POLITIK TAGUNGSBERICHT
86. Hauptversammlung des Marburger Bundes in Köln
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„Arztin - kein fünftes Rad am Wagen"
Zum zweiten Mal — nach der Hauptversammlung während der Ärztetagswoche in Lübeck-Travemünde im Mai 1985 — hat sich der Marburger Bund (Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands e.V.) — während seiner 86.
Hauptversammlung in Köln (am 4./5. November 1994) erneut engagiert für eine Verbesserung der beruflichen, existentiellen, wissenschaftlichen, betrieblichen und sozialen Situation der Ärztin- nen eingesetzt. Trotz einiger Fortschritte könne die Entwicklung nicht darüber hinwegtäuschen, daß wie bisher schon eine Vielzahl
struktureller Probleme und „subtile Diskriminierung" die gefor- derte Gleichstellung von Ärztinnen und Ärzten behindern. Die Kli- nikärztegewerkschaft MB, in der heute 20 000 weibliche Mitglie- der (von 57 000) organisiert sind, will mit „integrierten Frauen- förderungskonzepten" das Schneckentempo auf diesem Gebiet be- enden und dafür sorgen, daß die Ärztinnen nicht weiter „am Tropf hängen". Daneben sollen die bisher schon verfochtenen berufspo- litischen Essentials mit Macht verteidigt und bei der nächsten Stufe zur Strukturreform im Gesundheitswesen eingebracht werden.
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u Beginn der 86. Hauptver- sammlung des Marburger Bun- des legte Christina Färber, die Frauenbeauftragte der Freien Uni- versität Berlin, dar, was in das Kon- fliktfeld „Klinik, Karriere, Kinder"bei Ärztinnen hineinspielt: In kei- nem anderen Beruf sei die struktu- relle — nicht die individuelle — Be- nachteiligung von Frauen so ausge- prägt wie gerade in der Medizin.
Obwohl der Anteil der Frauen un- ter den Studienanfängern im Be- reich der Humanmedizin heute auf 50 Prozent gestiegen ist, sind nur 35 Prozent aller berufstätigen Ärzte weiblich. Zugleich liegt ihr Anteil bei den arbeitslos gemeldeten Ärz- ten/Ärztinnen mit 55 Prozent über- proportional hoch.
Die Schwierigkeiten und Bar- rieren türmen sich trotz gut gemein- ter Maßnahmen und Ratschläge be- reits vor, während und nach dem Studium turmhoch auf: Christina Färber, zugleich Bundessprecherin der Frauen- und Gleichstellungsbe- auftragten an Hochschulen, konsta- tierte: Obwohl viele junge Frauen e:
nach dem Abitur Ärztin werden wollen, scheitert dieser Wunsch bei 2;
fast der Hälfte dieser Frauen, ob- 3 wohl sie sonst ihr Studium zeitge-
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recht und zielstrebig abschließen.
Gegenüber ihren männlichen Kol- legen seien sie bereits beim Studi- en-Einstieg insoweit benachteiligt, als bei männlichen Aspiranten der Zivil- oder Wehrdienst als Lei- stungsnorm des Numerus clausus anerkannt werde. Daraus folgerte
Gastrednerin Färber: Eigentlich müßten entsprechend der gesell- schaftlichen Repräsentanz und des prozentualen Anteils an der Ge- samtbevölkerung mindestens 51 Prozent der Studienplätze für Frau- en reserviert werden — eine Forde- rung nach Quotierung, der sich in dieser Rigorosität der Marburger Bund allerdings nicht anschließen mochte. Auch außerhalb und inner- halb des Wissenschaftsbetriebs wür- den Kollisionen zwischen Beruf, Karriere und Familie den Ärztin-
„Integrierte Frauenförderungskonzepte”, speziel für Ärztinnen, ebenso wie die Diskussion des vom 97. Deutschen Ärztetag im Mai 1994 beschlosse- nen „Integrationsmodells" von ambulanter und stationärer Versorgung standen im Mittelpunkt der 86. Hauptversammlung des Marburger Bundes (MB) im Maternushaus zu Köln. Bild: Dr. med. Frank Ul- rich Montgomery, Vorsitzender des MB, Homburg.
