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D B G W A A Ü N L T S Z P FS II 92-102

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FS II 92-102

Zurinterdisziplinären Problematik UND DISKURSIVEN KONSTITUTION der Theorieautopoietischer Systeme

Über Niklas Luhmanns

Abklärungder Aufklärungder

modernen Gesellschaftundihrer Wirtschaft

Daniel Barben

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D -1000 Berlin 30

Tel.:(030)25491 -202

(2)

Zusammenfassung

Die Theorien autopoietischer Systeme stellen nach wie vor ein unüber­

sichtliches, und insbesondere die Debatte um Luhmanns Ansatz ein nach Gefolg- bzw. Gegnerschaften polarisiertes Gelände dar. Im folgenden soll ein Lektüreverfahren entfaltet werden, das Orientierungshilfen durch die Darstellung der theoretischen Anlage vermittelt und Kritik auf der Grund­

lage ihres kommentierenden Nachvollzugs jenseits vereinseitigter Positi­

onsnahmen ermöglicht.

Unterschiedliche Programme, allgemeine Systemtheorie als interdis­

ziplinäres Projekt zu konzipieren, werden dazu vor dem Hintergrund eini­

ger wissenschaftstheoretischer Probleme skizziert, um anschließend ver­

schiedene Anknüpfungsstrategien von Soziologen an das v.a. für die Biolo­

gie spezifizierte Autopoiesiskonzept darzustellen. Dann wird Luhmanns Erkenntnisprogramm hinsichtlich verschiedener Abstraktionsstufen und Gegenstandsfelder der Theorieformulierung verfolgt, um den spezifischen Charakter der Theoriearchitektur sowie darin angelegte Probleme und In­

konsistenzen bestimmen zu können. Die eng am Textmaterial durchge­

führte Darstellung folgt Luhmanns allgemeiner Konzipierung der Theorie sozialer Systeme, dem grundlagentheoretischen Zusammenhang von Sy­

stem-, Evolutions- und Kommunikationstheorie, dem gesellschaftstheoreti­

schen Konzept funktionaler Differenzierung, der Konzipierung der Wirt­

schaft als autopoietisches System sowie der Behandlung des Gesellschaft- Natur-Verhältnisses in der Problematik ökologische Kommunikation. Ab­

schließend werden Probleme der Luhmannschen Theorieanlage und -formulierung im Überblick zusammengefaßt sowie auf die Frage, inwie­

fern bei dieser Theorie einer spezifischen Gesellschaft eine spezifische Poli­

tik der theoretischen Position am Werke ist, zugespitzt - um neben dem Zusammenhang von Theorie und Selbstbeschreibung der Gesellschaft auch das Projekt des Intellektuellen Luhmann ins Blickfeld zu rücken.

(3)

1. Einleitung 9

2. Systemtheorie als interdisziplinäres Projekt 13

2.1 Zur Problematik einer allgemeinen Systemtheorie:

Gegenstandsbestimmung und Gegenstandsadäquatheit im Fragehorizont von Über-/ Generalisierung und Me­

taphorik 13

2.2 Das »Bertalanffy-Programm« 15

2.3 Theoretische Ausdehnung und gesellschaftliche Kar­

riere von Theoremen der »Selbstorganisation« 17

2.4 Theorie autopoietischer Systeme 24

2.4.1 Positionen in der Biologie (Maturana, Varela, Roth) 25

2.4.2 Perspektive auf die Soziologie 32

2.5 Importstrategien des Theorems der Autopoiesis in die

Soziologie 35

2.5.1 »Aufbau-Linie« (Hejl) 36

2.5.2 »Emergenz-Linie« (Luhmann, Teubner) 39

3. Luhmanns Theorie- und Erkenntnispro­

gramm 45

3.1 Entwicklung des Theorieprogramms 45

3.2 Epistemologische Grundorientierung und Gegen­

standsbestimmung 47

(4)

4.1 Systemtheorie 54

4.1.1 Komplexität, Kontingenz, Sinn als Grundbegriffe einer System-

Umwelt-Theorie 54

4.1.2 Zuspitzung zu einer Theorie selbstreferentieller oder autopoieti-

scher Systeme 60

4.2 Kommunikationstheorie 63

4.2.1 »Unwahrscheinlichkeitsperspektive« der doppelten Kontingenz 63 4.2.2 »Doppelte Kontingenz« als Konstitutionsproblematik sozialer Sy­

steme 65

4.2.3 Konstitution eines »selbstreferentiellen sozialen Systems«: »Kom­

munikation« und »Handlung« 67

4.3 Evolutionstheorie 75

4.3.1 Geschichte als »sozio-kulturelle Evolution« 76 4.3.2 Geschichts- und Gesellschaftstypologie vermittels »primärer ge­

sellschaftlicher Differenzierungsprinzipien« 77 4.3.3 »Morphogenese« als Entwicklungsprinzip der »modernen Gesell­

schaft« 79

5. Primat des Prinzips funktionaler Differen­

zierung in der Beschreibung der »modernen

Gesellschaft« 84

5.1 »Funktional differenzierte Gesellschaft« oder »Klas­

sengesellschaft«? 87

5.2 »Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien«:

Vergesellschaftung durch »binäre Codierung« und

»Programmierung« 93

(5)

Gesellschaft« 99 6.2 Wirtschaft als »autopoietisches System« 102

6.2.1 »Zahlung« als »unit act« der wirtschaftlichen Autopoiesis 102 6.2.2 Die Bedeutung von »Knappheit« und ihre duplizierte »Codie­

rung« im Geld 105

6.2.3 »Diabolik« des »symbolisch generalisierten Kommunikations­

mediums« Geld 108

6.2.4 Markt als »systemintemer Orientierungshorizont« der am Wirt­

schaftssystem »partizipierenden Systeme« mittels der »Sprache

der Preise« 111

6.2.5 Artikulation kapitalistischer Formspezifik als Komplementarität der »Kreisläufe von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähig­

keit« 113

6.2.6 Die artikulatorische Verschiebung der Notwendigkeit der Arbeit zum »Parasitentum« im privateigentümlich codierten Wirtschafts­

system 118

7. Gesellschaft-Natur-Verhältnis und die Pro­

blematik »Ökologische Kommunikation« 122

8. Epistemologische Bedeutung der Theorie autopoietischer Systeme für die Soziologie 126

8.1 Leistung und Problematik der Theorieanordnungen 128

8.1.1 Bestimmung und Generalisierung des Autopoiesiskonzepts 128 8.1.2 »Autopoiesis« als Paradigma des allgemeinen Organismus und

die »kognitive Wende« 129

8.1.3 Sicht und Einsicht in die Konstitution blinder Flecke der Theo­

rie 132

8.1.4 »Welt«, »Sinn«, »Selbstreferenz«, »Autopoiesis«: Verankerung des Informationsverarbeitungsparadigmas auf dem Terrain des »Ob­

jektiven Geistes« 134

(6)

8.1.7 »Funktional differenzierte Gesellschaft«: Universalorientierung

und theoretische Unterdetermination 145

8.1.8 »Autopoiesis« der Marktwirtschaft: Bestimmung zur »Autonomie«

und diskursive Homogenisierung 150

8.1.9 Benennung und theoretische Entnennung der ökologischen Pro­

blematiken 154

8.1.10 Allgemeine Theorie zwischen Verallgemeinerung durch Ableitung

und Erforschung von Gegenstandsspezifiken 156

8.2 Politik der theoretischen Position und die Theorie der

gesellschaftlichen Verhältnisse 159

8.2.1 Standpunkt und Perspektive Luhmanns im Spannungsfeld von Theorie der Gesellschaft und Semantik der »Selbstbeschreibung«

der Gesellschaft 159

8.2.2 Systeme als historische Medien der »Aufklärung« und die Pro­

grammatik ihrer aufklärenden Abklärung 163

8.2.3 Die Auflösung der Differenz von Gegenwart und Zukunft der

»funktional differenzierten Gesellschaft« und die Planungsstrate­

gie des »muddling through« 167

8.2.4 »Autopoiesis« durch kompensatorische Modernisierung: normali­

sierende »Erwartungsstruktur« und konfliktives »Immunsy­

stem« 171

9. Literaturverzeichnis 176

(7)

"Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence.”

(Luhmann 1984,101)1

"Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«

Hier stock ich schon! Wer hilft mit weiter fort?

Ich kann das Wort so hoch immöglich schätzen, Ich m uß es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.

Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.

Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile!

Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?

Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft'.

Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.

Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat'."

