenerz (ca. 68 Prozent Fe)«.

Der Itabirit und ähnliche Bändererztypen in anderen Weltregionen »zeich- nen sich oft durch große Mächtigkeit und weite Ausdehnung aus«.2 Der Itabirit wurde 1822 von dem Bergingenieur Wilhelm von Eschwege nach einem Ort in der brasilianischen Provinz Minas Gerais benannt. Neben der mineralogischen Beschreibung seiner Bestandteile »Eisenglimmer, Eisen-

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1 Vgl. Klein, Some Precambrian; Risjord, Shining Big Sea Water, S. 4.

2 Geologisches Wörterbuch, S. 82.

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glanz, meist dichter, auch blättriger, hin und wieder magnetischer Eisen- stein und wenig Quarz«3 findet sich in Eschweges Geognostischem Gemälde von Brasilien die kleingedruckte Anmerkung: »Aus diesem ungemein großen Vorkommen des Eisensteins, kann man mit Gewissheit folgern, daß, so lange die Welt besteht, von hier aus sie mit Eisen versorgt werden kann.«4 So begegnet uns das brasilianische Eisenerz 3,5 Milliarden Jahre später: der Itabirit als weltweiter Repräsentant von Sedimenterzen, Ausgangsgestein massiver Hämatitlagerstätten aus chemisch nahezu purem Eisenoxid mit bis zu 70 Prozent Fe-Gehalt, die Berge von Minas Gerais als unerschöpfli- che Eisenquelle für die Welt bis an deren Ende und eine proterozoische Ablagerung, die sich tief in die brasilianische Moderne des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat.

Die Geschichte Brasiliens wird oft als Abfolge von Produktzyklen er- zählt. Zucker, Gold, Kaffee sind die Hauptzyklen, Tabak oder Kautschuk kommen als sekundäre Zyklen hinzu. Besonders markant brachte der marxistische Wirtschaftshistoriker Caio Prado Júnior diese Interpretations- linie auf den Punkt:

»Wenn wir auf die Essenz unserer Entstehung blicken, sehen wir, dass wir uns in Wirklichkeit einzig zum Zwecke der Belieferung des europäischen Handels mit Zucker, Tabak und anderen Produkten konstituiert haben; später mit Gold und Diamanten; danach mit Baumwolle, gefolgt von Kaffee. Das ist alles.«5

Eine ähnliche Interpretation findet sich in dem fast zeitgleich erschienenen Werk des österreichischen Emigranten Stefan Zweig. Er wähnte das Land in den frühen 1940er Jahren an der Schwelle eines neuen Zyklus, des Eisenzyklus: »Noch wissen wir die Lage der Städte kaum, die der nächste Umschwung, die Erzgewinnung, […] zu plötzlichem Wachstum bringen wird.«6 Auch wenn die Periodisierung nach Produktzyklen als zu homo- genisierend und deterministisch kritisiert worden ist, hat sich Zweigs Vorahnung, was das Eisen angeht, bewahrheitet.7

Eisenerz ist im heutigen Brasilien ein wichtiger, aber im öffentlichen Bewusstsein wenig präsenter Rohstoff. In dem Land wurden 2012 knapp über 400 Millionen Tonnen Eisenerz gefördert. Brasilien produzierte 13

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3 Eschwege, Geognostisches Gemälde, S. 28.

4 Ebd., S. 30.

5 Prado Júnior, Formação do Brasil I, S. 25–26.

6 Zweig, Brasilien, S. 88.

7 Zur Kritik am Zyklenbegriff vgl. etwa Duarte, Por um pensamento ambiental, S. 149–

150.

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Prozent des weltweit gehandelten Eisenerzes und nahm damit hinter China und Australien den dritten Platz weltweit ein.8 Zwischen 1997 und 2012 hat sich der Eisenerzexport mehr als verdoppelt.9 2012 lag der Anteil des Eisenerzes an den brasilianischen Gesamtexporten mit rund 13 Prozent vor Öl und Soja an erster Stelle.10 Sein Anteil am Wert der gesamten mineralischen Rohstoffproduktion Brasiliens, die noch 50 weitere Minera- lien umfasst, lag 2010 bei ungefähr 50 Prozent.11 Im gleichen Jahr machte das Eisenerz knapp 82 Prozent der exportierten Bergbauprodukte aus.12 Allein die beiden Erzverladehäfen Tubarão in Vitória im Bundesstaat Espírito Santo und Ponta da Madeira in São Luís im Bundesstaat Maranhão, die durch den weltweit größten Eisenerzproduzenten, den brasilianischen Konzern Vale, betrieben werden, wickelten im Jahr 2011 knapp ein Viertel des gesamten maritimen Frachtumschlags Brasiliens ab.13

Der Eisenerzabbau im großen Maßstab begann im Jahr 1942 mit der Gründung der staatlichen Companhia Vale do Rio Doce (CVRD). Im Zeichen des Zweiten Weltkriegs, an dem Brasilien mit Kampftruppen und als Ressourcenlieferant auf Seiten der Alliierten teilnahm, traf die brasili- anische Regierung eine weit reichende rohstoffpolitische Entscheidung:

Unverhüttetes, unbehandeltes Eisenerz wurde erstmals ohne Rücksicht auf seine Endlichkeit als Exportgut behandelt und die Frage nach seiner Nutzung von industriepolitischen Erwägungen abgekoppelt. Gleichzeitig errichtete man mithilfe amerikanischer Kredite das Stahlwerk der staatlichen Companhia Siderúrgica Nacional (CSN) in Volta Redonda im Bundesstaat Rio de Janeiro.14 Eine Jahrzehnte währende Debatte, in der die mineralischen Rohstoffe des Landes stets mit nationalen Industrialisie- rungsbemühungen in Verbindung gebracht und immer wieder Ängste vor imperialistischer Landnahme durch die nordatlantischen Industrienationen geschürt worden waren, war plötzlich beendet. Den Erzexport, der anfangs noch als eine Notwendigkeit in Zeiten des Krieges gegen die Tyrannei

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8 British Geological Survey, World Mineral Production, S. 56–57.

9 Ebd. und British Geological Survey, South America Mineral Production, S. 4.

10 Vgl. World Trade Organization, Trade Policy Review.

11 Vgl. Departamento Nacional de Produção Mineral, Anuário Mineral Brasileiro, Parte I – Estatística Brasil, Tabelle 1.2.3.

12 Vgl. Dossier Mining in Brazil, S. 74.

13 Vgl. Agência Nacional de Transportes Aquaviárias, Anuário Estatístico Aquaviário, Tabelle 2.1.1.

14 Vgl. Wirth, The Politics of Brazilian Development. Ein wichtiger neuerer Beitrag mit Schwer- punkt auf den Arbeitsbeziehungen ist Dinius, Brazil’s Steel City.

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gedeutet wurde, stellte auch in Friedenszeiten kaum jemand mehr infrage.15 Eisenerz, sein Export in den nordatlantischen Raum und ab den 1970er Jahren nach Asien sowie seine industrielle Weiterverarbeitung im eigenen Land, war ein Kernelement des brasilianischen desenvolvimentismo des 20.