nen zum Nachteil gereichen und von der von Männern beherrschten Berufs- und Arbeitswelt berufs- und karriereverhindernd Stolper- steine in den Weg gelegt. Christina Färber: „Das Verhalten, das Ärztin- nen und Ärzten im Klinikalltag ab- gefordert wird, entspricht nicht den idealistischen Vorstellungen über den helfenden Beruf. Die hierarchi- schen und bürokratischen Struktu- ren, die alltägliche Überforderung und Hektik erfordern Aggressivität, Durchsetzungswillen und hohe Selbstsicherheit. Ärztinnen reagie- ren bereits oft mit Selbstzweifeln und Rückzug — also mit Mechanis- men, die nicht helfen, sich im Beruf durchzusetzen."
Integrations-Konzept
Tatsache ist auch: Nur wenige Ärztinnen haben eine abgeschlosse- ne Weiterbildung. In Führungsposi- tionen ist und wird ihnen oft der Weg verbaut, nur fünf Prozent er- reichen die Position eines leitenden Krankenhausarztes, und nur wenige erklimmen die oberste Stufe der Karriereleiter im Wissenschaftsbe- reich — sei es als Abteilungsleiterin oder als Inhaberin eines Lehrstuhls.
Das Sofortprogramm des Mar- burger Bundes ist ebenso handfest wie aktuell:
Nachhaltig setzte sich der MB für ein „integriertes Frauenförde- rungskonzept" ein. Dies ist mit fol- genden Elementen „bestückt":
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 46, 18. November 1994 (21) A-3161
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• Sämtliche Krankenhäuser und Universitätskliniken sollten Frauenförderpläne entwickeln und realisieren. Dabei müsse im Rah- men des Personalentwicklungs- plans eine angemessene, gleichge- wichtige Stellenbesetzung mit Ärz- tinnen vorgenommen werden. Als
„angemessen" wird der Anteil der Approbationen beziehungsweise der Anteil der Ärztinnen an der je- weils vorangehenden Qualifikati- onsstufe definiert. Langfristig müs- se diesem aber ein spezielles Quali- fizierungsprogramm vorausgehen.
Erst durch den Abbau übermäßi- ger und zum Teil unbezahlter Überstunden und Bereitschafts- dienste werde es sowohl Ärzten als auch Ärztinnen möglich werden, ihren Familienverpflichtungen in ausreichendem Maß nachzukom- men.
Dringend notwendig seien auch qualifizierte Teilarbeitsplätze, die als gleichwertige Arbeitsplätze über Dienstpläne gemanagt und gesteuert werden können.
Um einen besseren Überblick über die vorhandenen Stellen zu erhalten, sollten die Ärztekam- mern ein Nachweisverzeichnis führen. Die Krankenhäuser sollten verpflichtet werden, jährlich ihr Kontingent zu melden. In Teilzeit sollte auch im ambulanten Bereich („Praxis-Sharing") gearbeitet wer- den können. Dazu müsse die Zu- lassungsverordnung geändert wer- den.
Als eine notwendige „flankie- rende Maßnahme" bezeichnet der Marburger Bund die Einrichtung von Kindergärten an Krankenhäu- sern und Unikliniken. Große Hoff- nungen setzt der Verband auf den zum 1. Januar 1996 normierten Rechtsanspruch auf einen Kinder- gartenplatz. Der Selbst- und Mithil- fe von Eltern, Krankenhäusern, Kommunen und Gemeinden sowie Verbänden von Krankenhäusern wird auf diesem Gebiet Flexibilität und Ideenreichtum empfohlen. Er- höhte Aufwendungen zur Kin- derbetreuung müßten voll als B etriebsausgaben/Werbungskosten wie alle anderen berufs- und be- triebsbedingten Aufwendungen steuerlich absetzbar sein.
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Um weibliche Aspiranten im Wissenschaftsbereich zu fördern, müßten gesonderte Promotions-, Habilitations- und Wiedereingliede- rungsstipendien im Hochschulson- derprogramm gewährt werden. Zu- sätzliche Länderinitiativen sollen weiter ausgebaut werden.