(J.W. Goethe, Faust I, Studierzimmer, 1224-1237)

1. Einleitung

Die Arbeit im wissenschaftlichen Feld ist zunächst - vor der Frage seiner spezifischen epistemologischen Determination - durch eine doppelte for­

male Beziehung gekennzeichnet - die Beziehung auf einen bestimmten Ob­

jektbereich und die Beziehung auf einen übergeordneten Zusammenhang, sei es der Disziplin, sei es des Verhältnisses von Disziplinen. In welcher Form diese doppelte Beziehung präsent ist oder thematisiert wird, ist nicht vorgegeben. Sie hängt vom spezifischen Projektcharakter der Problemstel­

lungen ab. Deren Komplexität zwingt immer wieder dazu, sowohl sehr detaillierte Untersuchungen eng begrenzter Objekte anzustellen als auch umgreifende Zusammenhänge zu erschließen, was mithin erfordert, die Grenzen eines Objektfeldes oder einer Disziplin zu überschreiten. Notwen­

dig wird so nicht nur disziplinäre, sondern auch interdisziplinäre Rezep­

tion und Kooperation.

Systemtheorien stellen Versuche dar, Einheit wie Spezifik von Objek­

ten, Disziplinen und interdisziplinären Zusammenschlüßen zu konzeptua- lisieren. Fragen nach der Einheit einer Disziplin und nach dem Zusam­

menhang von Disziplinen unterliegen Auseinandersetzungen und histori­

schen Veränderungen. Die Eingriffe der Systemtheorien strukturieren wis­

senschaftliche Felder um, wie umgekehrt die Systemtheorien selbst Trans­

formationen ausgesetzt sind. Der doppelte Gesichtspunkt disziplinärer Spezifik - und Generalisierung - sowie interdisziplinärer Generalisierung ist für die folgende Analyse strukturierend. Die wissenschaftstheoretische Problematik entwickle ich zuerst in 2.1 weiter. In 2.2 stelle ich beispielhaft das »Bertalanffy-Programm« als historisch einflußreichen Versuch dar, eine

»allgemeine Systemtheorie« als interdisziplinären Zusammenhang hervor-

1 Literaturangaben zu Luhmann werden im folgenden lediglich mit einfacher Jahresan­

gabe nachgewiesen.

(8)

zubringen, der zugleich disziplinäre Forschungen anstoßen sollte. Wenn Luhmann an allgemeine Systemtheorie anschließen will, so nicht an die von Bertalanffy geprägte Formation - wobei jedoch die Kontinuität einiger Elemente, die die Kybernetik, Informations- oder Kommunikationstheorie betreffen, deutlich werden wird. Luhmanns neuere systemtheoretischen Arbeiten sind durch den Kontext von Theorien der »Selbstreferenz« oder

»Autopoiesis« geprägt. Die Entwicklung von Theorien der

»Selbstorganisation« stelle ich in 2.3 dar, das Ursprungskonzept der

»Autopoiesis« in der Biologie in Kap. 2.4. Diese Umwege sind nicht nur zur Klärung bestehender Unklarheiten und Konfusionen notwendig, sondern auch zum besseren Verständnis der Luhmannschen Theorie. Denn deren Besonderheiten erschließen sich nicht nur aus ihr selbst, sondern auch aus dem Kontext, an den sie anknüpft und in dem sie sich einen eigenen Raum schaffen muß. Dieses Herangehen ermöglicht, einfache Klarheiten über

»die« Systemtheorie oder »die« Theorien der »Selbstorganisation« aufzulö­

sen; zugleich verbietet es, Meinungen über diese einfach auf Luhmann zu­

rückzuprojizieren. So verlieren aber auch Luhmanns Beteuerungen eines einfachen Anschlusses an die allgemeine System- resp. Autopoiesistheorie ihre Selbstverständlichkeit. Daß sowohl grundlegend verschiedene Strate­

gien der Übertragung des Autopoiesiskonzepts aus der Biologie in die So­

ziologie als auch sehr heterogene Konzeptionalisierungen einer soziologi­

schen Theorie autopoietischer Systeme möglich sind, zeige ich in Kap. 2.5.

Deren Voraussetzung wie Resultat sind unterschiedliche interdisziplinäre wie disziplinäre Konstruktionen.

Luhmanns theoretischer Werdegang läßt sich als Bewegung von sehr spezifischen Analysen der Verwaltung und des Rechts über eine Reihe weiterer Gebiete, auf denen ein verallgemeinertes Begriffsinstrumentarium erarbeitet wurde, zu einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme beschrei­

ben (Kap. 3). Mit diesem letzten Schritt beansprucht Luhmann, einen Para­

digmenwechsel vollzogen zu haben. Umso erstaunlicher ist es, daß er nir­

gends den Bruch zu seiner vorangegangenen Theorieproduktion bestimmt.

Überhaupt sucht man bei Luhmann vergebens nach Berichtigungen seiner Theorie. Es bleibt so dem Leser überlassen, sich in dem nicht nur weit­

schweifigen, sondern begrifflich zunehmend angereicherten, und umak­

zentuierten, Gelände zurechtzufinden. Wie verhält man sich theoretisch gegenüber einem solch komplexen Gebilde - welchen Ausschnitt wählt man aus, auf welcher Ebene setzt man an? Welchen Maßstab der Kritik legt man an die Theorie an, so daß man vereinseitigende Urteile vermeiden kann - die entweder Luhmann ergebene Folgschaft leisten oder ihn in Bausch und Bogen verwerfen?

Ich werde nicht versuchen, Luhmann auf alle Gebiete zu folgen, auf denen er tätig ist. Gleichwohl möchte ich die Grundlage für eine umfas­

sende Kritik legen. Dazu ist erforderlich, sich auf die Anlage und die Be- grifflichkeit der Luhmannschen Theoriebildung zu konzentrieren. Also sind Luhmanns Konstruktion der Anlage und seine Bewegungen in ihr zu beobachten. Dazu gehören zunächst die Abgrenzungen und Verknüpfun­

(9)

gen der Gegenstandsbereiche und der Analyseebenen. Die epistemologi- sche Beurteilung erfordert ferner zu berücksichtigen, welche Konzepte Luhmann im Hinblick auf welche Fragen auf welche Weise einführt, und für welchen Bereich er ihre Gültigkeit veranschlagt. Soll meine Lektüre und Kritik von Luhmann möglichst voraussetzungslos sein, so gerade mit dem Ziel, Luhmanns theoretische Voraussetzungen nachvollziehbar sichtbar zu machen und der Kritik willkürliche Voraussetzungen zu nehmen. Die Grundlegung der Theorie zu beobachten, heißt nach den Modi und den (Schwach-) Stellen ihrer Begründung zu fragen. Diese Perspektive der Analyse der diskursiven Konstitution von Luhmanns Text unterlegt diesem keinen anderen Text, an dem er gemessen wird. Denn damit würden mög­

licherweise nicht so sehr die Lücken in Luhmanns Text als die Unhinter- fragtheiten des Vergleichstextes hervortreten. So verfahrend kann man die Aporien der sogenannt ideologiekritischen Methode, die schon weiß, was Sache ist, umgehen.2

Luhmanns Anspruch auf soziologische Fachuniversalität erlaubt al­

lerdings, seine Theorie auch mit einem ihr fremden Text zu kontrastieren.

Ich werde entsprechend andere Gesichtspunkte aus eigenem Theorie- und Gegenstandswissen anbringen und fragen, ob und wie sie in Luhmanns Theorie präsent sind. So verfahrend kann man vermeiden, sich zu sehr an Luhmanns Terrain zu fesseln resp. sich seinen methodischen Verfahren und Konzepten der Gegenstandserfassung zu unterstellen.

Die grundbegriffliche Darstellung in Kap. 4 stößt immer wieder an Grenzen, die die Abgeschlossenheit des Theorieraums durchstoßen. Politi­

sche Konnotationen und Implikationen von Begriffen zeigen an, daß Aus­

einandersetzungen um Begriffe selbst in den abstraktesten Bereichen nicht bloß Spiegelfechtereien und Wortklaubereien sind, sondern daß die Wis­

senschaft selbst vielmehr einen »Kampfplatz« (Kant) darstellt. Zunächst in dem Sinne, daß Theorien gegenüber anderen Raum greifen und sich be­

haupten müssen, dann aufgrund der Positionierung innerhalb der gesell­

schaftlichen Verhältnisse. So kann sozialwissenschaftliche Theorie gar nicht anders, als sich in einem widersprüchlich determinierten Feld zu bewegen.