Jahrhunderts, jener einflussreichen ökonomischen Denkfigur, die einen durch einen interventionistischen Staat forcierten Industrialisierungspro- zess anstrebte.16

Der Entwicklungsdiskurs hat sich seit den 1990er Jahren massiv verän- dert, und die enge diskursive Assoziation zwischen Staat und Industrie wurde in Brasilien, Lateinamerika und weltweit im Zeichen der neo- liberalen Wende gelöst. Die CVRD wurde 1997 privatisiert, und heute zahlen Unternehmen im Eisenerzbergbau gerade einmal zwei Prozent ihres Nettoumsatzes als Royalties an den brasilianischen Staat.17 Die Erwartun- gen an das Eisenerz als Instrument zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sind gesunken, während die Produktion für den Export fast jährlich neue Rekorde bricht. Eisenerz ist ein wichtiger Faktor für die seit den 2000er Jahren zu beobachtende Reprimarisierung der brasiliani- schen Wirtschaft. 2014 wuchs die brasilianische Eisenerzproduktion um knapp acht Prozent, obwohl die Preise um 50 Prozent einbrachen.18 Eisen- erz ist heute ein Kernelement dessen, was in der jüngeren sozialwissen- schaftlichen Literatur als »Neoextraktivismus« bezeichnet wird – ein Entwicklungsmodell, in dem Primärgüterexporte die materielle Grundlage eines Staates sichern, der zur Bereitstellung öffentlicher Güter für breite Bevölkerungsschichten ohne strukturelle Umverteilung von gesellschaft- lichem Reichtum in der Lage ist.19

Seit den 1940er Jahren hat der Eisenerzbergbau viele Landschaften Brasiliens einschneidend verändert. Die Stadt Itabira im Bundesstaat Minas Gerais steht wie keine andere für Brasiliens Eisenzeitalter.20 Die Berge

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15 Vgl. Fischer, Das Staatsunternehmen; McCann, The Brazilian-American Alliance, S. 378–

402.

16 Vgl. Silva, A Vale do Rio Doce; Bielschowsky, Pensamento econômico brasileiro; Woo-Cumings (Hg.), The Developmental State.

17 Vgl. als anschaulichen Beleg für diesen diskursiven Wandel Governo Federal/Programa Nacional de Desestatização/Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social (Hg.), Privatização da Vale do Rio Doce.

18 Vgl. Departamento Nacional de Produção Mineral, Informe Mineral.

19 Vgl. Burchardt/Dietz, (Neo-)Extractivism.

20 Hier sei bemerkt, dass es in dieser Arbeit zumeist um die Stadt Itabira do Mato Dentro geht, die heute Itabira heißt. In dem oben zitierten Werk von Eschwege handelt es sich

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Conceição und Cauê am Rande der Stadt sind nach 70 Jahren Gruben- betrieb verschwunden. In der Zeit der »Mutter« CVRD dominierte die Erzgewinnung die Wirtschaft und die Topographie der Region und durch- setzte die Luft mit Staubpartikeln. Mit der für 2025 vorhergesagten Erschöpfung der Lagerstätten zeichnet sich langsam ein »drittes Itabira«

ab, eine Stadt ohne Erzzüge und Großmuldenkipper, mit vielleicht renatu- rierten Tagebauen, aber auch ohne den wichtigsten Arbeitgeber der Region.21 In den 1970er Jahren wurde das »eiserne Viereck« von Minas Gerais um die Abbauregion Carajás im amazonischen Bundesstaat Pará, Mitte der 1980er Jahre die größte Eisenerzmine der Welt, ergänzt.22 Dieses Projekt wurde bereits weniger im Spannungsfeld zwischen Rohstoffexport und nationaler Industrialisierung diskutiert, sondern wurde zu einem der wichtigsten Fixpunkte der entstehenden brasilianischen und internationa- len Umweltbewegung und zum Symbol einer autoritären Entwicklungs- politik.23 In Itabira wie in Carajás überschreiten die von dem Eisenerz- bergbau ausgelösten sozio-ökologischen Dynamiken die Grenzen der Montanregion bei Weitem. Die Eisenbahntrassen der Estrada de Ferro Vitória a Minas (EFVM) und der Estrada de Ferro Carajás verbinden die beiden weit im Binnenland gelegenen Tagebauregionen mit den Atlantik- häfen von Vitória (550 Kilometer) und São Luís (900 Kilometer). Durch die EFVM hat sich das Doce-Tal, das den Binnenstaat Minas Gerais mit der Küste verbindet, von einer kaum besiedelten Pioniergrenze in einen Exportkorridor verwandelt. Mit neuen Erzgruben entstanden immer neue Infrastrukturen, Mitte der 1970er Jahre etwa die Erzschlammleitung,

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vermutlich um das unweit von Ouro Preto gelegene Itabira do Campo, das heute Itabirito heißt.

21 Den Ausdruck des »dritten Itabira« übernimmt Maria das Graças Souza e Silva von dem Itabiraner Dichter Carlos Drummond de Andrade, vgl. Silva, A terceira Itabira, Prognose zur Minenstilllegung auf S. 241; zur CVRD in Itabira vgl. Minayo, Os homens de ferro; zu den Auswirkungen der Privatisierung auf Stadt und Arbeiterschaft vgl. dies., De ferro e flexíveis.

22 Das »Eiserne Viereck« ist in der Geologie von Minas Gerais ein feststehender Begriff.

Es umschließt die Region zwischen den Orten Mariana und Congonhas im Süden sowie Sabará und Santa Bárbara im Norden. Die Lagerstätten von Itabira liegen eigentlich außerhalb dieser Region. Sie werden in der Regel dennoch als Teil des Eisernen Vierecks diskutiert, zuweilen aber auch der südlichen Espinhaço-Zone zugerechnet, vgl.

Dorr/Barbosa, Geology and Ore Deposits; Pflug, Zur Geologie der südlichen Espinhaço- Zone.

23 Vgl. Monteiro, Meio século de mineração; Baer/Mueller, Environmental Aspects I; dies., Environmental Aspects II.

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welche die Gruben des Unternehmens Samarco im Munizip Mariana über eine Distanz von 400 Kilometern mit dem Hafen von Ubu verband. Durch diese Pipeline wurden die mit Unmengen von Wasser zu einer Eisenpaste verwandelten Erze zur Küste gepresst, bis am 6. November 2015 ein Rückhaltebecken mit Bergbaurückständen an der Eisengrube Fundão barst, eine toxische Schlammlawine Dörfer und Menschen unter sich begrub und im Doce-Tal die größte Umweltkatastrophe der Geschichte Brasiliens auslöste.24

Die Position Brasiliens auf den Welteisenmärkten folgte den Globalisie- rungsdynamiken seit dem Zweiten Weltkrieg. Europa verwendete brasilia- nisches Erz für den Wiederaufbau, die Bundesrepublik Deutschland und Japan für ihre jeweiligen »Wirtschaftswunder«, und in den letzten Jahren stand die brasilianische Erzexportstatistik stark unter dem Einfluss chinesischer Wachstumsraten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, dem Untersuchungszeitraum dieser Arbeit, hatten die Welteisenmärkte bei Weitem nicht den Grad an Verdichtung und die geographische Reichweite von heute. So kann man um 1900 nicht von einem »globalen« Eisenmarkt sprechen. Der Handel, die Industrialisierung einiger – vor allem nordatlan- tischer – Volkswirtschaften sowie die Erschließung neuer Regionen und Ressourcen mithilfe neuer Kommunikations- und billigerer Transportsys- teme gelten zwar als wichtige Faktoren für die besondere Dynamik der Weltwirtschaft um 1900.25 Zunächst waren die Handelsströme aber noch von landwirtschaftlichen Gütern und Edelmetallen dominiert. Transport über sehr weite Entfernungen, wie er beispielsweise bei Getreide, Kaut- schuk, Baumwolle oder seit der Einführung der Kühlinfrastruktur auch bei Fleisch üblich war, war bei den Industrieerzen noch die Ausnahme. Der globale Handel mit »bulky goods«, jenen schwerindustriellen Inputs, deren Wert im Verhältnis zu ihrem Gewicht und Volumen sehr gering ist, wuchs nur langsam. Die Wahl von Industriestandorten hing wiederum stark von den Transportkosten ab. 1913 kamen 82 Prozent des weltweit gehandelten Kaffees und 38 Prozent des Silbers aus Lateinamerika. Bei mineralischen Rohstoffen, die keine Edelmetalle waren, beteiligte sich die Region nur bei den Nitraten (98 Prozent), Zinn (20 Prozent) und Kupfer (neun Prozent)

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24 Vgl. Fernandes et al., Deep Into the Mud.

