• Keine Ergebnisse gefunden

Keine Zukunft ohne Herkunft: Die Alpen in langfristiger Perspektive

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Keine Zukunft ohne Herkunft: Die Alpen in langfristiger Perspektive"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Keine Zukunft ohne Herkunft:

Die Alpen in langfristiger Perspektive

Jon M at hieu

Schw eizerische Akademie der Geist es- und Sozialw issenschaf t en (SAGW), Bern

als Lebensraum der ansässigen Bevöl- kerung. In gebotener Kürze befasst sich der folgende Text mit A spekten dieser

«A lpes vécues» während der langen Periode von 1500 bis 1900. Wir machen an sechs Stationen halt und bewegen uns dabei von der A lp zur menschli- chen Siedlung, von der Siedlung zum Staat. A uf dem Weg haben wir G ele- genheit, faktische und konzeptionelle E inzelfragen zu diskutieren, die für die Nutzungsproblematik von Belang sind.

A m Schluss münden die historischen Skizzen in einige gegenwarts- und zu- kunftsbezogene Ü berlegungen.

2 Die Alp

Wenn es das eigentlich A lpine in der G eschichte gibt, dann auf der A lp, hoch oben auf den riesigen Sommerweiden mit ihren verstreuten Viehherden und ihren einsamen H irten. So will es die Tradition. D ie A lpen sind ein grosses G ebirge und verkörpern sich in ihren weitläufigen A lpweiden. Im H elveti- schen Lexikon, Band 1, erschienen A nno 1747, findet man das Stichwort in der ersten und auch in dieser zweiten Bedeutung: «A lpen, A lpung, werden in den Eydgenössischen und Zugewand- ten O rten dermahlen gemeinlich ge- nennet die Weyden auf den hohen Ber- gen, welche nicht abgemayet, wol aber von dem Vieh, mit welchem man, wie es heisset, zu A lp fahret, den Sommer durch abgeätzet werden.»

Ludwig Wallrath Medicus, ein deut- scher Schriftsteller, der fünfzig Jahre später (und damit früher als viele ande- re) einen ausführlichen Bericht über

die A lpwirtschaft veröffentlicht, hat das H elvetische Lexikon möglicherweise konsultiert. Bevor er seine Forschungs- reise ins Gebirge antritt, stehen ihm je- denfalls nur schriftliche und mündliche A uskünfte zur Verfügung. Die A lpwirt- schaft denkt er sich daher als intensive Form der Viehwirtschaft, die er, der A grarreformer, allgemein zu fördern gedenkt. «Was die Fruchtbarkeit der A lpen betrift, so gieng es mir, wie so manchen andern Reisenden: ich hatte so viel von der Fruchtbarkeit und Ergie- bigkeit der A lpen gehört, dass ich mir vorstellte, die Kühe müssten wenigstens bis an den Bauch im Gras gehen, weil ich diese Bergweiden mit Wiesen ver- wechselte.» Am Reiseziel angekommen staunt Medicus nicht wenig über die wirklichen A lpweiden und ihr «kurzes, ganz niederes Gras», das gleichwohl eine

«gemächlichen U nterhalt, ja sogar R eichthum» verheissende Vieh- und Milchwirtschaft ermögliche.

Wie es sich mit diesem R eichtum und vor allem mit seiner Verteilung verhält, sei hier dahingestellt, doch ei- nes muss angesichts weiterhin beste- hender U nklarheiten über unsere E po- che gesagt sein: D ie A lpwirtschaft ist eine extensive Wirtschaftsform. D ie H ochweiden können nur während we- nigen Monaten im Jahr bestossen wer- den, ihr A nteil am G esamtprodukt der Berglandwirtschaft ist im allgemeinen kleiner als man denkt. D ie meisten G üter werden nämlich auf den Sied- lungsstufen erzeugt, wo sich auch der grösste Teil der Bevölkerung während der längsten Z eit aufhält. Man tut den H irten, Sennen und Sennerinnen kei- nen A bbruch, wenn man ihre saisonale Beschäftigung und Leistung als solche benennt. D ie Ü berlieferung, wonach die A lp das Z entrum der alpinen Le- benswelt bildet, ist vor allem eine Denk- figur von Schriftstellern, die das G ebir- ge oft von aussen betreten oder auch nur beschreiben – man kann es ihnen fast nicht verargen, wenn sie sich täu- schen und täuschen lassen wollen. Doch nun hinunter zum Wald.