Sie wird formuliert in dem Spannungsfeld, Theorie über die Gesellschaft und Ideologie der Gesellschaft zu sein. Zu welcher der beiden Seiten eine Theorie mehr neigt, erschließt sich aus ihren spezifischen Einsätzen in den Kämpfen um Wirklichkeitsvorstellungen. Gerade eine Theorie wie die Luhmannsche, die erkenntnistheoretisch zum »Konstruktivismus« neigt, muß sich fragen lassen, wie sie nicht nur einfach Theorie ist, sondern selbst in die Konstruktion der gesellschaftlichen Realität eingreift. (Zur Wei­

terenwicklung dieser Problematik siehe v.a. unter 8.)

Der strategische Angelpunkt von Luhmanns Bestimmung der Identi­

tät der modernen Gesellschaft ist das Prinzip funktionaler Differenzierung

2 Dieser Lektüre- und Kritikansatz erlaubt, das vorliegende Manuskript, das bereits 1989 fertiggestellt wurde, auch jetzt noch zu veröffentlichen, da Veröffentlichungen anderer Autoren und Verschiebungen in der theoretischen Konjunktur es nicht hin­

fällig gemacht haben.

(10)

(Kap. 5). Diese Gesellschaftskonzeption fungiert als regulierendes Resultat von Luhmanns Sozialtheorie, da in ihr nicht nur die verschiedenen Be­

griffsstränge zusammenlaufen, sondern sie selbst die weitere gesell­

schaftstheoretische Analyse entscheidend bestimmt. Das Konzept der

»funktional differenzierten Gesellschaft« motiviert nun nicht nur die Ana­

lyse des Wirtschaftssystems und die operationalisierende Bestimmung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, sondern erhält durch diese wesentli­

che Bestimmungen der Funktionsweise und des Zukunftshorizonts der

»modernen Gesellschaft« (Kap. 6 und 7).

In Kapitel 8 werde ich den Zusammenhang der verschiedenen Argu­

mentationskontexte entwickeln und im zuspitzenden Überblick zeigen, wie die Herleitung der Begriffe die Theoriebildung anleitet. Der Eindruck wäre allerdings falsch, daß die verschiedenen Konzepte derart ineinandergreifen, daß sie ein geschlossenes theoretisches System ergeben. Spannungen und Brüche in der Theorie entspringen nicht nur den universalistischen An­

sprüchen, sondern auch Luhmanns Perspektive auf das gesellschaftliche Ganze und dessen Entwicklung. Wenn Luhmann dezidiert das Ansinnen zurückweist, über ein gesellschaftliches Zukunftsprojekt zu verfügen, ord­

net sich die »funktional differenzierte Gesellschaft« gleichwohl in der Per- spekive einer globalen Zukunft an. Welcher Art die Politik der theoreti­

schen Position mit der Theorie der gesellschaftlichen Verhältnisse korre­

spondiert und in sie eingreift, werde ich v.a. in 8.2 verhandeln. Dort tritt am deutlichsten das spezifische Projekt des Intellektuellen Luhmann zu Tage - das Programm »soziologischer Aufklärung«.

(11)

2. Systemtheorie als interdisziplinäres Projekt

2.1 Zur Problematik einer allgemeinen Systemtheorie: Gegen­

standsbestimmung und Gegenstandsadäquatheit im Frage­

horizont von Über-/ Generalisierung und Metaphorik

Die eine Systemtheorie gibt es nicht. Verschiedene Traditionslinien, Strö­

mungen, Konzepte und Begrifflichkeiten werden unter diesem Namen zu­

sammengefaßt. Meine Darstellung setzt an den historischen Momenten an, wo intensive Bestrebungen für eine Systemtheorie als interdisziplinäres Pro­

jekt lanciert wurden. Die interdisziplinäre Grundidee war, das in einzelnen Disziplinen an Konzepten Hervorgebrachte über methodische Generalisie­

rungen in eine »allgemeine Systemtheorie« als einer Metatheorie einzubrin­

gen. Diese wurde als ein Fundus von Konzepten geplant, durch deren Im­

port einzelne Fachdisziplinen systemtheoretisch angereichert werden soll­

ten. Der strategische Zweck eines solchen Projekts ist einmal, unterschiedli­

che Disziplinen durch Diskussion und Angleichung der Konzepte mitein­

ander zu verbinden; ferner eine übergeordnete Ausdehnungsstruktur zur immer weiteren Vernetzung von Disziplinen bereitzustellen. Veränderun­

gen in den begrifflichen Dispositionen, im Zusammenhang und den Grenz­

ziehungen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen sind die Folge. Im Spannungsfeld von allgemeiner Systemtheorie und Einzelwissenschaften bestimmen sich wissenschaftstheoretischer Status wie disziplinspezifischer Bezug systemtheoretischer Konzepte. Darauf soll im folgenden größere Aufmerksamkeit gerichtet werden. Dabei treffen die prinzipiellen konzep­

tionellen und wissenschaftstheoretischen Probleme für die verschiedenen Entwicklungsstränge zu.

Daß Begriffe von einem Bereich in einen anderen übertragen werden oder einfach den verschiedensten, modifizierenden Beeinflussungen unter­

hegen, ist als bewußt vorgenommener oder naturwüchsiger Vorgang ver­

breitet. Ginge man ernsthaft der Frage nach, welche Begriffe Transporte aus anderen Kontexten und so Transformationen erfahren haben, würde man auf frappierende Überraschungen stoßen. Angesichts dessen bleibt der Vorwurf an Systemtheoretiker, bewußte Begriffsübertragungen vorzuneh­

men, eine hilflose und naive Haltung. Derart eine Exklusivität und

»Unversehrtheit« - etwa von »sozial-« und »naturwissenschaftlichen« Be­

griffen - unterstellend, wird die mögliche Produktivität von Begriffstrans­

fers verkannt.

Wissenschaftliche Felder lassen sich als Räume begreifen, in denen auf spezifische Probleme hin bestimmte Fragen gestellt werden (können). Als Antworten auf die Fragen fungieren Konzepte und Begriffe. Der konzeptio­

nelle Zusammenhang von Problematiken, ihren Fragen und Begriffsnetzen

(12)

als Antworten macht den Gegenstand einer bestimmten Disziplin aus. Zu­

meist in systemtheoretischen Zusammenhängen, zugespitzt beim Unter­

nehmen »allgemeine Systemtheorie«, oszillieren Fragestellungen und Kon­

zepte von einem Feld ins nächste. Kritisch zu beobachten ist deshalb: Was stößt diese Vorgänge an oder motiviert sie? Was für Veränderungen in den Dispositionen innerhalb und zwischen wissenschaftlichen Feldern bewir­

ken sie? Was für Veränderungen am Gegenstand selbst zieht das nach sich?

Wie gestalten sich die Zugänge zu ihm um? Welche neuen Erkenntnisse sind möglich; was hingegen wird verdunkelt oder ausgeblendet? Inwiefern ist die neue theoretische Konstellation insgesamt als erkenntnisfördemd zu betrachten? Was wird aus den alten prinzipiellen Schranken und welche neuen entstehen? Das ergibt als wissenschaftstheoretisches Grundsatzpro­

blem: inwiefern stellt sich die Ausdehnung von Problematiken und Kon­

zepten über ihren Ursprungsbereich hinaus als eine sinnvolle, legitime Ge­

neralisierung oder als eine empirisch nicht abgesicherte, gegenstandsentho­

bene Übergeneralisierung dar?

Von mir ist kein Plädoyer für die Konservierung fachüblicher Gegen­

standsbestimmungen zu erwarten. Diese selbst sind ja immer wieder um­

kämpft; in einigen Disziplinen - gerade auch in der Soziologie - herrscht keine Einigkeit über Einheit wie Spezifiken ihrer Gegenstände. Genauso­

wenig kann es jedoch um eine eilfertig allgemeine Beurteilung der aufge­

worfenen Fragen gehen. Deren Diskussion und abschließende Beantwor­

tung ist schwierig. Grundsätzlich bietet sich ein beobachtendes Verfahren an:

die Konstitution der Gegenstände, der begrifflichen Grunddispositionen als auch deren Verschiebungen sind in ihrer artikulatorischen Verknüpfung derart frei­

zulegen, daß die Möglichkeiten von Erkenntnisgewinn exakter bestimmt als auch vielleicht die bewegenden Strategien ausgemacht werden können.