25 Vgl. Borchardt, Globalisierung in historischer Perspektive, S. 22; wesentlich auf die Nordhalb- kugel konzentriert sich Tilly, Globalisierung aus historischer Sicht; vgl. ferner Torp, Weltwirt- schaft vor dem Weltkrieg; zu den geographischen Mustern der Industrialisierungs- prozesse um 1900 vgl. Kapitel 2.2.

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in signifikanter Weise an der Produktion für die Weltmärkte.26 Im gleichen Jahr wurden fast 99 Prozent des weltweit produzierten Eisenerzes in Europa und Nordamerika gefördert, der Rest kam zum Großteil aus Kuba und Algerien.27 Die langsame Integration Lateinamerikas in die Weltmärkte für Industrieerze war vor allem den hohen Transportkosten geschuldet, die wiederum von der vorhandenen Infrastruktur abhingen. Für die in der Tradition der Modernisierungstheorien stehende Wirtschaftsgeschichte ist die Transportinfrastruktur eine der wichtigsten Variablen für Wachstum, ihr Fehlen überließ ganze Regionen der »Tyrannei der Entfernung«.28

Obwohl Industrieerze nicht wie heute globalisierte Waren waren, verortet sich diese Arbeit im Feld der Globalisierungs- und Global- geschichte. Der Begriff der Globalisierung ist trotz einiger Kritik immer noch hilfreich, um Verflechtungen, Waren-, Kapital- und Migrationsströme sowie sich verändernde Weltbilder in unterschiedlichen historischen Zeiträumen zu erfassen. Mittlerweile ist allgemein akzeptiert, dass »Globali- sierung« kein linearer Langzeitprozess ist, der letztendlich in ein homo- genes Weltganzes mündet. Vielmehr versucht die Globalisierungs- geschichte, neben den Verdichtungen von Verflechtungs- und Transfer- beziehungen die Momente des Bruchs, der Reterritorialisierung und der Grenzen weltweiter Interaktion in den Blick zu nehmen.29 Insbesondere die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1914 gelten als Phase zunehmender und sich vertiefender weltweiter Verbindungen. Allerdings operieren Vertre- terinnen und Vertreter der Wirtschaftsgeschichte häufig mit einem recht diffusen und modernisierungstheoretisch überformten Globalisierungs- begriff, der etwa auf Wachstum, Handelsregime oder auch Preiskon- vergenzen abzielt. So attestieren beispielsweise Luis Bértola und Jeffrey G.

Williamson Lateinamerika ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gar eine »Deglobalisierung«, weil die Region im internationalen Maßstab ein

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26 Vgl. Bértola/Williamson, Globalization in Latin America, S. 27; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 938–941.

27 Vgl. Fischer, Die Rohstoffversorgung der europäischen Wirtschaft, S. 133.

28 Der diesem Zusammenhang häufig zitierte Topos stammt ursprünglich von Blainey, The Tyranny of Distance. Zu den »Revolutionen« in den weltweiten Transportsystemen im 19.

Jahrhundert vgl. Williamson, Globalization and the Poor Periphery, S. 12–18. Eine kritische Perspektive auf Globalisierung, Rohstoffe und Infrastruktur entwickeln, allerdings für das spätere 20. Jahrhundert, Bunker/Ciccantell, Globalization and the Race for Resources. Zur Integration Lateinamerikas in globale Märkte vgl. Bértola/Williamson, Globalization in Latin America, S. 14–19, 23.

29 Vgl. einführend Osterhammel/Petersson, Geschichte der Globalisierung; zur Kritik vgl.

Cooper, Was nützt der Begriff der Globalisierung?

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hohes Zollniveau aufwies.30 Analog dazu hat sich die Globalgeschichte der Industrialisierung bislang vorrangig für Themen wie langfristige Wachs- tumsraten, vergleichende Faktoranalysen von »industriellen Revolutionen«

und Technologietransfer interessiert.31

Die Globalisierung eines Rohstoffs im Kontext von Industrialisierungs- prozessen spielte sich aber nicht nur auf der Ebene des materiellen Austauschs ab, sondern durchlief Phasen, in der die sich verändernden materiellen gesellschaftlichen Grundlagen mit neuen Formen kognitiver Welterzeugung einhergingen. Die Industrialisierung einiger Regionen der Welt und die Produktion neuen Wissens über die materielle Natur und die Geschichte des Planeten, über Räume des Potentials und Infrastrukturen der Zukunft, waren in der Globalisierungsphase um 1900 eng miteinander verflochten. Industrieerze wurden nicht nur in einem wachsenden Radius abgebaut und über größere Distanzen transportiert.32 Sie wurden auch gesellschaftlich produziert. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Zusammen- hänge und Mechanismen dieser Wissensproduktion am Beispiel des brasilianischen Eisenerzes aufzuzeigen. So gehe ich davon aus, dass natürliche Rohstoffe nicht im Sinne eines apriorischen Ressourcendenkens

»einfach da« sind.33 Sie sind historisierbar, indem wir sie nicht als stumme Materie und als statistische Fördergröße betrachten, sondern indem wir die Ideen, die Netzwerke, Projekte und Planungen untersuchen, durch die sie zu Ressourcen in politischen, geschäftlichen und wissenschaftlichen Arenen in lokalen, nationalen, transnationalen und globalen Maßstabs- ebenen werden.

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30 Vgl. Bértola/Williamson, Globalization in Latin America. Die Kritik am modernisie- rungstheoretischen Determinismus großer Teile der wirtschaftshistorischen Globalisie- rungsforschung teile ich mit Schwentker, Globalisierung und Geschichtswissenschaft.

31 Vgl. O’Brien, A Global Perspective; ders., Langfristiges ökonomisches Wachstum;

Stearns, The Industrial Revolution. Vgl. auch den weiteren Literaturüberblick in Kapitel 2.2.

32 Einen Überblick mit Schwerpunkt auf den Amerikas bietet Hausberger, Der Abbau von Bodenschätzen.

33 Mit dem Begriff des apriorischen Ressourcendenkens lehne ich mich an die von Susanne Rau formulierte Kritik am »apriorischen Raumdenken« an, vgl. Rau, Räume, S. 109.

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1.2. Geschichtsschreibung und stumme Materie

Bislang ist das brasilianische Eisenerz von der Geschichtswissenschaft bemerkenswert unbemerkt geblieben. Die Historiographie des Bergbaus stellt nicht den Rohstoff in den Mittelpunkt, sondern thematisiert in der Regel Arbeitsbedingungen, technische Verfahren, die Organisation und den politischen Kontext von Unternehmen.34 Zentrale Arbeiten zur Geschichte des Bergbaus im 19. und 20. Jahrhundert konzentrieren sich zudem auf die Goldgewinnung.35 In der Wirtschaftsgeschichte spielen die Eisen- und Stahlindustrie besonders für die Zeit ab 1930 zwar eine wich- tige Rolle, mineralische Rohstoffe werden von ihr jedoch lediglich als abstrakte und geschichtslose Inputs behandelt.36 Explizit mit den politi- schen Konflikten um die Nutzung des Eisenerzes befasst sich ein großes Korpus an Publikationen von Personen, die als Geologen, Ingenieure, Technokraten, Publizisten oder Investoren an den politischen Debatten über das »Problem der nationalen Stahlindustrie« ab den 1910er Jahren beteiligt waren.37 Diese Memorialliteratur eignet sich bisweilen als Quelle, um Personenkonstellationen oder Gesetzgebungsverfahren im Zusam- menhang mit industriepolitischen Debatten zu rekonstruieren, sie wird aber bis heute häufig unkritisch und ohne Rücksicht auf faktische Fehler und die Verortung ihrer Verfasser benutzt.

