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Globale Wissenschaftsgeschichte, Wissensgeschichte und Expertentum Expertentum

Im Dokument Globalisierte Geologie (Seite 22-30)

Die Wissenschaftsgeschichte hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem vielfältigen und theoretisch-methodisch überaus spezialisierten geschichts-wissenschaftlichen Teilgebiet entwickelt. Eng verflochten mit der Wissen-schaftsphilosophie, zielte sie zunächst auf die Untersuchung wissenschaft-licher Theoriebildung ab und arbeitete epistemologische Verfahren wie beispielsweise das der Falsifikation (Karl Popper) oder der Herstellung von paradigmatischen Übereinstimmungen (Thomas Kuhn) heraus.49 Dieser idealistische, auf epistemologische Strukturen und Methoden fokussierte Ansatz führte einerseits zur Betonung des Fortschritts, der Innovation und Revolution. Er trug andererseits zur Verbreitung eines hermetischen, universalisierenden und implizit eurozentrischen Wissenschaftsverständ-nisses bei, das zudem die praktischen Aspekte der Wissensproduktion in den Hintergrund stellte.

Seit den 1970er Jahren erwuchs aus der Forderung nach einer post-idealistischen Wissenschaftsgeschichte der Versuch, die Produktion wissenschaftlichen Wissens in ihrem sozialen Kontext zu begreifen.50 Der sozialkonstruktivistische Ansatz beschränkte die Analyse nicht auf

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48 Den Begriff der »Multivokalität«, der die spannungsgeladene Verbindung unterschied-licher Handlungsrationalitäten (zum Beispiel Händler/Herrscher) in einem Akteur bezeichnet, entlehne ich aus Adams, Principals and Agents, S. 15. Ich verwende

»Multivokalität« nicht, um die Vielstimmigkeit unterschiedlicher Expertenmeinungen zu beschreiben, sondern um die unterschiedlichen Sprecherpositionen und sozialen Rollen der einzelnen Individuen zu markieren.

49 Vgl. den Überblick bei Carrier, Wege der Wissenschaftsphilosophie.

50 Vgl. programmatisch Bloor, Knowledge and Social Imagery.

vermeintlich wahrheitsfähige Aussagen, sondern hob die asymmetrische Unterscheidung zwischen »wahren« und »falschen« wissenschaftlichen Ideen auf, um sich stattdessen auf gesellschaftliche Entstehungsbedingun-gen und Mechanismen der Konstruktion von »Wahrheit« zu konzentrieren.

Die Erfassung der »Situiertheit« des Wissens, seine unlösbare Verbindung mit spezifischen geographischen und sozialen Räumen, ist seither ein zent-rales Anliegen der historischen Wissenschaftsforschung.51

Seit den 1980er Jahren formierte sich die Wissenschafts- und Technik-forschung Latour’scher Prägung, die mit ethnographischer Präzision jene Übersetzungs- und Einschreibungspraktiken beschreibt, durch die wissen-schaftliche Fakten stabilisiert werden. Diese werden in Form abstrakter Homogenisierungen (»immutable mobiles«) in Netzwerke eingespeist, ihre Produktionsketten durch das Einlagern in black boxes wieder unsichtbar gemacht. Latour betonte darüber hinaus die Notwendigkeit, die Beiträge menschlicher und nichtmenschlicher Aktanten (etwa Mikroben und Beobachtungsinstrumente) zu wissenschaftlichen Kontroversen symmet-risch zu untersuchen. Dieser Versuch der Überwindung des Gegensatzes zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Materiellem und Sozialem, stellte die früheren Ansätzen zugrunde liegende Trennung von Subjekt und Objekt und damit den Faktor des »Sozialen« generell infrage und führte zum Bruch mit der sozialkonstruktivistischen Schule.52

Neben diesen erkenntnistheoretischen Kontroversen fand in den letzten Jahrzehnten eine intensive Debatte statt, wie man Wissenschafts-geschichte im Weltmaßstab schreiben könne. Frühe Arbeiten hatten noch eine kosmopolitische Interpretation vertreten, nach der Wissensbestände aus unterschiedlichen Kulturen als Beiträge zu einer gemeinsamen

»globalen Wissenschaft« zu lesen seien.53 1967 schlug George Basalla ein Stufenmodell der Verbreitung »westlicher« Wissenschaft vor und forderte eine vergleichende Untersuchung jener institutionellen und kulturellen Faktoren, die in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten zur Verlang-samung oder Beschleunigung des Übergangs von »kolonialer

Wissen-——————

51 Vgl. etwa Ophir/Shapin, The Place of Knowledge; Livingstone, Putting Science in its Place;

Shapin, Placing the View; Finnegan, The Spatial Turn; Turnbull, Reframing Science;

Shapin, Never Pure.