So kann man vermeiden, der einen Meinung einfach eine andere entgegen­

zusetzen oder aus punktuellen Kritiken die ganze Theoriekonstruktion zu verwerfen. An die zu beobachtenden Theorieanlagen sind zunächst ihre ei­

genen Ansprüche und Kriterien anzulegen; dies erfordert, sie im Modus kritischer Argumentation darzustellen. Eine solche Vorgehensweise dient nicht nur der genetischen Rekonstruktion von Theorien, sondern prinzipiell auch der Produktion von Erkenntnisfortschritt? Entsprechend soll nicht nur die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kontrolle durch eine mitlaufende Meta-Beobachtung gefördert werden, sondern letztlich gar in der Perspek­

tive einer wissenschaftlich gemeinsamen Metasprache, die auf einsehbaren und prinzipiell konsensuellen Kriterien beruht, gearbeitet werden.

3 Die Lage ist verwickelt: Die Systemtheoretiker treten immer wieder als Neuerer ihrer Fächer oder hinsichtlich interdisziplinärer Bemühungen auf. Zu unterscheiden sind so einmal ihre Strategien der Inszenierung von Fortschritt von den Ergebnissen tatsächli­

cher Erneuerung. Ein Verfahren der kritischen Re-Interpretation ist komplex: vorlie­

gende Theorien müssen auf Schranken der Erkenntnis und Widersprüche zu den ei­

genen Ansprüchen abgeklopft werden. Anschließend wäre zu zeigen, wie diese Pro­

bleme von einer anderen Theorie oder in einer neuen Theorie, in der verschiedene Theorieansätze sich einbringen könnten, gelöst werden können. Ein umfassender Er­

kenntnisfortschritt und eine neue Stufe der theoretischen Entwicklung wären erreicht.

(13)

2.2 Das »Bertalanffy-Programm«

Unter der Formel der »Einheit der Wissenschaft« wurde in den 50er Jahren eine allgemeine Systemtheorie als interdisziplinäres Projekt proklamiert.

Als beispielhaft programmatisch gelten die Beiträge von Ludwig von Bertalanffy, dessen Aufsatz "General System Theory" deshalb paradigma­

tisch vorgestellt werden soll.4

Bertalanffy führt drei divergierende Gründe für eine zu schaffende allgemeine Systemtheorie an. Erstens konstatiert er in den Wissenschaften eine zugespitzte Tendenz zu analytischer Auflösung und damit einherge­

hend einen Verlust an Konzepten, mit denen die Einheit des Gesamtzu­

sammenhangs gedacht werden könne (vgl. Bertalanffy 1956, 6); zweitens aber - und dies ist die Hauptfront seiner Interventionen - beklagt er das Ungenügen einer wissenschaftlichen Einheit, die letztlich in der Physik und ihren Konzepten begründet sei; drittens gebe es in verschiedenen wissen­

schaftlichen Feldern die beeindruckende Tatsache von einander ähnlichen allgemeinen Gesichtspunkten (s. etwa 1). Von der angestrebten Einheit ei­

ner allgemeinen Systemtheorie erhofft sich Bertalanffy größere konzeptu­

elle Klarheit als auch eine wechselseitige Befruchtung der verschiedenen Felder (vgl. 2). Er muß zeigen, wie eine solche Einheit herzustellen ist; wo der Bruch zur klassischen Physik und der auf ihr begründeten Einheitskon­

zeption verläuft; welcher Art die Übereinstimmung der Konzepte in den verschiedenen Feldern ist, was deren Vereinheitlichung bedeutet und wel­

che Konsequenzen sie mit sich bringt.

Der Haupteinwand von Bertalanffy gegen die konventionelle Physik besteht darin, organisches Leben nicht begreifen zu können. Auf ihr grün­

dende Systemkonzeptionen wie die Thermodynamik beschränkten sich auf geschlossene Systeme; lebende Organismen seien aber offene Systeme, d.h.

nicht isoliert von ihrer Umwelt, sondern an sie gebunden und von ihr ab­

hängig (vgl. 1, 3). Die Frontstellung wird durch die Behauptung gegenläu­

figer Grundprobleme von Physik und Biologie gestützt, wobei die eine

"highly successful in developing the theory of unorganized or disorganized complexity" (2) war, die andere für Probleme organisierter Komplexität Er­

folg verspricht. Sinnfällig macht dies Bertalanffy in der Entgegensetzung des "law of dissipation in physics and the law of evolution in biology" (4), wobei das erste gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik

"toward states of maximum disorder and levelling down of differences", also zur Entropie strebe, das zweite "towards higher order, heterogeneity, and organization." (ebd.) Sei für jenen Bereich das "principle of equifinality"

gültig, welches besage, daß "the final state is unequivocally determined by

4 Siehe ebenso Rapoport 1968, der auch zur Gemeinde der Begründer der »General Sy­

stems Theory« gehört, allerdings schon im Rückblick schreiben und so distinkter zwi­

schen verschiedenen Ansätzen unterscheiden kann; hier insbesondere befaßt er sich mit Problemen der Integration von Ansätzen in die allgemeine Systemtheorie, v.a. des mathemati sehen.

(14)

the initial conditions" (ebd.), so nicht für offene Systeme; scheinen jenem Bereich "notions of teleology and directiveness" (6) abhanden zu gehen, so nicht diesem: sowohl für lebende Organismen wie für menschliche Gesell­

schaften müßten Vorgänge der "adaptiveness, purosiveness, goal-seeking and the like" (ebd.) in Betracht gezogen werden (vgl. 7).

In einem weiteren Schritt behauptet Bertalanffy, "that energy is the currency of physics" (5). Ihr wird als alternative Währung "information"

(ebd.) entgegengesetzt, da damit die genannten biologischen Phänomene besser erfaßt werden könnten. Die "Communication Theory" (ebd.), aus der dieser Begriff entnommen ist, stellt eines der Felder dar, die die Anlage der allgemeinen Systemtheorie konstituieren sollen. Als weiteres Zentralkon­

zept der Kommunikationstheorie wird »Rückkopplung« angeführt.

"Feedback arrangements" (ebd.) werden nun nicht nur an modernen Tech­

nologien aufgewiesen, sondern auch auf biologische Phänomene, wie etwa die Homöostase, angewandt. In der Kybernetik, ihrem generalisierten In­

formationsbegriff und dem »Rückkopplungsmechanismus« war eine ver­

bindende Disziplin entstanden, die sich zum einen als Hilfsinstrument an­

deren Disziplinen beiordnen ließ. Mit der Kybernetik entstand aber auch ein neues »Paradigma«. Mit der Grundeinheit der »Information« und dem Grundmechanismus der »Rückkopplung« ließ sich ein Hauptaugenmerk auf Fragen der organisationellen Gliederung und Steuerung legen. Abhän­

gig davon, wie stark diese Fragen erkenntnisleitend wurden, und abhängig davon, wieweit sie in verschiedenen Feldern zu artikulatorischer Macht gelangten, wurden Problematiken verändert und vom

»Informationsverarbeitungsparadigma« durchdrungen (vgl. als anerkann­

ten Begründungstext der Kybernetik Wiener 1948; 2.3; 8.1).

Bertalanffy selbst erhebt zum "unifying principle", "that we find orga­

nization on all levels" (8). Zur Problematik jeder Währung gehört: man kann vieles damit einkaufen, in der Gleichsetzung mit der neuen Wäh­

rungseinheit werden aber spezifische Differenzen eingeebnet.5 Ein Mix gemeinsamer Eigenschaften resultiert, von deren Zuschreibung auf die ver­

schiedensten Phänomene zahlreiche theoretische Kurzschlüsse zu erwarten sind. Kommt hinzu, daß schon die Darstellungsweise semantisch proble­

matische Interferenzen erzeugt, die auf einen Mangel an Sensibilität für Prozesse der Artikulation und Bedeutungskonstitution verweisen. Als Bei­

spiel für die Vermengung von »Organismus« und Gesellschaft«:

"Characteristic of organization, that of a living organism or a society, are notions like those of wholeness, growth, differentiation, hierarchical order, dominance, control, competition, and so forth." (7)

Auf der hohen Abstraktionsebene allgemeiner Systemtheorie geht es um die Bestimmung von Merkmalen von Systemen im allgemeinen. Der Systembegriff Bertalanffys ist denkbar einfach definiert als "complexes of elements standing in interaction." (2) Seine Kriterien des Vorkommens all-

5 Als Kritik der Übergeneralisierung von Informations- und Kommunikationstheorie ist in diesem Kontext aufschlußreich: Köck 1987.

(15)

gemeiner Systemeigenschaften sind einmal "the appearance of structural similarities or isomorphies in different fields", dann "correspondences in the principles which govern the behavior of entities that are intrinsically, widely different." (1) Die Bestimmung der Isomorphien bleibt auch im Hinweis auf notwendige mathematische Hilfsmittel unklar. Desiderat bleibt, daß "a unitary conception of the world may be based ... on the iso- morphy of laws in different fields" (8). Zusammenfassend lauten Bertalanf- fys Zielvorstellungen allgemeiner Systemtheorie:

"(a) There is a general tendency towards integration in the various sciences, na­

tural and social.