Zwar gibt es keine historischen Arbeiten, die explizit den Stoff Eisenerz in den Mittelpunkt stellen, dafür liegen jedoch einige wichtige Studien über die wirtschaftspolitischen Debatten im Kontext des »Problems der natio-

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34 Vgl. etwa Minayo, Homens de ferro und De ferro e flexíveis; Silva, A Vale do Rio Doce;

Santiago, Extracting Histories.

35 Vgl. Eakin, British Enterprise; Libby, Trabalho escravo. Die umfangreiche Forschungslitera- tur zum kolonialen Bergbau bleibt hier unberücksichtigt. Ein Alleinstellungsmerkmal, was die Wahl des untersuchten Rohstoffs angeht, besitzt Priests Arbeit zur Geschichte des Manganabbaus, vgl. Priest, Strategies of Access.

36 Vgl. die klassischen Darstellungen von Peláez, História da industrialização; Suzigan, Indús- tria brasileira; Baer, The Development of the Brazilian Steel Industry; zur Industrialisierungspo- litik unter Vargas vgl. Wirth, The Politics of Brazilian Development; zu historiographischen Strömungen in der lateinamerikanischen Industrialisierungsforschung vgl. Lewis, Indus- try in Latin America.

37 Vgl. zum Beispiel Silva, O ferro; Bastos, A conquista siderúrgica; Pereira, Ferro e independência;

Gomes, História da siderurgia; Pimenta, A Vale do Rio Doce; ders., O minério de ferro;

Oliveira, A concessão Itabira; Carvalho, Brasil, potencia mundial. Zu diesen Arbeiten ist auch die viel zitierte Hagiographie von Gauld über den amerikanischen Investor Percival Farquhar zu zählen, die in großen Teilen auf Farquhars Erinnerungen beruht, vgl.

Gauld, The Last Titan.

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nalen Stahlindustrie« vor. Eine Haupterkenntnis lässt sich aus dieser Forschungsliteratur ableiten: Die Geschichte der brasilianischen Industrie- politik beginnt nicht erst mit der Ära Vargas in den 1930er Jahren, im Gegenteil lässt sich der Vargas’sche Industrialismus erst verstehen, wenn man die früheren Kontroversen über die Nutzung von industriellen Rohstoffen mitberücksichtigt. An zentraler Stelle stehen dabei die Konflikte zwischen brasilianischer Politik und ausländischen Investoren um die Inwertsetzung der Eisenerzlagerstätten, die zu den weltweit größten gezählt wurden.

Diese Literatur verdankt ihren Anstoß einer 1976 veröffentlichten Arbeit des Soziologen Luciano Martins, die der Frage nach den strukturel- len Mechanismen der »konservativen Modernisierung« Brasiliens im Kon- text peripherer Abhängigkeit nachgeht. Martins argumentiert, der brasilia- nische Staat sei von einer Entwicklung gekennzeichnet, in der eine Koalition aus Agrar-, Industrie-, Handels- und Bürokratieelite die Trans- formation vom Primärgüterexportland zur Industrialisierung geschafft habe, ohne die grundlegenden Formen der Herrschaftsausübung zu verän- dern.38 Neue Eliten seien in den Herrschaftsapparat integriert worden, während den alten die Machtressourcen nicht entzogen worden seien.

Martins zufolge nutzten die neuen »technischen Kader« die ab 1909 einset- zende Debatte über das Eisenerz und die nationale Stahlindustrie zur

»Konsolidierung ihrer Position innerhalb des Systems politischer Entschei- dungen«.39 Während es Martins primär um die Mediationsebene zwischen struktureller Dependenz und kollektiver Handlungsmacht sowie um Verschiebungen innerhalb des Elitengefüges ging40, untersuchte William Stuart Callaghan dieselben wirtschaftspolitischen Kontroversen in einer 1981 vorgelegten Dissertation unter entgegengesetzten Vorzeichen, indem er nach den Gründen für das »Scheitern« Brasiliens fragte, schon im frühen 20. Jahrhundert einen Entwicklungspfad hin zur Errichtung einer Schwer- industrie einzuschlagen.41 Neben strukturellen Determinanten wie Kapital- oder Brennstoffmangel machte Callaghan, der Martins’ Arbeit nicht rezi- pierte, in seiner empirisch überaus reichen Studie vor allem kulturelle

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38 Vgl. Martins, Pouvoir et développement, S. 23–24.

39 Martins, Pouvoir et développement, S. 198–199.

40 In dieser Herangehensweise drücken sich die theoretischen Prämissen des Strukturalis- mus im Sinne Cardosos und Falettos aus, vgl. Cardoso/Faletto, Abhängigkeit und Entwicklung.

41 Vgl. Callaghan, Obstacles to Industrialization.

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Faktoren wie fehlenden Unternehmergeist und störrischen Nationalismus dafür verantwortlich, dass Brasilien »so lange im Limbo des ›Unterentwi- ckelten‹ verharrte«.42

Die Wirtschaftshistorikerin Gail Triner konzentriert sich in einer 2011 erschienenen Studie mit institutionengeschichtlichem Analyserahmen auf die Rolle, welche die Eigentumsrechte in der Entwicklung des brasiliani- schen Bergbausektors seit dem 18. Jahrhundert gespielt haben.43 Die Debatten über das Eisenerz während der Ersten Republik interpretiert sie als konstitutive Erfahrung, welche die Vargas’sche Industrialisierungs- und Nationalisierungspolitik sowie die ökonomischen Ideen im Brasilien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – etwa den Strukturalismus und die starke wirtschaftliche Rolle des Staates – geprägt habe. Die Arbeiten von Martins und Callaghan nimmt sie nicht zur Kenntnis, obwohl ihre Frage- stellung der Callaghans und ihre Schlussfolgerungen denen Martins’ stark ähneln. In seiner Dissertation von 2011 gelingt Gustavo Barros die bisher genaueste Rekonstruktion der brasilianischen Debatte über das Erz und seine Verhüttung.44 In einer doppelten Perspektive auf wirtschaftliche Entwicklungen und diskursive Konstellationen sowie größtenteils gestützt auf Publikationen der einstmaligen Akteure arbeitet er heraus, dass die Gegenüberstellung »nationaler« und »ausländischer« Interessen, jeweils symbolisiert durch das Stahlwerk der CSN in Volta Redonda und die Itabira Iron Ore – jenem 1911 von Briten gegründeten und ab 1919 von dem amerikanischen Investor Percival Farquhar geführten Konsortium, das zum Inbegriff der ausländischen Imperialgelüste wurde –, in Wahrheit eine ex-post-Interpretation ist, welche die Vielzahl der Sprecherpositionen, technischen Lösungsvorschläge und regionalen Interessen überdeckt, die die Debatte der 1910er und 1920er Jahre prägten. Indem er die politische Produktivität der Kontroverse betont, entwickelt Barros, ebenfalls ohne die Arbeit von Callaghan zu rezipieren, ein wirksames Gegennarrativ zu dessen Teleologie.

So zeigt sich, dass es inzwischen eine rege historiographische Debatte über Eisen und Stahl »vor Vargas« gibt, deren Teilnehmer es bislang jedoch versäumt haben, sich auf den jeweiligen Vorredner zu beziehen.

Insbesondere die Bedeutung der rohstoff- und industriepolitischen Debat- ten für die brasilianische Wirtschaftspolitik scheint mir hinreichend nach-

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42 Ebd., S. iv.