Lebhaft kritisiert der Marbur- ger Bund auch die Tatsache, daß die Aufgabenbereiche Forschung, Leh- re und Patientenversorgung zwi- schen Ärztinnen und Ärzten nicht gleichgewichtig und gerecht verteilt seien. Vielfach fühlten sich die Ärz- tinnen häufiger als ihre männlichen Kollegen ausschließlich in die Pati- entenversorgung abgedrängt, ob- wohl die Einbindung in die Routi- neaufgaben der Hochschule bis hin in die Verwaltungs- und Gremienar- beit geradezu Voraussetzung für ei- ne spätere akademische Karriere ist. Darauf müsse auch bei Stellen, die über die Drittmittel gefördert werden, geachtet werden.
Ambulant/stationär
Mit Impetus verteidigte der Vorsitzende des MB, Dr. med.
Frank Ulrich Montgomery, Ham- burg, das vom Deutschen Ärztetag im Mai 1994 in Köln beschlossene Modell zur Integration ambulant- stationärer Leistungen und zur Ver- zahnung des ambulanten mit dem stationären Versorgungssektor als die ärztliche Reform-Option für die Strukturreform. Eine ambulant/sta- tionäre Verzahnung bedeute keine Systemveränderung, so der MB, sondern lediglich eine Verschiebung der Grenzen zwischen dem ambu- lanten und stationären Bereich. Die Zuständigkeitsgrenzen würden da- durch nicht verwischt oder aufgeho- ben. Die „Besitzstände" sowohl der Ärzte als auch der Krankenhäuser sollen weitgehend unangetastet bleiben; weder der eine noch der andere Sektor dürfe Kostgänger oder Nutznießer des anderen wer- den, wollte Frank Ulrich Montgo- mery übertriebenen Abwehrreak- tionen und Ängsten aus dem ärztli- chen Lager entgegenwirken. Aller- dings eröffnet das Modell auch qua- lifizierten Krankenhausärzten die
Möglichkeit, ambulant oder sta- tionär hochspezialisierte Leistun- gen zu erbringen, ohne sich selbst niederlassen zu müssen. Auch die Leitungshierarchie in den Kranken- häusern und Unikliniken könnte dadurch aufgelockert werden, hofft der Verband. Energisch wider- spricht der MB den Bestrebungen der Deutschen Krankenhausgesell- schaft, eine institutionelle Lösung der Verzahnung qua Gesetzgeber durchzudrücken. Inzwischen ver- handelt eine Kommission „Integra- tion" des MB und der Kassenärztli- chen Bundesvereinigung darüber, wie diese Forderung in konkrete vertragliche Abmachungen und Ge- setzesinitiativen umgegossen wer- den kann. Zumindest sollten Mo- dellversuche zur Integration auch im Bereich der Grund- und Regel- versorgung gefördert werden.
Skeptisch bleibt der MB bei der Beurteilung der Wirkungsweise von Fallpauschalen nach dem neuen Entgeltsystem. Falls dadurch eine Patientenselektion und eine Ange- botsreduktion bewirkt werden, müßten die Pflegesatzverordnung sofort geändert und die Abrech- nung über Fallpauschalen abge- schafft werden. Das neue Finanzie- rungsrecht sei von vornherein zum Scheitern verurteilt, falls die Kran- kenkassen ihr Ausgangsangebot für den Punktwert (45 bis 50 Pfennige) nicht wesentlich erhöhen. Engagiert setzt sich der MB für eine Durch- forstung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung und für vermehrte Qualitätssiche- rungsmaßnahmen in der Medizin ein. Obduktionen seien ein wichti- ges Instrument zur Qualitätssiche- rung. Folglich müßten die Kosten für solche Maßnahmen auch als pflegesatzfähig anerkannt werden.
Ein „Selbstläufer" ist das Plä- doyer für eine geordnete und ge- rechte Beteiligung aller Ärzte an den Poolerlösen der liquidationsbe- rechtigten Ärzte. An den Früchten des Pools müßten auch die Ärzte im Praktikum teilhaben. Die nächst fällige Novelle zur Berufsordnung müßte sicherstellen, daß die Mitar- beiterbeteiligung zwingend und prä- zis geregelt wird (Vorbild: Baden- Württemberg). Dr. Harald Clade A-3162 (22) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 46, 18. November 1994