(b) Such integration seems to be centered in a general theory of systems.

(c) Such theory may be an important means for aiming at exact theory in the non-physical fields of science.

(d) Developing unifying principles running 'vertically' through the universes of the individual sciences, this theory brings us nearer to the goal of the unity of science.

(e) This can lead to a much-needed integration in scientific education." (2)

Dient nun die ganze Veranstaltung »allgemeine Systemtheorie« nur der Vereinigung der scientific community und der Befruchtung ihrer Kon­

zepte? Ein Ausgleich etwa für die armen Sozialwissenschaftler, falls richtig ist, "that we know and control physical forces only too well, biological for­

ces tolerably well, and social forces not at all" (10)? Das mag sein, insofern diese nicht nur finden, that "what is lacking...is the knowledge of the laws of human society", but "consequently a sociological technology." (ebd.)

2.3 Theoretische Ausdehnung und gesellschaftliche Karriere von Theoremen der »Selbstorganisation«

Die Skizzierung der interdisziplinären Problematik des »Bertalanffy-Pro- gramms« - ohne seine weitere Aus- und Abarbeitung zu zeigen - soll hier genügen. Stattdessen blende ich nun den Zusammenhang ein, aus dem die Autopoiesistheorie historisch hervorgegangen ist. Die Rekonstruktion der Genese und Entwicklung eines interdisziplinären Geflechts von Theorien der »Selbstorganisation« ist der darstellungsleitende Gesichtspunkt. Eine auffallende Kontinuität zwischen »Bertalanffy-Programm«, Theorien der

»Selbstorganisation« und Konzeptionen von »Autopoiesis« findet sich in Fragen der »Organisation« von Systemen und im Stellenwert des Problems

»organisierter Komplexität«.

Die Entwicklung von Theorien der »Selbstorganisation« versuchen Krohn, Küppers und Paslack zu rekonstruieren. Sie verwenden dabei

"Selbstorganisation als übergeordnete Kennzeichnung" (Krohn u.a. 1987, 441) für »Autopoiesis«, »Synergetik« oder »Konstruktivismus«. Ihr Um­

gang mit der Behauptung eines Paradigmenwechsels ist widersprüchlich.

(16)

Wie um sich in den »Diskurs des Radikalen Konstruktivismus« einzu­

schreiben, reproduzieren sie zunächst ohne jede Andeutung von Distanz das Selbstverständnis der Protagonisten der Selbstorganisationstheorien, wenn diese auch für sie "einen umfassenden Paradigmen Wechsel in den Wissenschaften - eine wissenschaftliche Revolution" (ebd.) signalisieren.

Später stellen sie umgekehrt fest: "Ein zusammenfassendes übergeordnetes Beschreibungsmuster für die intuitiv als »revolutionär« gekennzeichneten Phänomene gibt es nicht und eben deswegen auch keine sichere Grundlage für die Behauptung, eine gegenwärtige Entwicklung sei revolutionär." (442) Den Theoremen der »Selbstorganisation« gegenüber äußern sie Zweifel, weil "ihre Grundvorstellungen...alt" (ebd.) sind. Eine Unentschiedenheit zieht sich jedoch durch den ganzen Text, etwa wenn sie sich doch um Gründe bemühen, die die Rede von einer »wissenschaftlichen Revolution«

rechtfertigen sollen (vgl. 445).

Ihre Skizzierung der Entwicklung der Selbstorganisationstheorien ist nützlich, und das ausgebreitete Material instruktiv. Moderne Konzepte der

»Selbstorganisation« unterscheiden sie von älteren durch die Merkmals­

kombination »energetischer« und »materieller Offenheit« der Systeme ei­

nerseits und ihrer »operationalen Geschlossenheit« andererseits. Dadurch, daß die Systeme nicht mehr "als komplexe Reaktionsmaschinen für Um­

weltreize konzipiert" werden, "spielen in der neuen Systemtheorie rekur­

sive Funktionen eine entscheidende Rolle: die Reaktion wird zum neuen Reiz - die Wirkung zur Ursache." (446/7) Nach diesem Kriterium "lassen sich zumindest fünf voneinander unabhängige Entwicklungsstränge der Selbstorganisation unterscheiden." (447)

"(a) 1960 veröffentlichte Heinz von Foerster eine Arbeit mit dem Titel »On Self- Organizing Systems and their Environment«, in der er das Prinzip »Order from Noise« einführte. Man kann diese Arbeit als Geburtsstunde der

»Selbstorganisation« betrachten, weil in ihr eine klare Formulierung des neuen Systembegriffs vorliegt". Als wichtigste Vorläufer dieses Entwicklungsstrangs werden genannt "Kybernetik (Wiener, Ashby), Informationstheorie (Shannon), Automatentheorie (Turing, von Neumann) und allgemeine Systemtheorie (von Bertalanffy)" (ebd.).

(b) Im Zusammenhang mit der Arbeit an Problemen einer irreversiblen Ther­

modynamik seit Mitte der 1940er Jahre thematisierte Ilya Prigogine "das Pro­

blem der Entstehung von Ordnung aus Unordnung" und legte 1971 in dem zu­

sammen mit P.Glansdorff verfaßten Buch »Thermodynamic Theory of Struc­

ture, Stability and Fluctuation« sein "erstes Hauptwerk zu seiner Theorie dissi­

pativer Strukturen" (ebd.) vor.

"(c) Ende der 1960er Jahre begann Manfred Eigen mit Arbeiten zur molekularen Selbstorganisation." In der 1971 erschienenen Veröffentlichung »Self-Organiza- tion of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules« "zeigte Eigen, daß Selektion ein »physikalisches Gesetz« ist, und bewies damit, daß sich die Ideen Darwins auch auf eine Evolution weit unterhalb der Ebene der Organis­

men anwenden und damit ihrerseits auf die Prinzipien der chemischen Reakti­

onskinetik beziehen lassen. Hier wurde die Entstehung und Stabilisierung von biologischer Information thematisiert. 1977 bzw. 1978 erschien dann die dreitei­

lige, mit Peter Schuster verfaßte Arbeit »The Hypercycle«, in der ein exaktes Modell der präbiotischen Evolution vorgestellt wird." (448)

(17)

(d) Die Anfang der 1960er Jahre von Hermann Haken begonnene Ausarbeitung einer "Theorie des Lasers" (ebd.).

(e) Die "moderne Ökologie" sei mit dem Mitte der 60er Jahre entwickelten

"Konzept der Koevolution" und der "Untersuchung über die Stabilität von Öko­

systemen jenseits des Gleichgewichts...zu neuen Modellvorstellungen" (ebd.) gekommen.

Diese Entwicklungsstränge könnte man durch Gestaltpsychologie, Turbu­

lenztheorie und Katastrophentheorie ergänzen. Im folgenden soll keine Be­

urteilung dieser Theorien innerhalb fachspezifischer Kontexte versucht werden, sondern lediglich ein Fazit hinsichtlich der Problematik der Gene­

ralisierung der Selbstorganisationskonzepte.

In dieser ersten Phase, die Krohn u.a. bis zum Beginn der 70er Jahre veranschlagen, sei "es zur Bildung von Theoriekemen und Modellvorstel­

lungen in Disziplinen (gekommen), die wenig miteinander zu tun hatten."