52 Vgl. einführend Passoth, Aktanten, Assoziationen, Mediatoren. Für die wissenschafts-historischen Debatten von zentraler Bedeutung war Latour, Science in Action; zur Kontroverse mit den Sozialkonstruktivisten vgl. Bloor, Anti-Latour; Latour, For David Bloor; Seguin, Bloor, Latour, and the Field.

53 Vgl. etwa Needham, The Grand Titration.

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schaft« zu »unabhängigen Wissenschaftstraditionen« führten.54 Einen verwandten Ansatz verfolgte die Historiographie zu nationalen Wissen-schaftskulturen, welche die Entstehung von Wissenschaftstraditionen in Verbindung mit Prozessen der Nationalstaatsbildung analysierte.55 Die Erforschung nationaler wissenschaftlicher Communities wurde in verschie-denen Weltregionen betrieben, zeichnete partikulare Traditionen nach und reflektierte geopolitische Machtgefälle, blieb jedoch einem teleologischen Verständnis »westlicher Wissenschaft« eng verbunden.56

Die meisten späteren wissenschaftshistorischen Strömungen, die sich Fragen der Wissensproduktion in transkulturellen Räumen, des transnatio-nalen Transfers oder des Zusammenhangs zwischen Imperialismus und Wissenschaft widmeten, taten dies in Abgrenzung zu Basallas Modell.

Kolonialismus und Imperialismus wurden zunehmend als für die moder-nen Wissenschaften konstitutive Erfahrungen gedeutet.57 Dabei ging es nicht mehr nur um die Untersuchung von Diffusionsmechanismen, sondern vielmehr um die Historisierung von westlichen Objektivitäts-regimen in der Kontaktzone mit dem »Anderen« und um die Heraus-bildung eines globalen Bewusstseins im Zeichen kolonialer Macht-asymmetrien.58 So argumentiert Tony Ballantyne, Forschungsreisen, die Implementierung neuer Vermessungspraktiken und die Etablierung kolonialer Herrschaft hätten seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Form kognitiver Globalisierung im Zeichen eines »imperialen Wissenssystems«

geführt.59 In vielen dieser Studien drückte sich der Einfluss der postcolonial studies aus. Nicht der Beitrag von Forschungsreisenden zu einem objek-tiven, universellen Wissenskorpus stand nun zur Debatte, sondern die Forschungsreise als Ort der Entstehung westlicher Epistemologien und

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54 Vgl. Basalla, The Spread of Western Science.

55 Vgl. Crawford, Nationalism and Internationalism.

56 Ein Beispiel für dieses Genre ist gleichzeitig einer der Klassiker der brasilianischen Wissenschaftsgeschichte: Schwartzman, Formação da comunidade científica; enzyklopädischer angelegt, vom Ansatz jedoch verwandt ist Ferri/Motoyama (Hg.), História das ciências.

57 Vgl. Stafford, Scientific Exploration; Drayton, Nature’s Government; Edney, Mapping an Empire; Burnett, Masters of All They Surveyed; für eine nicht-westliche Perspektive vgl. Heé, Imperiales Wissen.

58 Der von Conrad geprägte Begriff der »kolonialen Globalität« erweist sich zur Umschrei-bung der Verflechtung von Globalisierung und Kolonialismus als hilfreich, vgl. Conrad, Globalisierung und Nation, S. 41–44.