43 Vgl. Triner, Mining and the State.

44 Vgl. Barros, O problema siderúrgico.

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gewiesen. Und doch fehlt eine Perspektive, die explizit das Eisenerz in den Mittelpunkt stellt. Folgt man nämlich den Akteuren und Netzwerken, die in der formativen Phase der brasilianischen Eisenfrage mit diesem Roh- stoff befasst waren, so ergeben sich neue Fragestellungen, die zeitlich, räumlich und in ihrem Erkenntnisinteresse weit über den Interpretations- rahmen der bisherigen Forschungen hinausweisen. So stieß ich bei meiner Archivarbeit auf bisher im Zusammenhang mit der Geschichte Brasiliens unbekannte Akteure, die nicht nur in der Eisenfrage eine wichtige Rolle spielten, sondern die jahrzehntelang an einer Neuausrichtung der internati- onalen geologischen Forschung entscheidend mitgewirkt hatten. Löst man sich von der Ebene nationaler politischer Kontroversen und wendet sich stattdessen einer Wissensgeschichte des brasilianischen Eisenerzes wäh- rend der Hochphase der Globalisierung um 1900 zu, findet man sich unversehens auf dem Terrain des Wandels globaler Wissensordnungen im Zuge wirtschaftlicher Transformationen wieder. Es zeigt sich, dass eine solche Herangehensweise nicht nur neue Perspektiven auf Brasilien in der Welt ermöglicht, sondern dass sie auch die Ökonomie zurück in die histo- rische Globalisierungsforschung holt, ohne sich deterministische Ant- worten auf klassische Fragen der Wirtschaftsgeschichte (Wer entfesselte wann wo den Prometheus? Warum sind manche so arm und andere so reich?) zu eigen zu machen.45

1.3. Stoffe, die nicht »einfach da« sind

Das Eisenerz eignet sich besonders gut für eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Globalisierung, Rohstoffen und Transformati- onen des Wissens im Zuge der »zweiten wirtschaftlichen Revolution«, weil in den sich daran anlagernden Wissensbeständen besonders viele politisch- zivilisatorische Zukunftsvisionen kristallisierten.46 Eisenerz war in einer Zeit globaler Wirtschaftsverflechtungen, in der sich das Ideal einer von der

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45 Vgl. die in dieser Hinsicht klassischen Werke Landes, Wohlstand und Armut und ders., Der entfesselte Prometheus. Auch das Kapitel zur Industrie im 19. Jahrhundert in Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 909–957, geht über diese Perspektive nicht hinaus, wenn- gleich es einen hervorragenden Überblick über die verschiedenen wirtschaftshistorischen Interpretationsschulen bietet.

46 Zum Begriff der »zweiten wirtschaftlichen Revolution« vgl. Osterhammel, Die Verwand- lung der Welt, S. 925–928.

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Schwerindustrie geprägten, arbeitsteiligen, im besten Fall auch militärisch hochgerüsteten Gesellschaft in Elitekreisen weltweit verbreitete, weit mehr als nur eine mineralische Ressource. Es war auch eine gesellschaftliche Ressource, die eindrang in nationale Selbstverständigungsprozesse und in die diskursiven Strategien neuer Berufsgruppen, die um ihren Status im Staat und in der Produktion kämpften. Das Öl wirkte sich wenige Jahr- zehnte später vielleicht noch tiefgreifender auf Institutionen, Individuen und Infrastrukturen aus und regte Debatten über die Abhängigkeit und Unabhängigkeit national gefasster Gesellschaften an.47 Doch die symboli- sche Aufladung des Eisens reichte weiter, da man seine Nutzbarmachung im menschheitsgeschichtlichen Maßstab mit dem Erreichen einer neuen Zivilisationsstufe gleichsetzte. Gleichzeitig war es eine globalisierende Ressource, da an ihr neue Formen der kooperativen Wissensproduktion erstmals erprobt wurden. Lagerstättenkunde, Bergwirtschaftslehre und praktische Geologie nutzten die durch die Internationalisierung der Wissenschaften bereitgestellten institutionellen Vehikel und schufen vorge- stellte globale Ressourcenräume, in denen sich die mit dem Eisenerz befassten Akteure fortan bewegten.

Diese Arbeit macht also den Vorschlag, eine Geschichte von Stoffen zu schreiben, die nicht »einfach da« sind, eine Geschichte, die nicht einem apriorischen Ressourcendenken verhaftet ist. Im apriorischen Ressourcen- denken ist die Geschichte des Erzes zunächst Gegenstand der Geologie und dann eine Fußnote in der Geschichte von Metallverarbeitung und Stahlindustrie, also der Technik- und Wirtschaftsgeschichte. Um diesem Denken zu entgehen, eignet sich eine wissenshistorische Perspektive, die nach jenen Konstellationen fragt, in denen eine natürliche Ressource als solche konstruiert und zur gesellschaftlichen Ressource wird. Diese Arbeit untersucht daher die Netzwerke von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Poli- tikern und Investoren im Kontext globaler Wissenstransformationen und transnationaler Wissenstransfers am Beispiel des Eisenerzes im brasilia- nischen Bundesstaat Minas Gerais. Neben den Bewegungen von Wissens- beständen über nationale Grenzen hinweg und zwischen den räumlichen Maßstabsebenen stehen die Bewegungen von Wissensträgern zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Arenen, insbesondere Wissenschaft, Markt und Staat, im Mittelpunkt. So befasst sich die Arbeit mit Bereichen,

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47 Vgl. Coronil, The Magical State; Mitchell, Carbon Democracy.

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die weit über die Geschichte Brasiliens hinausweisen und an aktuelle Fragen der Globalisierungsgeschichte anknüpfen.

Welche neuen Wissensbestände etablierten sich im Zuge der Hoch- phase nordatlantischer Industrialisierung im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert? Welche Grenzverschiebungen zwischen Wissenschaft, Markt und Staat lassen sich feststellen? Wie drückten sich diese auf der Ebene des Nationalstaats und der Region aus? Wie reagierten technische und wissenschaftliche Eliten in Brasilien auf die in den transnationalen Arenen produzierten Wissensbestände? In welchen sozialen Räumen wurde Wissen über Eisenerz produziert, transferiert und nutzbar gemacht?

Welche Bedeutung hatten Wissen und Expertise für die Etablierung und Stabilisierung von transnationalen Unternehmernetzwerken? Welcher diskursiver Muster und Strategien bedienten sich Techniker, Ingenieure und Geologen, um in den regional, national und international geführten Debatten über das brasilianische Eisenerz zu intervenieren und ihren sozialen Status zu legitimieren? Inwieweit eignet sich ein Rohstoff als Ausgangspunkt für die Untersuchung von Modalitäten und Maß- stabsebenen globaler Wissensproduktionen und -zirkulationen?

Ich argumentiere, dass sich am Gegenstand des Eisenerzes, begünstigt durch neue Organisations- und Kooperationsformen der internationalen Geologie, die Lagerstätteninventur als globalisierende Wissenspraxis herausbildete. Gleichzeitig, so zeige ich, entstand auch in Brasilien eine instabile und umstrittene Form der staatlich organisierten praktischen Geologie. Die Angehörigen der technisch-wissenschaftlichen Elite Brasili- ens und zunehmend auch die Politik rückten das Eisenerz in den Mittel- punkt ihrer Zukunftsvisionen für die brasilianische Nation und rezipierten dabei transnational zirkulierende Ideen über den Zusammenhang von Rohstoffen und Macht. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg knüpften nordamerikanische und britische Wissenschaftler und Investoren ein trans- nationales, von Expertenwissen zusammengehaltenes Netzwerk mit dem Ziel der Inwertsetzung der brasilianischen Eisenvorräte. Die Analyse der in diesem Netzwerk mobilisierten Wissensbestände zeigt die immer deutlich- eren Widersprüche zwischen dem Rohstoffbedarf der nordatlantischen Industrien, den angesichts von Knappheitsängsten erstarkenden Konser- vierungsideen und den brasilianischen Industrialisierungsambitionen.