Nachhaltige Nutzung ist ein gesellschaftlicher Prozess und eine gesellschaftlich diskutierte Zielvorstellung. Wie sich der künftige Nutzungsprozess im einzelnen gestalten wird, bleibt ungewiss. D ie A rt, wie wir über die Vorstellung von Nachhaltigkeit diskutieren, bestimmt sich nach der Rolle, die wir uns im Verhält- nis zur U mwelt zuschreiben. Ein Blick auf die langfristige Geschichte des A lpen- raums legt nahe, dass sie weder in der A npassung an die Natur noch in deren Beherrschung liegen kann.

1 Einleitung

Jede ernsthafte, innovative Beschäfti- gung mit der Z ukunft schliesst mit Vor- teil eine Beschäftigung mit E ntwick- lungen der Vergangenheit ein. U nsere Wahrnehmung ist schon immer histo- risch strukturiert – wer die H erkunft bestimmter Vorstellungen kennt, kann unter U mständen A bstand zu ihnen gewinnen und so zu einer Neueinschät- zung der Lage und Möglichkeiten un- serer Z eit gelangen. Für das Thema, das hier zur D iskussion steht, dürfte dieser Mechanismus besonders ins G e- wicht fallen, denn der A lpenraum bil- det mindestens seit der A ufklärung eine Projektionsfläche besonderer A rt.

D as aufklärerische und romantische A lpenbild entsteht im Z uge der Z ivili- sationskritik: D ie A lpen sind für Intel- lektuelle des 18., 19. Jahrhunderts ein G egenpol zu den Z entren, ein R aum des A ndersartigen, eine Verkörperung der Natur. Trotz Widerspruch und vie- len differenzierten Stellungnahmen begleiten uns diese Ideen bis in die G egenwart.

U m vom überlieferten sterilen G e- gensatz zwischen Natur und Kultur oder Wildnis und Z ivilisation wegzukom- men, muss man vor allem die A ussen- perspektive problematisieren, die ihm zugrundeliegt. Jean-François Bergier hat kürzlich die schöne Formel «D es A lpes traversées aux A lpes vécues»

geprägt. Sie bringt zum A usdruck, dass die historische Forschung den A lpen- raum heute nicht mehr einseitig von aussen betrachtet, gleichsam als The- ma des Flachlands und der D urchrei- senden, sondern ebensosehr von innen,

(2)

3 Der Wald

D er frühneuzeitliche Wald dient allen möglichen Z wecken, nur nicht zum Spa- zieren und Pilzsammeln (ausser am A l- pensüdhang, wo sich die Leute schon früh an Pilze heranwagen). Wo die Wälder sehr weitläufig sind, können sie sogar zum G etreideland mutieren. In der O bersteiermark geht das so: D ie sogenannten Waldbauern verfügen in der Nähe ihrer verstreut liegenden H öfe über intensiv genutzte G rundstücke;

daneben legen sie jährlich neue Ä cker an, je nach R essourcen und Bedarf etwa alle 15 bis 50 Jahre an derselben Stelle.

Z unächst wird der inzwischen aufge- kommene Wald geschlagen und die bes- seren Stämme betrieblichen und kom- merziellen Z wecken zugeührt. D ann äschert man das übrige H olz in einem kontrollierten Verfahren ein, verwen- det den Brand kurzfristig als A cker und anschliessend eine Z eitlang als Weide, nachher wächst er wieder ein. D iese

Brandwirtschaft ist in manchen R egio- nen der O stalpen kein R andphänomen wie in unseren G egenden (wo man sie ebenfalls kennt); sie ist bei allem A r- chaischen, das wir in ihr erblicken mö- gen, ein rationelles Verfahren. D ie letz- ten Brände werden in der zweiten H älf- te des 20. Jahrhunderts gelegt.

D abei hätte man im 19. Jahrhundert allen G rund gehabt, diese Nutzungsart einzustellen. D er «Schutz der G ebirgs- wälder» wird damals im ganzen A lpen- raum zu einem G egenstand der politi- schen Besorgnis und staatlichen Inter- vention. U nd dies nicht von ungefähr:

E s gibt Versorgungsprobleme (Berg- wälder liefern H olz für den steigenden Bedarf im Flachland), es geht um den A ufbau von zentralen Forstverwaltun- gen, ja um die beabsichtigte nationale Integration. Im Mittelpunkt der öffent- lichen D ebatte stehen aber Ü ber- schwemmungen und Ü berschwem- mungsgefahren in Tal- und Flachland- gebieten, die man der E ntwaldung von

Berggebieten zuschreibt. Schnell und stark entwickelt sich der staatliche Pro- tektionismus in Frankreich, wo der U mgang mit dem Wald besonders von einer Studie über G ebirgs- und Sturz- bäche im D epartement H autes-A lpes gebrandmarkt wird. «The work pro- vided justification for taking forest management away from peasants», stellt eine A nthropologin fest, «by apparently demonstrating that commu- nal practices of pasturing sheep in forests, as well as extravagant wood- cutting and clearing, had drastically increased river flooding.»