59 Vgl. Ballantyne, Empire, Knowledge and Culture.

klassifizierender Weltaneignung.60 Die »Rationalität« der westlichen Wissenschaft wurde nunmehr als Herrschaftsgeste gedeutet, die in den Kolonien entstehenden wissenschaftlichen Praktiken hätten »im Gegensatz zur Universalität des europäischen Originals« nur »lokal gültige, hybride und blasse Kopie[n]« dargestellt.61 Speziell die Geologie wurde in ihrer systematischen Form im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Element kolonialer Globalität und imperialer Vermessung, aber auch von inner- und außereuropäischen Projekten der Nationalstaatsbildung.62

Auch wenn die Geowissenschaften in der Tat eine besondere Bezie-hung zur Ausübung territorialer und damit auch kolonialer Herrschaft aufwiesen, hat die Wissenschaftsgeschichte in jüngerer Zeit von der Vorstellung einer spezifisch »kolonialen« Wissenschaft Abstand genom-men. Neben der heute verbreiteten Ablehnung einer normativen Eintei-lung in »gute« und »schlechte« Wissenschaft ist ein wichtiger Grund hierfür, dass wissenschaftliches Wissen in Zirkulationsbewegungen entstand, die sich nie an klaren kolonialen oder nationalstaatlichen Grenz-ziehungen orientierten.63 Die sowohl in der Historiographie zur Ausbrei-tung westlicher Wissenschaften als auch in der zu Empire und Kolonia-lismus angelegten Dichotomien zwischen westlichem und indigenem Wissen sowie zwischen Metropole und Kolonie sind in den letzten Jahren ebenfalls in die Kritik geraten – die Rede ist von der Notwendigkeit der

»Provinzialisierung von Wissenschaft und Technik«.64

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60 Vgl. paradigmatisch Pratt, Imperial Eyes; Carter, The Road to Botany Bay; Kennedy, British Exploration in the Nineteenth Century, S. 1881–1884. Programmatisch zur den Verflechtungen zwischen Peripherie und Metropole ist Stoler/Cooper, Between Metro-pole and Colony.

61 Raj, Beyond Postcolonialism, S. 341. Hier findet sich auch ein umfassender Literatur-bericht zur postkolonialen wissenschaftshistorischen Literatur in Indien. Vgl. ferner Rosenberg, Transnationale Strömungen S. 924–925. Klassische Arbeiten zu Wissen-schaft und Technik als Instrumente der HerrWissen-schaftsausübung und der Herstellung kultureller Differenz sind Headrick, The Tools of Empire, und Adas, Machines as the Measure of Men.

62 Vgl. Wu, Underground Empires; Osterhammel, Forschungsreise und Kolonial-programm; Dubow, Earth History; Zeller, The Colonial World; stark im Zeichen der Kolonialismuskritik und dadurch nicht sehr nuancenreich: Stafford, Annexing the Land-scapes. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1164–1167, subsumiert in diesem Zusammenhang die Geologie unter die Geographie.

63 Vgl. Tilley, Africa as a Living Laboratory, S. 10–11.

64 Anderson, Postcolonial Technoscience, S. 651; vgl. auch Chambers/Gillespie, Locality in the History of Science. Die Strategie des Provinzialisierens wurde angeregt durch Chakrabarty, Europa provinzialisieren.

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Zur Überwindung dieser Dichotomien haben unterschiedliche Autoren Zirkulationsmodelle vorgeschlagen, die sowohl in ihrem räumlichen Zuschnitt offen sind als auch der »praktischen Wende« der historischen Wissenschaftsforschung Rechnung tragen. Die Zirkulationsmetapher stellt die Interaktionen von Wissensträgern sowie die Bewegungen von Akteu-ren, Artefakten, Messinstrumenten und Wissensinhalten als Orte der Wissensproduktion in den Mittelpunkt. Sie weist Raummetaphern zurück, die a priori auf festgelegte Zentren verweisen.65 Darüber hinaus betont die neue Globalgeschichte der Wissenschaften die Bedeutung nichtwissen-schaftlicher Akteure in Prozessen der Wissensproduktion, schließlich spielten gerade in den produktiven Interaktionsräumen »go-betweens« wie Reisende, Händler, lokale Helfer, indigene Führer, Missionare, Übersetzer oder Amateurforscher eine wichtige Rolle.66 Der Chinahistoriker Fa-Ti Fan hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass der Zirkulationsbegriff allzu reibungslose Abläufe und geschlossene Kreisläufe impliziert. Dem gegenüberständen häufig komplexe Aushandlungen, Machtasymmetrien, vielfältige Bewegungsrichtungen, Konkurrenzsituationen und abgebro-chene Übersetzungsketten.67 Doch in diesen begrifflichen Differenzierun-gen zeigt sich bereits der Nutzen einer globalhistorischen Perspektive, die keine Teleologien voraussetzt und die sich eben nicht als eine Geschichte der globalen Wissensakkumulation versteht, sondern unseren Blick auf Akteure, Vermittlungsprozesse und verkettete Kontexte richtet.68 Nach Jahrzehnten des Abarbeitens an Basallas Diffusionsthese steht die Erkenntnis, dass der europäische Ursprung der meisten Elemente der gegen Ende des 19. Jahrhundert als universell anerkannten Wissenschaft kaum geleugnet werden kann, dass aber einerseits dieser Ursprung globalen Erfahrungen und Einflüssen ausgesetzt war und dass andererseits die Mechanismen des Transfers und der Übersetzung viel komplexer und