"Die Konzepte standen in der jeweiligen Problem- und Theorietradition der entsprechenden Forschungsfelder." (ebd.) Für die Triftigkeit dieser Beob­

achtung verweisen sie auf die Arbeiten der Zeit und auf Interviews, die sie mit den "Gründer(n) der modernen Konzepte der Selbstorganisation ge­

macht haben." (ebd.; zu den Interviews vgl. 449-451)6 In der ersten Phase wurden "mathematische Modelle zur Erklärung besonderer Phänomene bzw. zur Lösung anerkannter Probleme eines Forschungsfeldes gesucht, die Ergebnisse wurden in den für das jeweilige Feld typischen Standard­

zeitschriften veröffentlicht." (452)

"In einer zweiten Phase, die etwa bis 1975 reicht, wurde die Ähnlich­

keit der benutzten Gleichungen, die Analogie der Konzepte entdeckt. Die Forscher begannen, ... einen gemeinsamen epistemischen Inhalt zu vermu­

ten oder zu entwerfen, über den ganz unterschiedliche Forschungspro­

gramme aus einer Vielzahl von Disziplinen miteinander verbunden wer­

den konnten." (ebd.) Der gegenseitige Wahmehmungsprozeß soll teils zu­

fällig erfolgt sein, teils war er schon institutionell interdisziplinär angelegt wie in dem von von Foerster initiierten »Biological Computer Laboratory«

in Urbana (Illinois) - hier arbeiteten u.a. "Physiker (v.Foerster), Systemtheo­

retiker (Lifgren), Philosophen (Günther), Kybernetiker (Ashby), Biologen (Maturana)" (453) zusammen. Die wechselseitige Wahrnehmung und Kommunikation "führte nun dazu, daß man über die Analogie der mathe­

matischen Gleichungen auf die Analogie der benutzten Konzepte und auf ein für die verschiedenen Phänomenbereiche gemeinsam geltendes Prinzip schloß." (454)

Die Vorgänge dieser Phase können als entscheidend für das

»Abheben« von Konzepten aus ihrem Ursprungsbereich angesehen wer­

6 Von »Theoriekernen« läßt sich nur in der Perspektive der Ausdehnung von Konzep­

ten sprechen. In derselben Linie liegt die Formulierung vom »revolutionären Kern«.

Dieser wäre unerkannt geblieben, "weil seine zentrale Funktion für einen theoreti­

schen Neuansatz in der eher pragmatischen Einbindung in den disziplinären Kontext verborgen" (451) blieb. Der disziplinspezifische Gegenstandsbezug wird hier also ne­

gativ als pragmatische Beschränkung artikuliert.

(18)

den: Ein Prinzip, dem Gültigkeit in verschiedenen Bereichen zugeschrieben wird, ermöglicht die Generalisierung von Fragestellungen und Zugangs­

weisen. Zudem erlaubt es, konzeptionell Mechanismen und Prozeßlogiken in den Gegenstandsfeldem zu homologisieren. Eine solche Entwicklung sollte als nichtselbstverständlich und wissenschaftstheoretisch problema­

tisch angenommen werden. Der Duktus der Autoren ist dagegen entdra- matisierend, wenn sie schlicht feststellen, daß nun "die Entstehung von Ordnung...nicht mehr als Spezialproblem am Rande verschiedener Gebiete, sondern als ein zentrales Problem, dem man überall begegnet, begriffen"

wurde; oder daß nun "aus unabhängig voneinander entstandenen Theorien die gerichtete Entwicklung zu einer neuen Theorie" (ebd.) angegangen wurde. »Entstehung von Ordnung« zum zentralen, übergreifenden Pro­

blem zu machen, ist ein strategischer, umgestaltender Akt: es wird nicht bloß ein in verschiedenen Feldern schon Gegebenes entdeckt, sondern im Spannungsfeld von interdisziplinärer Zusammenschließung und Postulie- rung disziplinär spezifizierter Prinzipien wird etwas Neues konstituiert.

Folgerichtig sind nun für eine "dritte Phase, die bis etwa 1980 reicht,...

Strategien zur »Globalisierung« der Konzepte, mit denen die einzelnen Vertreter der neuen Theorie deren Allgemeingültigkeit und Übertragbar­

keit auf eine Reihe von Bereichen, die zunächst nicht zu ihrem Forschungs­

gebiet gehörten, zu reklamieren versuchten." (455) Kritisch bemerken Krohn u.a., daß diese Übertragung "freilich meist nur auf einer metaphori­

schen Ebene" (ebd.) geschah. So veröffentlicht Haken 1981 ein Buch

»Erfolgsgeheimnisse der Natur«, in dem "sein Konzept der Synergetik Phä­

nomene der biologischen Evolution, der Ontogenese, der Ökonomie, der Politikwissenschaft und der Wissenschaftsentwicklung" (ebd.) integrieren soll. "Eigen behandelt in dem Buch »Das Spiel - Naturgesetze steuern den Zufall« (1975) Probleme der Ökologie, der Ökonomie und sogar der Ästhe­

tik." (ebd.) Prigogine verband in seinem "Buch »Vom Sein zum Werden«

ebenfalls Beispiele aus der Ökologie, der Ökonomie und der Biologie"

(ebd.).

Die Wissenschaftler zeigen dieser Entwicklung gegenüber unter­

schiedliche Haltungen: Skeptisch äußert sich Eigen, da die Gesellschaft zwar "ein dynamisches System", aber deshalb noch nicht geeignet sei, um das Selbstorganisationsverhalten an sich - und das ist die Physik der Selbstorganisation - zu untersuchen" (456). Von Foerster hingegen inter­

pretiert diese Entwicklung als "Anschluß an die cognitive sciences" (455) und gibt ihr damit eine zusätzliche Wendung. Der Anschluß wird als Ver­

lagerung des Terrains, des epistemologischen Fokus artikuliert, "weil man sich nicht mehr um die Organisation von Systemen kümmert, sondern fragt, wie kann ich meine kognitiven Strukturen organisieren, so daß ich Organisation erkenne, d.h., das Ganze ist jetzt ein Problem des Erkennens, ein erkenntnistheoretisches Problem ... und das ist eine faszinierende Wen­

dung." (455f.)

So zeigt sich der eine skeptisch gegenüber dem, was er selber mit pro­

duziert; der andere bewegt sich offensiv in "neue ontologische und er­

(19)

kenntnistheoretische Grundlagen" (456) weiter. Schließlich gibt es Versu­

che, "eigene Modellierungen vorzunehmen, die nicht generalisierend sind, sondern in denen die Prinzipien der Selbstorganisation an die Besonder­

heiten der Fachgebiete angeknüpft werden." (ebd.) Solche Versuche ließen sich in der Managementtheorie, der Volkswirtschaft, der Linguistik und der Psychologie beobachten.

Die angezielte "»Globalisierung« (war also) mit einer Popularisie­

rungskampagne verbunden, die den expansiven Charakter dieser Phase erhöhte." (455) Eine Gefahr dieser Art von Ausdehnung sehe ich in der Aushöhlung des Wissenschaftscharakters. Die Verankerung in einer spezi­

fischen Disziplin, seinen Gegenständen und Methoden kann verloren ge­

hen oder muß mit bloßer Metaphorik bezahlt werden. Dergestalt wird der Charakter als Theorie, nicht die institutionelle Absicherung und Regelung als Wissenschaft angegriffen. Mit dem Brechen von internen Beschränkun­

gen gegen eine Übergeneralisierung von Konzepten werden Räume gegen­

über der »gesellschaftlichen Umwelt« und den »spontanen Philosophien« - deren auch die Naturwissenschaftler mächtig sind - geöffnet. Die Expan­

sion wird zum Tritt in eine Falle der Ideologie, die sich der Wissenschaft bemächtigt. Die Verhältnisse und Prozesse wechselseitiger Beeinflussung werden nun strategisch und für die Beobachtung interessant.

Im Zusammenhang von Konzepten der »Selbstorganisation« stellt der sog.

»Spiritualismus« eine Formation dar, die verschiedene gesellschaftliche Be­

reiche und Akteure übergreift - etwa naturwissenschaftliche Konzepte und ökologistische und feministische Strömungen zusammenbindet. (Zur Kon­

stitution und Kritik des Spiritualismus vgl. Nemitz 1986.) Der Spiritualis­

mus selbst ist keine homogene Formation. Die versammelten Denkweisen können in sich gespalten, die wechselseitigen Wahrnehmungen divergie­

rend, die Rollen unterschiedlich verteilt sein. In der Wissenschaft können so theoretischer Emst wie fröhliche Generalisierung durchaus miteinander konkurrieren. Unterschiedliche politische Haltungen und Konsequenzen sind denk- und anlagerbar.7

Zum gesellschaftlichen Kontext von »Selbstorganisation« gehörte in den 70er Jahren "eine spezifische Art der »Zivilisationskritik«" (457): die

"Kritik an Prozessen ungeregelten (exponentiellen) Wachstums, die mit ei­

ner entsprechenden Zerstörung der Umweltbedingungen einhergehen;" die

"Kritik am Zentralismus bürokratischer Versorgungssysteme und großtech­

nologischer Zukunftsplanung" sowie die Kritik an der Logik des Wettrü­

stens." (ebd.) In den stark anwachsenden sozialen Bewegungen von Um­

7 Krohn u.a. verweisen auf solche Zusammenhänge. Unscharf resp. mißverständlich verbleiben sie in der pauschalisierenden Rede von "der Wissenschaft" und von

"wissenschaftlichem Gedankengut" (457), ohne die innere Brüchigkeit herauszustellen;

empirisch falsch wird in der Folge, die Popularisierung denjenigen Autoren zuzu­

schreiben, "die an ihrer (=Thcorie; D.B) Ausformulierung nicht beteiligt gewesen wa- ren"(458). Daß das nicht nur ihrem Urteil über Eigen und Prigogine widerspricht, sondern eine über Leute wie Capra oder Ferguson hinaus verbreitete Tendenz trifft, wird unten des öfteren ersichtlich werden.