D er Z usammenhang zwischen E nt- waldung und Überschwemmung ist eine nicht uninteressierte Behauptung von Forstleuten und Politikern, welche der R ealität nur in geringem Mass ent- spricht. A ndere G ründe sind für die G efährdung von Flusslandschaften we- sentlich wichtiger. D och die Behaup- tung verfängt und trägt dazu bei, dass der Wald nun mit staatlicher H ilfe vie-

A bb. 1. D ie L andschaft Scham s 1655: D ie Federzeichnung von Jan H ackaert (1628 bis vor 1700) zeigt das Schams, seine Berge und Kulturlandschaft, aus dem Blickwinkel von Mathon. Im Vergleich zur G egenwart hat der Waldbestand im Jahr 1655 eine geringe A usdehnung. Q uelle: Solar, G . (H rsg): Jan H ackaert. D ie Schweizer A nsichten 1653–1656. Z eichnungen eines niederländischen Malers als frühe Bilddokumente der A lpenlandschaft, D ietikon-Z ürich 1981, Tafel 34.

(3)

le G ebiete zurückerobert, die er seit Jahrhunderten an die Bergbevölkerung abgetreten hat. Man braucht nur ein Bild aus jener Z eit etwas genauer zu betrachten, um sich dessen zu verge- wissern. Von Jan H ackaert, einem nie- derländischen Künstler, stammt eine minuziöse Federzeichnung des bünd- nerischen Schamsertals in der Mitte des 17. Jahrhunderts (A bb. 1). Nehmen Sie eine R eproduktion dieser Z eichnung samt einer Postkarte, die Ihre G rossel- tern aus dem Tal erhalten haben, mit auf die R eise ins Schams! D er ausge- dehnte Wald wird leicht als Kind des technischen Z eitalters zu erkennen sein.

4 Das Feld

1677 werden die Tiroler Bauern in ei- ner Flugschrift als «arbeitsame Berg- ameisen» bezeichnet. H undert Jahre später heisst es in einer A bhandlung über diese grosse G ebirgsregion: «...

dass es unserem Landmanne an der A rbeitsamkeit nicht mangle, hiervon überzeugen uns unzählige Proben. Wir sehen ihn auch das undankbarste E rd- reich mit unermüdetem Fleisse bear- beiten; er lässt sich die Mühe nicht reu- en, auf die abhängigen Ä cker die sich fast alljährlich herabsenkende E rde auf se in e m R ü ck e n wie d e r h in a u fzu - schlepppen, um den obern Teil seines Feldes bey der alten Fruchtbarkeit zu erhalten. E r scheut keine U ngemäch- lichkeit, die Fruchtbarkeit der G ründe bis an die steilesten H öhen der Berge zu erweitern, obschon solche, da das Pflügen wegen der grossen A bhängig- keit nicht stattfindet, alleine mit den H änden durch das mühsame H auen bearbeitet werden müssen.»

Kein Z weifel, die Landwirtschaft in den Bergen erfordert A rbeit – mehr A rbeit, A nstrengung und Mühe als in der E bene (falls diese nicht mit gros- sem E insatz entwässert und bewässert werden muss). A ber wir sollten des- halb nicht meinen, die Bauern seien in den A lpen gleichsam als A meisen ge- boren, ihre Belastung sei von Jahrhun- dert zu Jahrhundert unverändert hoch.

In Wirklichkeit nimmt die A rbeit mas- siv zu. Von 1500 bis 1900 steigt die Bevölkerung im A lpenraum schät- zungsweise fast um den Faktor drei.

Immer mehr Leute erwirtschaften auf demselben Boden immer mehr Pro- dukte. D as ist nur mit einem Z usatz- aufwand möglich: Von der extensiven

Schafhaltung abkommen und dafür mehr R indvieh, namentlich Kühe hal- ten! D ann wird die Stallfütterung wich- tiger, demzufolge die Futterprodukti- on. A lso die Wiesen nicht nur einmal, sondern mehrmals pro Jahr mähen und zudem fleissig wässern und düngen. Statt die Ä cker immer wieder ruhen zu las- sen alljährlicher A nbau und womöglich eine Nachfrucht pflanzen! Mais und Kartoffeln, seit dem 16. Jahrhundert bekannt, seit dem 18. Jahrhundert rich- tig eingeführt, eignen sich ebenfalls gut zur Intensivierung. Ein Kartoffelacker wirft mehr ab als ein Getreideacker glei- cher Grösse, gibt aber viel mehr zu tun.