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65 Vgl. Raj, Beyond Postcolonialism, S. 345; Fan, The Global Turn, S. 252; Secord, Knowledge in Transit, S. 664.

66 Vgl. Sivasundaram, Sciences and the Global, S. 158; Safier, Global Knowledge;

Schaffer/Roberts/Raj/Delbourgo (Hg.), The Brokered World.

67 Vgl. Fan, The Global Turn, S. 252–253.

68 Als Gegenposition, nämlich für eine makrohistorische Weltgeschichte, welche die Wissensentwicklung als »globalen Lernprozess« auffasst, ist zu nennen Renn/Hyman, The Globalization of Knowledge.

unberechenbarer waren, als es die Vorstellung linear verlaufender Phasen der Verbreitung suggerierte.69

Während in der Wissenschaftsgeschichte in den vergangenen Jahr-zehnten also vor allem die Frage im Mittelpunkt stand, wie und in welchen Räumen wissenschaftliche Fakten konstruiert werden, nimmt die jüngere Wissensgeschichte eine breitere Perspektive auf die Rolle von Wissen in der Gesellschaft ein. Somit folgt sie den methodologischen Entwürfen, mit denen Peter Berger und Thomas Luckmann bereits 1966 die Wissenssozi-ologie von einer wissenschaftlichen oder philosophischen Ideengeschichte abzugrenzen versuchten.70 Als wichtigste Referenzen für die theoretische Eingrenzung des Wissensbegriffs, wie ihn besonders die heutige deutsch-sprachige Wissensgeschichte verwendet, sind Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Bruno Latour zu nennen. In seinem Entwurf des genealogi-schen Verfahrens betont Foucault den Zusammenhang zwigenealogi-schen Wissen und Macht. Der Wahrheitsdiskurs dient in dieser Perspektive der diskursi-ven Ausgrenzung und Beherrschung anderer, populärer Wissensformen sowie der gesellschaftlichen Kontrolle.71 Bei Bourdieu ist das Wissen als Teil des Habitus »inkorporiert«, der das Handeln in Feldern strukturiert.

Felder sind autonome »soziale Universen«, die nach bestimmten Regeln funktionieren, die sich der Habitus »einverleibt«. Das Wissen dient der Distinktion, ist gleichzeitig aber »präperzeptiv«, d.h. die Praktiken, durch die es sich äußert, lassen sich nicht als Ausdruck bewusster, rationaler Inte-ressen begreifen.72 Die Ethnomethodologie Latours vollzieht die bei Bourdieu bereits angelegte »praktische Wende« vollends, indem sie das Wissen als Resultat von Assoziationen, Übersetzungen und erfolgreichen Netzwerkbildungen begreift, die der Glaubwürdigkeit eines Claims zur Durchsetzung verhelfen und denen es gelingt, andere Claims vor dem

»Tribunal der Vernunft« als irrationalen Glauben zu degradieren.73 So unterschiedlich die hier nur versatzstückartig dargestellten theoretischen Perspektiven sein mögen: Macht, Distinktion, Praktiken, Status,

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69 Diese globale Dimension »europäischer« Wissenschaft rückt bei Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1147–1151, in den Hintergrund, anders als beispielsweise bei Conrad, Enlightenment in Global History, insbesondere S. 1010–1013.

70 Vgl. Berger/Luckmann, The Social Construction of Reality.

71 Vgl. Foucault, Two Lectures, insbesondere S. 83–85; ders., ›Ich bin ein Sprengmeister‹, S. 199–200.

72 Vgl. Bourdieu, Ist interessenfreies Handeln möglich?, insbesondere S. 145–149.

73 Vgl. Latour, Science in Action, S. 179–213.

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würdigkeit, Netzwerke – all diese Begriffe sind zentral für eine Operatio-nalisierung des Wissensbegriffs.