(20)

weltschutz, Frauen und Frieden wurden sie z.T. "mit einer allgemeinen Kritik an Wissenschaft und Technologie verknüpft" (ebd.). "In dieser Situa­

tion konnte das Programm der Selbstorganisation sowohl die Kritik ver­

stärken (als »revolutionäre Bewegung« in der Wissenschaft) als auch ab- fangen, da es Alternativen anbot, die nicht einfach irrational oder fort­

schrittsfeindlich waren." (458)

"»Dialog mit der Natur«, »Selbststeuerung statt Fremdsteuerung«,

»Koevolution statt Krieg«" (ebd.) fungieren nun gleichzeitig als Formeln der Popularisierung und Verbreiterung der Selbstorganisationskonzepte wie der Artikulation der Protestbewegungen. Die Art der Artikulation ist nicht vorgegeben und bleibt politisch umstritten. Für das antagonistische Potential der sozialen Bewegungen stellen jene Formeln eine Gefahr dar, wenn sie die Bewegung nach innen, ins Bewußtsein lenken oder

»ganzheitlichen« Lebensweisheiten und Harmonietheorien Vorschub lei­

sten. Ob das Übergreifen der "traditionellen politischen Koordinaten des links-rechts Schemas" (ebd.) Stärke oder Schwäche bedeutet, steht nicht von vornherein fest. Insgesamt ist von »Selbstorganisation« keine allgemeine Versöhnung zu erwarten oder zu befürchten: Vielmehr kann man damit rechnen, daß mit wachsendem Einfluß auch neue Spaltungslinien in den Bewegungen wie in der Wissenschaft produziert werden, wenn Einheiten als illusionäre oder Differenzen als schädliche zugunsten anderer bekämpft werden.

Meine Skepsis gegenüber Konzepten der »Selbstorganisation« wäre als pauschale Verurteilung mißverstanden. Es geht mir darum, ihnen die Eindeutigkeit - in die eine oder andere Richtung - zu nehmen und auf die verschiedenen Verwendungskontexte hinzu weisen. Die Problematik, die wir gerade anhand der »Selbstorganisation« behandeln, kann man mit ei­

ner einfachen interpretationstheoretischen Überlegung erhellen. Allgemein gilt, daß die Bedeutungen von Konzepten nie eindeutig festgeschrieben und auch nicht ins Unmißverständliche gebracht werden könnten, sondern immer interpretationsabhängig, und damit umkämpft bleiben. Entschei­

dend ist die diskursive Verknüpfung mit anderen Konzepten, der Rahmen, in dem »Selbstorganisation« zum Zuge kommen soll, und die Subjekte, die - bestimmte Projekte verfolgend und in bestimmten Sinngemeinschaften verwurzelt - um bestimmte Artikulationen ringen (vgl. Taylor 1975). Da die gesellschaftlichen Verhältnisse von verschiedenen Antagonismen durchzo­

gen sind, ist eine antagonistische Reklamation von »Selbstorganisation« zu erwarten. Entsprechend kann »Selbstorganisation« auf der einen Seite das alte anarchistische Projekt, Kompetenzverlagerungen hin zu gesellschaftli­

chen Akteuren und die Demokratisierung in allen gesellschaftlichen Berei­

chen vorzunehmen, bedeuten. Auf der anderen Seite kann

»Selbstorganisation« in ein Herrschaftsprojekt selbsttätig-kooperativer Unterstellung eingefaßt sein.

Die Gestaltung eines interdisziplinären Projekts ist nicht nur von den Fächern, die in es eingehen, abhängig, sondern auch von den gesellschaftli­

chen Kräften, die es bestimmen. Wenn S.J.Schmidt den »Radikalen Kon­

(21)

struktivismus« als "ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs"

(Schmidt 1987a, 11) vorstellt, läßt schon die Fächerkombination aufhorchen:

Auf der Grundlage der Biologie und Kognitionstheorie Maturanas werden Soziologie, Literaturwissenschaften, Psychologie/Psychiatrie und Mana­

gementwissenschaften miteinander verknüpft. Wie die Bedeutung von

»Selbstorganisation« vom Rahmen ihrer Entfaltung abhängig ist, läßt sich leicht an den Beispielen ihrer instrumentellen Indienstnahme zeigen (vgl.

auch 8.2):

"Radikal konstruktivistische Positionen haben in den letzten Jahren auch in der Managementforschung ihr Innovations- und Problemlösungspotential unter Beweis gestellt. Dabei haben sich vor allem Konzepte wie

»Wirklichkeitskonstruktion«, »Selbstorganisation«, »Selbstreferenz« und

»Verantwortung« als wichtig herauskristallisiert." (53)

Anlaß für eine Umorientierung der Managementkonzepte waren Einsich­

ten in die Grenzen der Planbarkeit von Organisationen nach dem Muster von Befehl und Gehorsam; ferner die Unmöglichkeit, an der Spitze der Hierarchie über das ganze für Entscheidungen notwendige Wissen zu ver­

fügen. Von daher sollte das traditionelle »Organisieren von oben« gestützt werden durch »Selbstorganisation von unten«:

"In der bisherigen Managementwissenschaft stand Organisieren als konstituti­

ver Prozeß des substantiellen Gestaltens im Vordergrund des Interesses. Da­

durch wurden zwei Aspekte ausgeblendet: symbolisches Gestalten (im Sinne von Sinnvermittlung, Handlungslegitimation, Motivationsmobilisierung, Im­

plementieren von Innovationen usw.) einerseits und spontane Prozesse der Ordnungsbildung (Selbstorganisation) andererseits." (54)

So reagiert »Selbstorganisation« auf Probleme betrieblicher Organisation, die ihre zuspitzende Dynamik im Zusammenhang der Herausbildung einer mikroelektronisch-automatischen Produktionsweise erhalten; gleichzeitig ist sie funktional gebunden an organisierende Managementtätigkeiten, die wesentliche Anstöße von »Außen«, etwa dem Markt, erhalten. (Vgl. zu Veränderungen in der Arbeitsorganisation und zu neuen Management- und Produktionskonzepten PAQ 1987, Teil III und V sowie Kem/Schumann 1984.)

"Organisieren und Selbstorganisation sind komplementäre und sich reflexiv be­

einflussende Prozesse in sozialen Systemen. Beide zusammen charakterisieren das Funktionieren institutionaler Systeme." (Probst/Scheuss 1984, 487, zit. n.

Schmidt 1987a, 56)

»Nur nicht zu viel Selbstorganisation« darf nach diesen Vorstellungen re­

sultieren. Der Entzug der Verfügungskompetenzen über die strategischen Organisierungs- und Entscheidungstätigkeiten bildet die grundlegende Schranke von »Selbstorganisation«; die Kompetenzen verbleiben beim Ma­

(22)

nagement als den Hauptverantwortlichen im Untemehmensgeschehen. Zu deren notwendigen Aufgaben gehört dann auch, die »Selbstorganisation«

der »Mitarbeiter« konstruktiv anzuleiten-.

"Der radikalkonstruktivistisch orientierte Manager soll neuartige Perspektiven und Sinnzusammenhänge vermitteln, also - im Sinne H. von Foersters - Hand­

lungsmöglichkeiten eröffnen, in denen neue Wirklichkeiten erfunden werden können. Wegen der Selbstorganisations-Komponente in sozialen Systemen kann es dabei nicht um eine Schaffung sozialer Wirklichkeiten durch bewußte Mani­

pulation gehen. Manager können aber Kontexte für Wirklichkeitskonstruktio­

nen schaffen, vor allem durch neue Interpretationsrahmen für Handlungen."

(Schmidt ebd., 56f.)

2.4 Theorie autopoietischer Systeme

Die Autopoiesistheorie kann in der Tradition situiert werden, die sich zen­

tral mit Fragen der »Selbstorganisation« befaßt. Sie gilt als Kristallisations­

punkt für Innovationen in der Systemtheorie und als Nachfolgeparadigma des Bertalanffy-Programms (vgl. 2.2). Eine Diskussionslinie bemüht sich um eine allgemeine Theorie autopoietischer Systeme. Deren Geltungsbe­

reich wird für lebende, psychische und soziale Systeme veranschlagt; auf diesen Feldern wird die Generalisierung des Autopoiesiskonzepts versucht.