Ferner führte der Wettlauf um das brasilianische Eisenerz zu einer britisch- amerikanischen Rivalität auf lokaler Ebene, die zusätzlich zum Scheitern der Planungsutopie eines der weltgrößten Exportkomplexe für Industrie-

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erze beitrug. Das brasilianische Eisenerz, so argumentiere ich, schuf hybride, multivokale Wissensakteure zwischen Wissenschaft, Markt und Staat und ist ein Beispiel für die Ungleichzeitigkeit und die Interdependenz von materiellen und kognitiven Globalisierungsprozessen.48 Um diese Wissensakteure und -produktionen zu untersuchen, bedarf es zunächst einiger theoretisch-methodologischer Vorüberlegungen zur globalen Wissenschaftsgeschichte und zur neuen Wissensgeschichte, ihren begriff- lichen Grundlagen, Unterschieden und Konvergenzen.

1.4. Globale Wissenschaftsgeschichte, Wissensgeschichte und Expertentum

Die Wissenschaftsgeschichte hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem vielfältigen und theoretisch-methodisch überaus spezialisierten geschichts- wissenschaftlichen Teilgebiet entwickelt. Eng verflochten mit der Wissen- schaftsphilosophie, zielte sie zunächst auf die Untersuchung wissenschaft- licher Theoriebildung ab und arbeitete epistemologische Verfahren wie beispielsweise das der Falsifikation (Karl Popper) oder der Herstellung von paradigmatischen Übereinstimmungen (Thomas Kuhn) heraus.49 Dieser idealistische, auf epistemologische Strukturen und Methoden fokussierte Ansatz führte einerseits zur Betonung des Fortschritts, der Innovation und Revolution. Er trug andererseits zur Verbreitung eines hermetischen, universalisierenden und implizit eurozentrischen Wissenschaftsverständ- nisses bei, das zudem die praktischen Aspekte der Wissensproduktion in den Hintergrund stellte.

Seit den 1970er Jahren erwuchs aus der Forderung nach einer post- idealistischen Wissenschaftsgeschichte der Versuch, die Produktion wissenschaftlichen Wissens in ihrem sozialen Kontext zu begreifen.50 Der sozialkonstruktivistische Ansatz beschränkte die Analyse nicht auf

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48 Den Begriff der »Multivokalität«, der die spannungsgeladene Verbindung unterschied- licher Handlungsrationalitäten (zum Beispiel Händler/Herrscher) in einem Akteur bezeichnet, entlehne ich aus Adams, Principals and Agents, S. 15. Ich verwende

»Multivokalität« nicht, um die Vielstimmigkeit unterschiedlicher Expertenmeinungen zu beschreiben, sondern um die unterschiedlichen Sprecherpositionen und sozialen Rollen der einzelnen Individuen zu markieren.

49 Vgl. den Überblick bei Carrier, Wege der Wissenschaftsphilosophie.

50 Vgl. programmatisch Bloor, Knowledge and Social Imagery.

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vermeintlich wahrheitsfähige Aussagen, sondern hob die asymmetrische Unterscheidung zwischen »wahren« und »falschen« wissenschaftlichen Ideen auf, um sich stattdessen auf gesellschaftliche Entstehungsbedingun- gen und Mechanismen der Konstruktion von »Wahrheit« zu konzentrieren.

Die Erfassung der »Situiertheit« des Wissens, seine unlösbare Verbindung mit spezifischen geographischen und sozialen Räumen, ist seither ein zent- rales Anliegen der historischen Wissenschaftsforschung.51

Seit den 1980er Jahren formierte sich die Wissenschafts- und Technik- forschung Latour’scher Prägung, die mit ethnographischer Präzision jene Übersetzungs- und Einschreibungspraktiken beschreibt, durch die wissen- schaftliche Fakten stabilisiert werden. Diese werden in Form abstrakter Homogenisierungen (»immutable mobiles«) in Netzwerke eingespeist, ihre Produktionsketten durch das Einlagern in black boxes wieder unsichtbar gemacht. Latour betonte darüber hinaus die Notwendigkeit, die Beiträge menschlicher und nichtmenschlicher Aktanten (etwa Mikroben und Beobachtungsinstrumente) zu wissenschaftlichen Kontroversen symmet- risch zu untersuchen. Dieser Versuch der Überwindung des Gegensatzes zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Materiellem und Sozialem, stellte die früheren Ansätzen zugrunde liegende Trennung von Subjekt und Objekt und damit den Faktor des »Sozialen« generell infrage und führte zum Bruch mit der sozialkonstruktivistischen Schule.52

Neben diesen erkenntnistheoretischen Kontroversen fand in den letzten Jahrzehnten eine intensive Debatte statt, wie man Wissenschafts- geschichte im Weltmaßstab schreiben könne. Frühe Arbeiten hatten noch eine kosmopolitische Interpretation vertreten, nach der Wissensbestände aus unterschiedlichen Kulturen als Beiträge zu einer gemeinsamen

»globalen Wissenschaft« zu lesen seien.53 1967 schlug George Basalla ein Stufenmodell der Verbreitung »westlicher« Wissenschaft vor und forderte eine vergleichende Untersuchung jener institutionellen und kulturellen Faktoren, die in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten zur Verlang- samung oder Beschleunigung des Übergangs von »kolonialer Wissen-

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51 Vgl. etwa Ophir/Shapin, The Place of Knowledge; Livingstone, Putting Science in its Place;

Shapin, Placing the View; Finnegan, The Spatial Turn; Turnbull, Reframing Science;

Shapin, Never Pure.

52 Vgl. einführend Passoth, Aktanten, Assoziationen, Mediatoren. Für die wissenschafts- historischen Debatten von zentraler Bedeutung war Latour, Science in Action; zur Kontroverse mit den Sozialkonstruktivisten vgl. Bloor, Anti-Latour; Latour, For David Bloor; Seguin, Bloor, Latour, and the Field.

53 Vgl. etwa Needham, The Grand Titration.

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schaft« zu »unabhängigen Wissenschaftstraditionen« führten.54 Einen verwandten Ansatz verfolgte die Historiographie zu nationalen Wissen- schaftskulturen, welche die Entstehung von Wissenschaftstraditionen in Verbindung mit Prozessen der Nationalstaatsbildung analysierte.55 Die Erforschung nationaler wissenschaftlicher Communities wurde in verschie- denen Weltregionen betrieben, zeichnete partikulare Traditionen nach und reflektierte geopolitische Machtgefälle, blieb jedoch einem teleologischen Verständnis »westlicher Wissenschaft« eng verbunden.56

Die meisten späteren wissenschaftshistorischen Strömungen, die sich Fragen der Wissensproduktion in transkulturellen Räumen, des transnatio- nalen Transfers oder des Zusammenhangs zwischen Imperialismus und Wissenschaft widmeten, taten dies in Abgrenzung zu Basallas Modell.

Kolonialismus und Imperialismus wurden zunehmend als für die moder- nen Wissenschaften konstitutive Erfahrungen gedeutet.57 Dabei ging es nicht mehr nur um die Untersuchung von Diffusionsmechanismen, sondern vielmehr um die Historisierung von westlichen Objektivitäts- regimen in der Kontaktzone mit dem »Anderen« und um die Heraus- bildung eines globalen Bewusstseins im Zeichen kolonialer Macht- asymmetrien.58 So argumentiert Tony Ballantyne, Forschungsreisen, die Implementierung neuer Vermessungspraktiken und die Etablierung kolonialer Herrschaft hätten seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Form kognitiver Globalisierung im Zeichen eines »imperialen Wissenssystems«

geführt.59 In vielen dieser Studien drückte sich der Einfluss der postcolonial studies aus. Nicht der Beitrag von Forschungsreisenden zu einem objek- tiven, universellen Wissenskorpus stand nun zur Debatte, sondern die Forschungsreise als Ort der Entstehung westlicher Epistemologien und

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54 Vgl. Basalla, The Spread of Western Science.