Ganz allgemein meint »Wissen« die »Konstruktion von Realität«74, die

»in einer Gesellschaft sozial objektivierten Sinndeutungen«.75 Wissen ist laut Achim Landwehr nicht unterscheidbar von Glaube oder Meinung, woraus folge, »dass für eine Geschichte des Wissens all das als Wissen in Betracht kommt, was für sich selbst Wissensstatus reklamiert«.76 Wissen ist eine Ressource, welche zur Förderung des Zusammenhalts epistemischer Gemeinschaften sowie zur sozialen Mobilität von Gruppen und Individuen eingesetzt werden kann. »Formen und Inhalte des Wissens« stellen Jakob Vogel zufolge »einen wesentlichen Bestandteil der spezifischen Kultur der einzelnen sozialen Gruppe und damit ein entscheidendes Kriterium für ihre Außenabgrenzung und Binnendifferenzierung« dar.77 Wissen grenzt jedoch nicht nur ab, es lässt auch Möglichkeiten für Verbindungen entste-hen. Es ist nicht nur das Resultat, sondern häufig Vorbedingung zum Aufbau und kittende Substanz für von Stabilisierung von Netzwerken.

Die Wissensgeschichte ist besonders in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft seit den 2000er Jahren verbreitet.78 Die Forderung nach einer Historisierung der Kategorie »Wissen« erhoben Historikerinnen und Historiker besonders als Reaktion auf die von der Soziologie bereits seit den 1960er Jahren konzeptionalisierte und in den 1990er Jahren wiederentdeckte »Wissensgesellschaft«. Mit ihr verband sich die Diagnose, dass das Wissen als Ressource noch nie so entscheidend für kollektive und individuelle Handlungsmöglichkeiten gewesen sei wie in der Gegenwart des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Stehr und Grundmann haben

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74 Vgl. Berger/Luckmann, The Social Construction of Reality.

75 Knoblauch, Thomas Luckmann, S. 132.

76 Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen, S. 66.

77 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, S. 644–645.

78 Der Begriff »Wissensgeschichte« taucht indes schon auf in Fleck, Entstehung und Entwicklung, S. 31, einem der Gründungstexte der Wissenschaftssoziologie. David Gugerli und Daniel Speich Chassé haben auf die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze hingewiesen, die sich selbst als Wissensgeschichte bezeichnen, vgl. Speich Chassé/Gu-gerli, Wissensgeschichte. Auch zwischen dem deutschen, englischen und französischen Sprachraum gibt es Unterschiede. So ist etwa die zweibändige Social History of Knowledge von Peter Burke eine zwar vielschichtige, vom Untersuchungsgegenstand her jedoch recht konventionelle Geschichte wissenschaftlichen Wissens unter praxeologischen Gesichtspunkten mit dem Schwerpunkt auf Zentraleuropa, Nordamerika und mit gelegentlichen Schlaglichtern auf andere Weltregionen, vgl. Burke, A Social History of Knowledge I; ders., A Social History of Knowledge II.

argumentiert, dass der Vormarsch der Expertenkultur in Form von Bera-tern, Gutachtern und Sachverständigen ein Symptom der modernen Wissensgesellschaft sei. Wissen – und gemeint ist vor allem technisch-wissenschaftliches Wissen – werde als Produktionsfaktor wichtiger als Arbeit, Eigentum oder Boden.79 Szöllösi-Janze verwendet den Begriff der Wissensgesellschaft im Sinne einer

»fortgeschrittene[n] Gesellschaftsformation […], in der wissenschaftliches und technisches Wissen seine soziale Funktion kontinuierlich erweitert hat, bis es alle öffentlichen wie privaten bis intimen Lebensbereichen durchdringt«.80

Spätestens hier wird deutlich, dass gegenüber dem Begriff der Wissens-gesellschaft und insbesondere seiner Übertragung auf andere Kontexte Vorsicht geboten ist, da ihm oft teleologische Grundannahmen zugrunde liegen. Jakob Vogel hat den fehlenden historischen Tiefgang der Analysen von Stehr und anderen beklagt, die von abstrakter Begrifflichkeit geprägt waren und die dem technisch-wissenschaftlichen Wissen erst für die Zeit nach 1945 eine wichtige Rolle in gesellschaftlichen Entwicklungen zuschrieben.81 Desweiteren werde wissenschaftliches Wissen meist als etwas Homogenes gedacht und Spannungen zwischen Disziplinen und Wissensfeldern ignoriert. Daher hat Vogel zu Recht gefordert,