D ies erweist sich in unserer Periode als wichtiges Merkmal der A grarent- wicklung: D ie Flächenproduktivität steigt, die A rbeitsproduktivität sinkt.

D aher übernimmt man Neues im allge- meinen nur zögernd bzw. unter D ruck.

E xtensive Nutzungsweisen wie die Brandwirtschaft sind im A ufwand/E r- trags-Verhältnis oft günstiger als in- tensive und werden beibehalten, so- lange hinreichend Boden zur Verfü- gung steht. Viele moderne Ö konomen, welche Fortschritt mit Produktivitäts- steigerung gleichsetzen, haben keinen Begriff von dieser Scherenbewegung – der A grarwissenschaft des 19. Jahrhun- derts ist sie noch ganz geläufig. G erade damals beginnen sich die D inge aber zu ändern. D ie technische R evolution in der Landwirtschaft sorgt jetzt für neue E ntwicklungsbedingungen, was das Berggebiet, maschinell nur schlecht zu bearbeiten, im Verhältnis zum Flach- land schwer benachteiligt. Bis 1850 und darüber hinaus fallen Unterschiede und Neuerungen im G erätebestand hinge- gen relativ wenig ins G ewicht. Wenn die Bauern zum Mais- oder Kartoffel- bau übergehen, wechseln sie zum Bei- spiel, unabhängig von der G eographie, oft auch vom Pflug- zum H ackbau, also vom «effizienten» zum «ineffizienten»

G erät.

5 Die Siedlung

D amit sind wir schon in der Siedlung angekommen, im Mittelpunkt des ge- sellschaftlichen Lebens. H ier steht die Kirche, hier finden wir meistens ein Wirtshaus, und hier ist nun mit aller D eutlichkeit zu sagen, dass Berggebiet nicht gleich Berggebiet ist. Stellen wir uns für einen Moment zwei R egionen vor, beide zur H auptsache landwirt- schaftlich orientiert.

In R egion A bestehen viele Siedlun- gen aus gestreuten, oft stark bevölker- ten E inzelhöfen. D ie durchschnittliche H aushaltsgrösse bewegt sich zwischen 7 und 9 Personen. D ie Mehrzahl der H aushalte verfügt über Knechte und Mägde. Im D urchschnitt trifft es fast 3 auf einen Betrieb, aber einzelne grosse bringen es auf 10, 15, ja 25. Insgesamt setzt sich ein Viertel bis ein D rittel der Bevölkerung aus G esindepersonen zu- sammen. Sie verbringen in der R egel ein, zwei Jahre auf einem H of, nachher quittieren sie den D ienst, um in der U mgebung eine neue Stelle anzutre- ten. Viele von ihnen sind schon in die U nterschicht geboren, häufig aus nicht- ehelichen Verbindungen, hohe Illegiti- mitätsquoten sind in der G egend nor- mal.

R egion B ist geprägt von einer dörf- lichen Siedlungsweise und von klein- bäuerlichen Betrieben (wie man sie in viel geringerer Z ahl auch in R egion A findet, wo sie eine von den H öfen un- terschiedene Kategorie bilden). E in durchschnittlicher H aushalt umfasst le- diglich 4 Personen. Betriebe mit G e- sinde sind selten. D ie Personen, wel- che man als Knechte und Mägde an- spricht, bilden 1 Prozent der Bevölke- rung. A nders als in R egion A heben sich die Bauern in diesem Milieu nicht als besondere Statusgruppe ab, doch an sozialer H ierarchie und klientelisti- scher A bhängigkeit besteht ebenfalls kein Mangel, unter anderem weil die Bodenparzellen nicht alle den Bewirt- schaftern gehören. Es ist mehr die Form der H ierarchie, welche sich unterschei- det – vielfach abgestuft und artikuliert in R egion A , eher informell und gradu- ell in R egion B.