55 Vgl. Crawford, Nationalism and Internationalism.

56 Ein Beispiel für dieses Genre ist gleichzeitig einer der Klassiker der brasilianischen Wissenschaftsgeschichte: Schwartzman, Formação da comunidade científica; enzyklopädischer angelegt, vom Ansatz jedoch verwandt ist Ferri/Motoyama (Hg.), História das ciências.

57 Vgl. Stafford, Scientific Exploration; Drayton, Nature’s Government; Edney, Mapping an Empire; Burnett, Masters of All They Surveyed; für eine nicht-westliche Perspektive vgl. Heé, Imperiales Wissen.

58 Der von Conrad geprägte Begriff der »kolonialen Globalität« erweist sich zur Umschrei- bung der Verflechtung von Globalisierung und Kolonialismus als hilfreich, vgl. Conrad, Globalisierung und Nation, S. 41–44.

59 Vgl. Ballantyne, Empire, Knowledge and Culture.

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klassifizierender Weltaneignung.60 Die »Rationalität« der westlichen Wissenschaft wurde nunmehr als Herrschaftsgeste gedeutet, die in den Kolonien entstehenden wissenschaftlichen Praktiken hätten »im Gegensatz zur Universalität des europäischen Originals« nur »lokal gültige, hybride und blasse Kopie[n]« dargestellt.61 Speziell die Geologie wurde in ihrer systematischen Form im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Element kolonialer Globalität und imperialer Vermessung, aber auch von inner- und außereuropäischen Projekten der Nationalstaatsbildung.62

Auch wenn die Geowissenschaften in der Tat eine besondere Bezie- hung zur Ausübung territorialer und damit auch kolonialer Herrschaft aufwiesen, hat die Wissenschaftsgeschichte in jüngerer Zeit von der Vorstellung einer spezifisch »kolonialen« Wissenschaft Abstand genom- men. Neben der heute verbreiteten Ablehnung einer normativen Eintei- lung in »gute« und »schlechte« Wissenschaft ist ein wichtiger Grund hierfür, dass wissenschaftliches Wissen in Zirkulationsbewegungen entstand, die sich nie an klaren kolonialen oder nationalstaatlichen Grenz- ziehungen orientierten.63 Die sowohl in der Historiographie zur Ausbrei- tung westlicher Wissenschaften als auch in der zu Empire und Kolonia- lismus angelegten Dichotomien zwischen westlichem und indigenem Wissen sowie zwischen Metropole und Kolonie sind in den letzten Jahren ebenfalls in die Kritik geraten – die Rede ist von der Notwendigkeit der

»Provinzialisierung von Wissenschaft und Technik«.64

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60 Vgl. paradigmatisch Pratt, Imperial Eyes; Carter, The Road to Botany Bay; Kennedy, British Exploration in the Nineteenth Century, S. 1881–1884. Programmatisch zur den Verflechtungen zwischen Peripherie und Metropole ist Stoler/Cooper, Between Metro- pole and Colony.

61 Raj, Beyond Postcolonialism, S. 341. Hier findet sich auch ein umfassender Literatur- bericht zur postkolonialen wissenschaftshistorischen Literatur in Indien. Vgl. ferner Rosenberg, Transnationale Strömungen S. 924–925. Klassische Arbeiten zu Wissen- schaft und Technik als Instrumente der Herrschaftsausübung und der Herstellung kultureller Differenz sind Headrick, The Tools of Empire, und Adas, Machines as the Measure of Men.

62 Vgl. Wu, Underground Empires; Osterhammel, Forschungsreise und Kolonial- programm; Dubow, Earth History; Zeller, The Colonial World; stark im Zeichen der Kolonialismuskritik und dadurch nicht sehr nuancenreich: Stafford, Annexing the Land- scapes. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1164–1167, subsumiert in diesem Zusammenhang die Geologie unter die Geographie.

63 Vgl. Tilley, Africa as a Living Laboratory, S. 10–11.

64 Anderson, Postcolonial Technoscience, S. 651; vgl. auch Chambers/Gillespie, Locality in the History of Science. Die Strategie des Provinzialisierens wurde angeregt durch Chakrabarty, Europa provinzialisieren.

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Zur Überwindung dieser Dichotomien haben unterschiedliche Autoren Zirkulationsmodelle vorgeschlagen, die sowohl in ihrem räumlichen Zuschnitt offen sind als auch der »praktischen Wende« der historischen Wissenschaftsforschung Rechnung tragen. Die Zirkulationsmetapher stellt die Interaktionen von Wissensträgern sowie die Bewegungen von Akteu- ren, Artefakten, Messinstrumenten und Wissensinhalten als Orte der Wissensproduktion in den Mittelpunkt. Sie weist Raummetaphern zurück, die a priori auf festgelegte Zentren verweisen.65 Darüber hinaus betont die neue Globalgeschichte der Wissenschaften die Bedeutung nichtwissen- schaftlicher Akteure in Prozessen der Wissensproduktion, schließlich spielten gerade in den produktiven Interaktionsräumen »go-betweens« wie Reisende, Händler, lokale Helfer, indigene Führer, Missionare, Übersetzer oder Amateurforscher eine wichtige Rolle.66 Der Chinahistoriker Fa-Ti Fan hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass der Zirkulationsbegriff allzu reibungslose Abläufe und geschlossene Kreisläufe impliziert. Dem gegenüberständen häufig komplexe Aushandlungen, Machtasymmetrien, vielfältige Bewegungsrichtungen, Konkurrenzsituationen und abgebro- chene Übersetzungsketten.67 Doch in diesen begrifflichen Differenzierun- gen zeigt sich bereits der Nutzen einer globalhistorischen Perspektive, die keine Teleologien voraussetzt und die sich eben nicht als eine Geschichte der globalen Wissensakkumulation versteht, sondern unseren Blick auf Akteure, Vermittlungsprozesse und verkettete Kontexte richtet.68 Nach Jahrzehnten des Abarbeitens an Basallas Diffusionsthese steht die Erkenntnis, dass der europäische Ursprung der meisten Elemente der gegen Ende des 19. Jahrhundert als universell anerkannten Wissenschaft kaum geleugnet werden kann, dass aber einerseits dieser Ursprung globalen Erfahrungen und Einflüssen ausgesetzt war und dass andererseits die Mechanismen des Transfers und der Übersetzung viel komplexer und

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65 Vgl. Raj, Beyond Postcolonialism, S. 345; Fan, The Global Turn, S. 252; Secord, Knowledge in Transit, S. 664.

66 Vgl. Sivasundaram, Sciences and the Global, S. 158; Safier, Global Knowledge;

Schaffer/Roberts/Raj/Delbourgo (Hg.), The Brokered World.

67 Vgl. Fan, The Global Turn, S. 252–253.

68 Als Gegenposition, nämlich für eine makrohistorische Weltgeschichte, welche die Wissensentwicklung als »globalen Lernprozess« auffasst, ist zu nennen Renn/Hyman, The Globalization of Knowledge.

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unberechenbarer waren, als es die Vorstellung linear verlaufender Phasen der Verbreitung suggerierte.69

Während in der Wissenschaftsgeschichte in den vergangenen Jahr- zehnten also vor allem die Frage im Mittelpunkt stand, wie und in welchen Räumen wissenschaftliche Fakten konstruiert werden, nimmt die jüngere Wissensgeschichte eine breitere Perspektive auf die Rolle von Wissen in der Gesellschaft ein. Somit folgt sie den methodologischen Entwürfen, mit denen Peter Berger und Thomas Luckmann bereits 1966 die Wissenssozi- ologie von einer wissenschaftlichen oder philosophischen Ideengeschichte abzugrenzen versuchten.70 Als wichtigste Referenzen für die theoretische Eingrenzung des Wissensbegriffs, wie ihn besonders die heutige deutsch- sprachige Wissensgeschichte verwendet, sind Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Bruno Latour zu nennen. In seinem Entwurf des genealogi- schen Verfahrens betont Foucault den Zusammenhang zwischen Wissen und Macht. Der Wahrheitsdiskurs dient in dieser Perspektive der diskursi- ven Ausgrenzung und Beherrschung anderer, populärer Wissensformen sowie der gesellschaftlichen Kontrolle.71 Bei Bourdieu ist das Wissen als Teil des Habitus »inkorporiert«, der das Handeln in Feldern strukturiert.