»den Prozess des Vordringens (aber vielleicht auch des Zurückschreitens) des wissenschaftlichen Wissens historisch angemessen darzustellen, bevor man die These vom fundamentalen Unterschied unserer heutigen Gesellschaft zu den vergangenen Epochen verbreitet«.82

Begreift man die Wissensgesellschaft also nicht als Ergebnis eines linearen Prozesses, sondern als ein transepochales Brennglas, mit dem die gesell-schaftliche Rolle spezifischer Wissensformen und -inhalte, ihre Überset-zung, Expansion und Kontraktion, in den Blick genommen werden kann, so zeigt sich, dass die Wissensgeschichte nicht nur für die Analyse bestimmter Gesellschaftsformationen infrage kommt, sondern eine univer-sell einsetzbare Brücke zwischen Wissenschafts-, Technik-, Sozial-,

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79 Vgl. Stehr/Grundmann, Expertenwissen, S. 7. Einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Theorieentwürfe in Bezug auf die Wissensgesellschaft bietet Knorr Cetina, Epistemic Cultures, S. 5–8.

80 Szöllösi-Janze, Politisierung der Wissenschaften, S. 81.

81 Vgl. Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, S. 642; dazu auch zentral Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen.

82 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, S. 644.

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Unternehmens- und sogar Umweltgeschichte sein kann. Anders als die Wissenschaftsgeschichte untersucht die Wissensgeschichte nicht primär die Geschichte wissenschaftlicher Ideen, die sich immer mehr einer von der Gegenwart her gedachten »Wahrheit« annähern, sondern sie »untersucht die vielfältigen, verstreuten Bedingungen und Kontingenzen, die einer Wahrheit zur Durchsetzung gegenüber einer anderen verhalfen«.83 Dabei beschränkt sie sich nicht auf die am Ende von Kontroversen stehenden wissenschaftlichen Wahrheiten, die zu abstrakten Artefakten werden, sondern nimmt gezielt die gegenseitige Durchdringung unterschiedlicher gesellschaftlicher Sphären in den Blick.

Allerdings haben sich bislang die meisten wissenshistorischen Studien allein auf die gegenseitige Durchdringung von Wissenschaft und Staat konzentriert. Das ist nachvollziehbar, da sich anhand von Behörden und Verwaltungen besonders gut der Nexus zwischen Wissen und Herrschaft sowie zwischen epistemischen und gesellschaftlichen Ordnungen zeigen lässt.84 In Lateinamerika gibt es eine Tradition der Analyse techno-kratischer Herrschaftsformen.85 James Scott hat in einem einflussreichen Werk die »intellektuellen Filter« beschrieben, mit denen der moderne Staat Landschaft und Bevölkerung »lesbar« macht.86 Der venezolanische Historiker Fernando Coronil hat auf wichtige blinde Flecken des Scott’schen Modells hingewiesen.87 Sein zentraler Kritikpunkt ist die Auslassung von Marktlogiken und -akteuren. Scott selber bemerkte dies:

»Der Kapitalismus im großen Maßstab ist genau wie der Staat eine Kraft der Homogenisierung, der Gleichförmigkeit, des Rasterförmigen und der heroischen Simplifizierung, mit dem Unterschied, dass sich Simplifizierung für Kapitalisten rentieren muss.«88

Die Transformation von Land in eine »fiktive Ware« durch die Ausbrei-tung von Markt- und Austauschbeziehungen ist zwar seit Karl Polanyis Great Transformation in der politischen Theorie viel zitiert worden.89 Dennoch spielen die konkreten Logiken der Produktion und Zirkulation

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83 Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, S. 171.

84 Vgl. zum Beispiel Plotkin/Zimmermann (Hg.), Los saberes del estado; Brendecke, Imperium und Empirie; Loveman, The Race to Progress.

85 Vgl. Baud, The Quest for Modernity.

86 Vgl. Scott, Seeing Like a State.

87 Vgl. Coronil, Smelling Like a Market.

88 Scott, Seeing Like a State, S. 7–8.

89 Vgl. Polanyi, The Great Transformation.

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