D ie D aten für die beiden Steck- briefe kommen aus den A rchiven, vor allem von einer R eihe sogenannter Seelenbeschreibungen aus der Z eit um 1760. D ie Periode ist aber ausnahms- weise nicht entscheidend, frühere und spätere Q uellen würden Ä hnliches ergeben. D en O rt müssen wir dagegen präzisieren: H inter der grossbäuerli- chen, gesindereichen R egion A ver- birgt sich das österreichische H erzog- tum und spätere Bundesland Kärn- t en. Kärnten fällt in den O stalpen nicht etwa aus dem R ahmen. E in ex- tremes Beispiel für die grossbäuerli- chen Verhältnisse des O stens ist jener Pinzgauer «Bauernkönig», der im Jahr 1798 auf seinem H of nicht weni- ger als 43 Knechte und Mägde in D ienst hat.

(4)

Eine A grarfabrik solchen A usmas- ses wird man im Zentrum und Westen des Alpenbogens vergeblich suchen. Der Freistaat der Drei Bünde und spätere Kanton Graubünden, die kleinbäuerli- che Region B, ist nämlich ebenfalls ty- pisch für ein grosses Gebiet. In den fran- zösischen, in den italienischen, in den schweizerischen A lpengebieten vom Wallis bis ins Appenzellische – fast über- all wimmelt es sosehr von Kleinbauern, dass manch einer auf den Gedanken gekommen ist, die Natur dafür verant- wortlich zu machen. Doch viele Statisti- ken zeigen, wie eben dargelegt, eine West-Ost-Differenz innerhalb des A l- penraums. In Wirklichkeit müssen wir die Gründe für die Betriebs- und Besitz- verhältnisse nicht in der alpinen Um- welt, sondern in der gesellschaftlichen Entwicklung suchen.

6 Die Stadt

D ass es sich mit der Stadt etwas anders verhält, ahnt schon G iovanni Botero, der bekannte G esellschaftstheoretiker.

A nno 1588 schreibt er in seinem Buch über die G rösse und Würde der Stadt, ein Motiv für Menschenansammlungen liege in der Suche nach Schutz vor ver- schiedenen G efahren, wie ihn bergige und rauhe oder auch sumpfige und an- dere isolierte O rte böten. A ls Piemon- tese hat er bei den «luoghi montuosi ed aspri» zweifellos den A lpenkranz vor A ugen. Weil aber mit der Sicherheit dieser O rte gewöhnlich keine besonde- re G unst bezüglich Territorium, Ver- kehr, A ttraktion und U nterhaltung ver- bunden sei, habe man dort nie sehr berühmte Städte gesehen: «non vi si è visto mai città molto famosa.»

Tatsächlich, die A lpen bilden in der G eschichte einen städtearmen R aum.

D ie berühmten Städte liegen im Tief- land, im 16. Jahrhundert vor allem in O beritalien. Bereits um 1500 zählt Ve- nedig ungefähr 100‘000 E inwohner, Mailand ist ebenso gross, daneben gibt es zahlreiche weitere Städte. Insgesamt haben etwa drei D utzend von ihnen 5000 und mehr, manchmal viel mehr E inwohner. Im ganzen, weit grösseren A lpenraum findet man zu jener Z eit wahrscheinlich nur eine einzige zusam- menhängende Siedlung, die mindestens 5000 Personen umfasst und die wir des- halb als Stadt bezeichnen wollen. Im Laufe der Z eit überschreiten dann etli- che O rte diese G renzmarke. U m 1800 zählen wir neun, um 1900 schon zwei-

undvierzig alpine Städte. D ie Städte des U mlands wachsen und vermehren sich jedoch in grösserem Tempo, so dass die Urbanisierungs-Differenz nicht abnimmt, sondern erheblich zunimmt.

A uch wenn das G ebirge nun wesent- lich mehr Bevölkerungszentren auf- weist als zu Beginn der Neuzeit, im Vergleich zum U mland ist die Vertei- lung der städtischen Bevölkerung so ungleich wie nie zuvor.

Städte sind privilegierte Orte der ge- sellschaftlichen Beschleunigung. Durch die schiere A nzahl Menschen und Kon- taktmöglichkeiten gleichen sie, wie Fern- and Braudel schreibt, Transformatoren.