Ein traditioneller Kembestand systemtheoretischer Überlegungen - die Ma­

schinen - fällt so zunächst heraus in den Bereich allopoietischer Konstrukti­

onszusammenhänge.8

Der mögliche Geltungsbereich allgemeiner Autopoiesistheorie ist ge­

genüber der allgemeinen Systemtheorie enger gefaßt. Der engere Möglich­

keitshorizont autopoietischer Systeme könnte daher rühren, daß Maschinen fremdkonstruiert und -montiert sind. Dennoch überrascht mich, daß in keinem der mir bekannten Texte zur Autopoiesistheorie versucht wird, Maschinen in die allgemeine Konzeptualisierung aufzunehmen. Dies wäre sogar naheliegend angesichts der Entwicklung von automatischen, prozeß­

gesteuerten Anlagen in der industriellen Fertigung oder von Biotechnolo­

gien. Der Umstand, daß Maschinen nach vorgefertigten Plänen konstruiert werden und menschliche Eingriffe in der einen oder anderen Form immer notwendig bleiben, stünde einer Ausdehnung des Autopoiesiskonzepts in den maschinellen Bereich nicht entgegen. Denn grundsätzlich verlagert ja schon die Generalisierung des Autopoiesiskonzepts über den engen, die physiko-chemische Konstitution des biologischen Organismus betreffenden

8 Was nicht ausschließt, Maschinenmodelle in die Erläuterung der Funktionsweise au­

topoietischer Systeme aufzunehmen; mit den »nichttrivialen Maschinen« von Foersters etwa sollen einfache Determinationsmodelle zugunsten komplexerer, die Innendetermination und -aktivität von Systemen hervorhebende, aufgegeben werden (vgl. v.Foerster 1985a, 44ff.).

(23)

Bereich hinaus die Konzeptualisierung autopoietischer Selbstproduktion auf die Elemente operativer Steuerung. So bezeichnet »Autopoiesis« nicht mehr den Ablauf des materiellen Produktionsvorgangs, sondern den Zu­

sammenhang verschiedener vom System kontrollierter Funktionsmechanis­

men. Für die Maschinentheorie könnten Entwicklungen zu Prozessen, die sich selbst regulieren oder gar in der Lage sind, Veränderungen im Modus der Steuerung selbsttätig vorzunehmen, eine solche, zur soziologischen funktional äquivalente Verlagerung rechtfertigen. Zu beobachten ist so von Anfang an, auf welchen analytischen Ebenen und mit welchen Bedeutun­

gen »Produktion« begrifflich entfaltet wird. Damit wird auch die Frage wichtig, wie in der Konzeptionalisierung von »Autopoiesis« die Beziehung zur »Allopoiesis« gefaßt wird.

Hier w ill ich es bei diesen Hinweisen unterschiedlicher Konzeptuali- sierungen von »Autopoiesis« bewenden lassen. (Für die theorieimmanente Diskussion - mit biologischem, kognitions- und erkenntnistheoretischem Schwergewicht vgl. die Beiträge in Zeleny 1980 und 1981.) In 2.4.1 versuche ich, die Autopoiesistheorie in ihrem biologischen Ursprungsbereich zu um­

reißen. Dabei wird ersichtlich, daß »Autopoiesis« bereits da konzeptionell heterogen gestaltet ist. Die Beobachtung ihrer innerdisziplinären Proble­

matik führt unmittelbar zu den Fragen konzeptioneller Generalisierung zu­

rück. Die Einschätzung der Möglichkeiten des Ausbaus des Autopoiesis- konzepts und die Handhabung seiner Generalisierung divergieren. Bevor ich in 2.5 zwei grundsätzlich verschiedene Strategien der Übertragung des Autopoiesiskonzepts in die Soziologie vorführen werde, zeige ich in 2.4.2, wie sich die Perspektive der biologischen Autopoiesistheoretiker auf das Feld des Sozialen ausnimmt.

2.4.1 Positionen in der Biologie (Maturana, Varela, Roth)

Als Urheber des Konzepts der Autopoiesis gelten die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Sie entwickelten es im Zusam­

menhang der Analyse der Zellreproduktion. Mit ihm verbinden sie jedoch weitergehende Ansprüche - etwa lebende Systeme schlechthin zu erfassen:

"Der Begriff der Autopoiese steht im Zentrum einer neuen Sicht auf biologische Phänomene; er drückt aus, daß die Mechanismen der Selbst-Erzeugung den Schlüssel für das Verständnis der Mannigfaltigkeit wie der Einzigartigkeit des Lebens liefern. Damit stellt er erneut in differenzierter Weise das Verständnis der Fortpflanzung, der Evolution und kognitiver Phänomene zur Debatte."

(Varela 1987,119)

An dieser Relevanzbestimmung ist nicht nur bemerkenswert, daß zwischen dem primären Untersuchungsmaterial - Zellen und Nervensystemen - und diesen Ansprüchen Generalisierungsschritte liegen, sondern auch, daß sie die Terminologie der »Selbstorganisation« anklingen läßt. Im folgenden

(24)

fällt auf, daß die Referenzebene des Autopoiesiskonzepts durchweg der

»Organismus«, das »lebende System« ist Somit fügt es sich umstandslos in die Systemtypologie der allgemeinen Systemtheorie ein. (Zu einigen Impli­

kationen des »abstrakten Organismusmodells« vgl. 8.1.) Beginnen wir die Vorstellung elementarer Konzepte mit einer der Definitionen von

»Autopoiesis«:

"Es gibt eine Klasse von Systemen, bei der jedes Element als eine zusammenge­

setzte Einheit (System), als ein Netzwerk der Produktionen von Bestandteilen definiert ist, die a) durch ihre Interaktionen rekursiv das Netzwerk der Produk­

tionen bilden und verwirklichen, das sie selbst produziert hat; b) die Grenzen des Netzwerks als Bestandteile konstituieren, die an seiner Konstitution und Realisierung teilnehmen; und c) das Netzwerk als eine zusammengesetzte Ein­

heit in dem Raum konstituieren und realisieren, in dem es existiert." (Maturana 1987,94)

Autopoietische Systeme bilden eine Teilmenge der möglichen Systemty­

pen. Bei ihnen erfolgt die Konstitution von »Elementen« zu Bestandteilen des »Systems« im Rahmen eines »Netzwerks«. Dieses determiniert und produziert die Bestandteile in »Rekursion«; so werden die Grenzen und der Raum der Realisierung von »Autopoiesis« festgelegt. Ein autopoietisches System kann unterschiedlich konstituierte Bestandteile haben. Diejenigen,

"die nicht an einem autopoietischen Netzwerk beteiligt sind, (können) be­

liebig sein, solange sie es nicht beeinträchtigen" (96).

"Autopoietische Systeme sind struktur-spezifizierte Systeme; ihre Struktur legt fest, welche strukturellen Veränderungen sie durchmachen können." (95) »Struktur« wird von »Organisation« abgesetzt. Diese bezieht sich "auf die Beziehungen zwischen den Komponenten ..., die eine zusam­

mengesetzte Einheit als Einheit einer bestimmten Klasse definieren." (92) Mit dem Bezug auf eine typische Klasse sind die Grenzen bezeichnet, bei deren Verlust ein System seine Identität verliert. "Struktur dagegen benutze ich zur Kennzeichnung der tatsächlichen Bestandteile und Beziehungen, die eine bestimmte zusammengesetzte Einheit zu einem konkreten Fall ei­

ner bestimmten Klasse von Einheiten machen." (92) Die aktuellen Möglich­

keiten strukturellen Wandels von autopoietischen Systemen legt "die je­

weils gegenwärtige Struktur" (95), die prinzipiellen Möglichkeiten der Ver­

änderung, soll die Systemidentität gleichbleiben, legt der Organisationstyp fest. Solche Systeme, "deren Struktur sich ohne Verlust ihrer Klasseniden­

tität, d.h. ohne Wandel in der Organisationsform, verändern" (101) können, nennt Maturana »strukturell plastische Systeme«.

Das Autopoiesiskonzept akzentuiert nicht nur die systeminterne Be­

stimmung der Elemente, der Struktur etc., sondern auch der systemrele­

vanten Umwelt. Ferner determiniert "das autopoietische System das Me­

dium, in dem es operiert, durch seine jeweilige Struktur" (95). Daraus re­

sultiert für die Systemtheorie eine Umformulierung der zentralen Unter­

scheidung von »Geschlossenheit« und »Offenheit«: "Im Hinblick auf seine Zustände operiert ein autopoietisches System als geschlossenes System, das

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