Felder sind autonome »soziale Universen«, die nach bestimmten Regeln funktionieren, die sich der Habitus »einverleibt«. Das Wissen dient der Distinktion, ist gleichzeitig aber »präperzeptiv«, d.h. die Praktiken, durch die es sich äußert, lassen sich nicht als Ausdruck bewusster, rationaler Inte- ressen begreifen.72 Die Ethnomethodologie Latours vollzieht die bei Bourdieu bereits angelegte »praktische Wende« vollends, indem sie das Wissen als Resultat von Assoziationen, Übersetzungen und erfolgreichen Netzwerkbildungen begreift, die der Glaubwürdigkeit eines Claims zur Durchsetzung verhelfen und denen es gelingt, andere Claims vor dem

»Tribunal der Vernunft« als irrationalen Glauben zu degradieren.73 So unterschiedlich die hier nur versatzstückartig dargestellten theoretischen Perspektiven sein mögen: Macht, Distinktion, Praktiken, Status, Glaub-

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69 Diese globale Dimension »europäischer« Wissenschaft rückt bei Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1147–1151, in den Hintergrund, anders als beispielsweise bei Conrad, Enlightenment in Global History, insbesondere S. 1010–1013.

70 Vgl. Berger/Luckmann, The Social Construction of Reality.

71 Vgl. Foucault, Two Lectures, insbesondere S. 83–85; ders., ›Ich bin ein Sprengmeister‹, S. 199–200.

72 Vgl. Bourdieu, Ist interessenfreies Handeln möglich?, insbesondere S. 145–149.

73 Vgl. Latour, Science in Action, S. 179–213.

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würdigkeit, Netzwerke – all diese Begriffe sind zentral für eine Operatio- nalisierung des Wissensbegriffs.

Ganz allgemein meint »Wissen« die »Konstruktion von Realität«74, die

»in einer Gesellschaft sozial objektivierten Sinndeutungen«.75 Wissen ist laut Achim Landwehr nicht unterscheidbar von Glaube oder Meinung, woraus folge, »dass für eine Geschichte des Wissens all das als Wissen in Betracht kommt, was für sich selbst Wissensstatus reklamiert«.76 Wissen ist eine Ressource, welche zur Förderung des Zusammenhalts epistemischer Gemeinschaften sowie zur sozialen Mobilität von Gruppen und Individuen eingesetzt werden kann. »Formen und Inhalte des Wissens« stellen Jakob Vogel zufolge »einen wesentlichen Bestandteil der spezifischen Kultur der einzelnen sozialen Gruppe und damit ein entscheidendes Kriterium für ihre Außenabgrenzung und Binnendifferenzierung« dar.77 Wissen grenzt jedoch nicht nur ab, es lässt auch Möglichkeiten für Verbindungen entste- hen. Es ist nicht nur das Resultat, sondern häufig Vorbedingung zum Aufbau und kittende Substanz für von Stabilisierung von Netzwerken.

Die Wissensgeschichte ist besonders in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft seit den 2000er Jahren verbreitet.78 Die Forderung nach einer Historisierung der Kategorie »Wissen« erhoben Historikerinnen und Historiker besonders als Reaktion auf die von der Soziologie bereits seit den 1960er Jahren konzeptionalisierte und in den 1990er Jahren wiederentdeckte »Wissensgesellschaft«. Mit ihr verband sich die Diagnose, dass das Wissen als Ressource noch nie so entscheidend für kollektive und individuelle Handlungsmöglichkeiten gewesen sei wie in der Gegenwart des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Stehr und Grundmann haben

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74 Vgl. Berger/Luckmann, The Social Construction of Reality.

75 Knoblauch, Thomas Luckmann, S. 132.

76 Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen, S. 66.

77 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, S. 644–645.

78 Der Begriff »Wissensgeschichte« taucht indes schon auf in Fleck, Entstehung und Entwicklung, S. 31, einem der Gründungstexte der Wissenschaftssoziologie. David Gugerli und Daniel Speich Chassé haben auf die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze hingewiesen, die sich selbst als Wissensgeschichte bezeichnen, vgl. Speich Chassé/Gu- gerli, Wissensgeschichte. Auch zwischen dem deutschen, englischen und französischen Sprachraum gibt es Unterschiede. So ist etwa die zweibändige Social History of Knowledge von Peter Burke eine zwar vielschichtige, vom Untersuchungsgegenstand her jedoch recht konventionelle Geschichte wissenschaftlichen Wissens unter praxeologischen Gesichtspunkten mit dem Schwerpunkt auf Zentraleuropa, Nordamerika und mit gelegentlichen Schlaglichtern auf andere Weltregionen, vgl. Burke, A Social History of Knowledge I; ders., A Social History of Knowledge II.

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argumentiert, dass der Vormarsch der Expertenkultur in Form von Bera- tern, Gutachtern und Sachverständigen ein Symptom der modernen Wissensgesellschaft sei. Wissen – und gemeint ist vor allem technisch- wissenschaftliches Wissen – werde als Produktionsfaktor wichtiger als Arbeit, Eigentum oder Boden.79 Szöllösi-Janze verwendet den Begriff der Wissensgesellschaft im Sinne einer

»fortgeschrittene[n] Gesellschaftsformation […], in der wissenschaftliches und technisches Wissen seine soziale Funktion kontinuierlich erweitert hat, bis es alle öffentlichen wie privaten bis intimen Lebensbereichen durchdringt«.80

Spätestens hier wird deutlich, dass gegenüber dem Begriff der Wissens- gesellschaft und insbesondere seiner Übertragung auf andere Kontexte Vorsicht geboten ist, da ihm oft teleologische Grundannahmen zugrunde liegen. Jakob Vogel hat den fehlenden historischen Tiefgang der Analysen von Stehr und anderen beklagt, die von abstrakter Begrifflichkeit geprägt waren und die dem technisch-wissenschaftlichen Wissen erst für die Zeit nach 1945 eine wichtige Rolle in gesellschaftlichen Entwicklungen zuschrieben.81 Desweiteren werde wissenschaftliches Wissen meist als etwas Homogenes gedacht und Spannungen zwischen Disziplinen und Wissensfeldern ignoriert. Daher hat Vogel zu Recht gefordert,

»den Prozess des Vordringens (aber vielleicht auch des Zurückschreitens) des wissenschaftlichen Wissens historisch angemessen darzustellen, bevor man die These vom fundamentalen Unterschied unserer heutigen Gesellschaft zu den vergangenen Epochen verbreitet«.82

Begreift man die Wissensgesellschaft also nicht als Ergebnis eines linearen Prozesses, sondern als ein transepochales Brennglas, mit dem die gesell- schaftliche Rolle spezifischer Wissensformen und -inhalte, ihre Überset- zung, Expansion und Kontraktion, in den Blick genommen werden kann, so zeigt sich, dass die Wissensgeschichte nicht nur für die Analyse bestimmter Gesellschaftsformationen infrage kommt, sondern eine univer- sell einsetzbare Brücke zwischen Wissenschafts-, Technik-, Sozial-,

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79 Vgl. Stehr/Grundmann, Expertenwissen, S. 7. Einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Theorieentwürfe in Bezug auf die Wissensgesellschaft bietet Knorr Cetina, Epistemic Cultures, S. 5–8.

80 Szöllösi-Janze, Politisierung der Wissenschaften, S. 81.

81 Vgl. Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, S. 642; dazu auch zentral Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen.

82 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, S. 644.

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