«Sie erhöhen die Spannung, beschleu- nigen den A ustausch und bringen unab- lässig Bewegung in das Leben der Men- schen.» Man kann vermuten, dass sich dies im alltäglichsten Verhalten nieder- schlägt, dass die Leute in der Stadt zum Beispiel, unter sonst gleichen Bedingun- gen, schneller gehen als auf dem Land, dass sie häufiger und schneller mitein- ander reden, aufeinander einreden. Aus der Sicht eines bündnerischen Hochtals ist die Lagunenstadt ein Konsumpara- dies: «Uoi! da Vnescha, Vnescha, Vne- scha, quai vain oura tampastinas, quai vain oura atschischinas, quai vain oura zücherats» (Hei! aus Venedig, da kom- men Pfeffermünzli, saure Zeltli, gewöhn- liche Zückerli). Kein Wunder, dass man sich der urbanen Faszination weder ent- ziehen kann noch entziehen will. Jeden- falls ist der A lpenraum ein Gebiet mit einer langen A uswanderungstradition.

Die Zahl der Leute, welche zeitweise oder endgültig fortziehen, übersteigt die- jenige der Zuzüger deutlich. Dies ver- mindert auf der einen Seite das Ent- wicklungspotential. A uf der anderen Seite stehen mehr oder weniger enge Verbindungen zum Flachland am Ur- sprung vieler Innovationen, die mit der Zeit in die entlegensten Bergdörfer drin- gen.

7 Der Staat

D er Staat gehört nur teilweise dazu.

Territoriale politische Macht entsteht und organisiert sich ja auch im Bergge- biet selber. D och die äusseren Impulse sind nicht zu übersehen. D ie wirklichen Machtzentren liegen mindestens seit dem 16. Jahrhundert zum grossen Teil am Fuss oder ausserhalb des G ebirges.

So wie die erwähnten Z entren O berita- liens, so wie Wien, München, Z ürich oder Bern, ja so wie Paris. D ie andere

Seite dieser alpinen Machtferne ist ein vergleichsweise hohes Mass an regio- naler und lokaler A utonomie, zeitge- nössisch gesprochen: ein gerüttelt Mass an «Rechten und Freiheiten». Das Berg- gebiet der nachmaligen Schweiz bildet dafür ein gutes, aber nicht das einzige Beispiel.

D ie Vergrösserung der Staaten, ihre zunehmende Verwaltungstätigkeit mit- samt dem umsichgreifenden Nationa- lismus des 18. und vor allem des 19.

Jahrhunderts haben für die A lpen zwei Folgen. Sie verringern die D istanz zu den Machtzentren des U mlands und vergrösseren gleichzeitig die A bhän- gigkeit von ihnen. A m anschaulichsten lässt sich der doppelte Vorgang an den G renzen nachvollziehen. Im Inneren eines jeden Landes baut man sie ab, zwischen den Nationalstaaten werden sie aber zu Barrieren von bis dahin unbekannter H öhe. D ie Bergbevölke- rung verwandelt sich jetzt erst recht in eine A rt G renzbevölkerung.

Zumindest räumlich. In einem ande- ren Sinn rücken die Bergler bzw. die vielen Bauern unter ihnen seltsamer- weise näher zum Mittelpunkt. Mit der Ablösung von feudalen Herrschaftsrech- ten vor, während und nach der Franzö- sischen Revolution gelten sie nun über- all als vollwertige Staatsbürger. Schon dadurch kann sich ihr A nsehen drama- tisch verändern. Doch der Prestigege- winn geht weiter. Der im Gebirge so gut vertretene «Bauernstand» wächst nun mehr und mehr in die Rolle eines geisti- gen Kerns der Nation, was ihm seit dem späten 19. Jahrhundert auch materiell zugute kommt. A us politischen Grün- den beginnt der Staat die krisengeschüt- telte Landwirtschaft zu unterstützen, um sich so ihre Loyalität einzuhandeln: Die Nationalisierung der Bauern hat einge- setzt.

Vermutlich wäre es auch möglich, die Staatsbildung anhand der Tiere zu beschreiben, denn die Tiergesellschaft trägt oft nur allzu deutlich den Stempel der menschlichen Gesellschaft. Wer hält zum Beispiel den Stier für die Kühe der Gemeinde? In der frühen Neuzeit sind an manchen Orten die Träger der politi- schen Macht dazu verpflichtet, in einer bischöflichen Stadt kann man durchaus den «Pfarr» (Zuchtstier) des Bischofs benutzen. Nach 1800 erscheint die Ver- pflichtung dann als alter Zopf, Leistung und Einheitlichkeit werden nun in der Nachwuchsförderung zu Hauptkriteri- en, und zwar im grossen Massstab. In der Schweiz vermittelt die erste interna-

(5)

tionale Viehausstellung von Paris im Jahr 1855 wichtige A nregungen. Ein- flussreiche Kreise lassen sich davon überzeugen, «dass die notwendigen Ras- severbesserungen nur durch Reinzucht zu erzielen seien» (so ein Fachmann).

Die landläufigen Viehschläge sind alles andere als rein, die Kontrolle der Tiere muss sich folglich zur buchhalterischen und statistischen Angelegenheit entwik- keln. Die erste Erhebung des schweize- rischen Rindviehs nach «Rassen» wird 1886 veranstaltet. A b 1890 richtet der Bund Beiträge aus an Rindviehzucht- genossenschaften, die im Handelsregi- ster eingetragen sind. Bis zur Jahrhun- dertwende können schon über dreihun- dert davon profitieren, die Nationalisie- rung der Kuh hat begonnen.

8 Vom Rückblick zum Ausblick

H ier ist der O rt, um innezuhalten und weiter auszuholen. Wir haben in dieser R eihe von A nsichten beides angetrof- fen, Beispiele für historische U nter- schiede im A lpenraum und Beispiele für historische G emeinsamkeiten des A lpenraums. D as Thema der bäuerli- chen Betriebsgrösse illustriert etwa ei- nen deutlichen U nterschied, die relati- ve Städtearmut eine deutliche G emein- samkeit. E s ist also wichtig, den E in- fluss der G eographie auf den G ang der G eschichte nicht einfach vorauszuset- zen, wie das häufig geschieht, sondern von Fall zu Fall wirklich zu untersu- chen. Nur so werden wir mit der Z eit zu einem ausgewogenen Bild der alpinen Vergangenheit gelangen, und ein sol- ches Bild kann auch zu einer realisti- schen Einschätzung der G egenwart und möglichen Z ukunft beitragen. Mit zwei R edeweisen sollte man in diesem R e- flexionsprozess vorsichtig umgehen, mit der «A npassung an die U mwelt» und mit der «Naturbeherrschung» – beide wurden und werden im alpinen Kon- text besonders gern verwendet.

D as Problem mit der A npassung an die U mwelt besteht darin, dass sich die A npassung im Laufe der Z eit gewis- sermassen selbst anpasst. Wie die G e- schichte zeigt, nutzt eine kleine Bevöl- kerung das Berggebiet auf andere Wei- se als eine grosse Bevölkerung, die viel- leicht noch für weiträumige Märkte produziert. Man kann davon ausgehen, dass bei jedem Intensivierungsschritt

diejenigen G eländepartien bevorzugt werden, welche unter den gegebenen U mständen besonders geeignet schei- nen. H at der Pflanzenbau zum Beispiel einen geringen U mfang, so bieten sich im bewegten Terrain die flachen Teile an. Mit zunehmender A usdehnung der G etreide- oder R ebflächen wird die zielgerichtete Terrassierung von Steil- hängen opportun. Wenn der Bevölke- r u n gsd r u ck we ite r ste igt, k ö n n e n schliesslich Tal- und Flussebenen einer Intensivnutzung zugeführt werden, die man vorher aus G ründen des Meliora- tionsaufwands als Weideland gebraucht hat. In jeder Phase gehört das A bwä- gen von Vor- und Nachteilen einer spe- zifischen Landschaftsnutzung zur bäu- erlichen Praxis, doch zu keinem Z eit- punkt lässt sich die Nutzung in festste- hender Weise aus dem Terrain und der U mwelt herleiten. In diesem Sinn ist die R ede von der A npassung an be- stimmte Naturbedingungen irrefüh- rend.

E benso irreführend ist es, das Wort Naturbeherrschung unbedacht in den Mund zu nehmen, das dem 19. Jahr- hundert teuer war und in einseitig tech- nikorienterten Kreisen bis heute kur- siert. Was wir in der alpinen G eschich- te feststellen, ist nicht eine zunehmen- de U mweltunabhängigkeit der Men- schen, sondern eine Verlagerung der U mweltbezüge im Laufe der E ntwick- lung. H äufig verhält es sich so, dass punktuelle oder linienhafte A bhängig- keiten kleiner werden und flächenhaf- te A bhängigkeiten zunehmen. D ie R e- volution der Transporttechnik hat die Z wänge des R aums bestimmt verklei- nert. Man denke nur an die Linienfüh- rung der verschiedenen Verkehrswege an einem wichtigen Passübergang: von den alten hangquerenden Saumpfaden zu den Kunststrassen und E isenbahn- tunnels des 19. Jahrhunderts bis zu den talüberspannenden A utobahnen der G egenwart. A ber gleichzeitig hat sich die U mweltabhängigkeit bei Flächen- nutzungen wie bei der Landwirtschaft verstärkt. G rosse Maschinen sind auf Bergwiesen bekanntlich schlecht ein- zusetzen, intensive Kulturen sind we- sentlich sensibler als extensive. Z u den Flächennutzungen gehört, je länger desto mehr, auch die Besiedlung in Form von Wohn- und anderen Bauten.

H ätte die Besiedlung im Lawinenwin- ter 1999 nicht ein ganz anderes A us- mass gehabt als im Lawinenwinter 1566, so hätten sich die O pfer und Schäden in einem anderen Mass gehalten.

Nachhaltige Nutzung ist ein gesell- schaftlicher Prozess und eine gesell- schaftlich diskutierte Z ielvorstellung.

In der Vergangenheit erwies sich der Nutzungsprozess als wandelhaft und widersprüchlich; wie er in Z ukunft aus- sehen wird, ist im einzelnen nicht vor- auszusagen. D ie A rt, wie wir über die Vorstellung von Nachhaltigkeit disku- tieren, bestimmt sich nach der R olle, die wir uns im Verhältnis zur U mwelt zuschreiben. Nach meinem D afürhal- ten kann sie weder in der A npassung an die Natur noch in deren Beherr- schung liegen.

9 Literaturhinw eise

D er A rtikel basiert v. a. auf

MA TH IE U, J., 1998: G eschichte der A lpen 1500–1900. U mwelt, E ntwicklung, G e- sellschaft. Wien. E s handelt sich um die veränderte Version eines Beitrags für D . RUEF; U. LA DURNER: Bauern am Berg, Z ürich 1998.

Bestimmte A spekte werden v.a. themati- siert in:

BA U MA NN, W., 1998: Verbäuerlichung der Nation und Nationalisierung der Bau- ern. In: Schweizerisches Landesmuseum (Hrsg.) Die Erfindung der Schweiz 1848–

1998. Bildentwürfe einer Nation. Z ürich.

BE R G IE R, J.-F., 1996: D es A lpes traversées aux A lpes vécues. Pour un projet de coopération internationale et interdisci- plinaire en histoire des A lpes. In: G e- schichte der A lpen 1.

BR Ä ND LI, D .; PFISTE R, C., 1997: Ü ber- schwemmungen im Flachland – eine Fol- ge von A bholzungen im G ebirge? Z ur D urchsetzung eines neuen E rklärungs- musters im 19. Jahrhundert. In: KA U F-

MA NN-HA YO Z, R . (H rsg.) Bedingungen umweltverantwortlichen H andelns von Individuen. Bern.

BRA UDEL, F., 1990: Sozialgeschichte des 15.–

18. Jahrhunderts. 3 Bde. München.

MA TH IE U, J., 1992: E ine A grargeschichte der inneren A lpen. G raubünden, Wal- lis, Tessin 1500–1800. Z ürich.

PFISTE R, C., 1999: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkata- strophen (1496–1995). Bern.

TA NNER, A .; HEA D-KÖNIG, A .-L. (H rsg.) D ie Bauern in der G eschichte der Schweiz.

Z ürich.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Das füllt die Kassen der öffentlichen Verkehrsunternehmen: Bereits heute geben die 20'000 Mobility-Kundinnen und -Kunden im Jahr 23.2 Millionen Franken für

Gegenanzeigen: FeniHydrocort Creme 0,5 % darf nicht angewendet werden bei bekannter Überempfi ndlichkeit gegen den Wirkstoff Hydrocortison oder einen der sonstigen Bestandteile,

Dynamic Adaptation of Urban Water Infrastructure for Sustainable City Development in an Alpine Environment... Sustainable City Development in an Alpine Environment

sind. Drittens: Wenn Forschungen umgangen werden und wenn der Großteil des sozialwissenschaftlichen Theoriebestandes auf den Haufen alteuropäischen Mülls geworfen

Soure-/Drain-Gebieten gemessen werden und wird durh das Anlegen einer kleinen Span-..

Di e Stadt bestäti gte gegen über dem Staats- schutz, dass di e Theatergruppe ei n er Pfadfi n derorgan i sati on angehörte un d si ch or- dentl i ch an gem el det

September, aber auch der Streit um das Kopftuch oder um die Rolle der Autorität in der Katholischen Kirche stellen eine Herausforderung für die klas- sische liberale Idee dar,

(5) Eine Studierende oder ein Studierender, die oder der den ordnungsgemäßen Ablauf einer Prüfung stört, kann von der jeweiligen Prüferin oder dem jeweiligen Prüfer oder der