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12. Dezember 2014HISTOPATHOLOGISCHE BEFUNDE
Einheitliche Bezeichnungen in
medizinischen Gutachten gefordert
Degeneration oder Texturstörung? Während der erste Befund eine Störung des Zellstoffwechsels beschreibt, beinhaltet der zweite Abbauvorgänge des bradytrophen Gewebes sowie reparative, proliferative Veränderungen.
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ie Bezeichnung „Degenera- tion“ wird im alltäglichen diagnostischen Sprachgebrauch un- einheitlich und missverständlich verwendet und ist im histopatholo- gischen Sinn als Texturstörung (1) des bradytrophen Gewebes „struc - tural alteration“ (2, 3) definiert.Dies umfasst den Gewebeabbau und die reparativen Gewebeum- bau-Vorgänge des bradytrophen
Gewebes von Gelenkkapsel, Bän- dern, Sehnen, Bindegewebsknor- pel, Meniskus, Labrum acetabula- re/glenoidale, Discus triangularis, Zwischenwirbelscheibe und hyali- ner Knorpel, wobei mehrheitlich Arthrosen gemeint sind, welche in Orthopädie und Unfallchirurgie konservativ und operativ behan- delt werden (4).
Für „Degeneration“ und „Textur- störung“ verwendet man auch das Wort „Bezeichnung“ und nicht
„Begriff“. Unter “Begriff“ versteht man im Allgemeinen einen Bedeu- tungsinhalt und nicht eine Defini - tion. In den Grundlagen der All - gemeinen Pathologie gibt es die Unterscheidung zwischen der Zell- und der Bindegewebspathologie (Matrixpathologie). Diese Differen- zierung ist sowohl für die korrekte Diagnose, als auch für die daraus resultierende Konsequenz, zum Bei-
spiel bei der Begutachtung, von Bedeutung. Nachdem seit 1924 die Degeneration kritisch beurteilt wird, ist es an der Zeit, diese Bezeichnung der Zellpathologie zuzuordnen (2, 5–8, 9). Die damit gemeinten Veränderungen in der Matrix des bradytrophen Bindege- webes sind Struktur- oder Textur- störungen, die in frische (rezente), veraltete (obsolete, nicht exolete) oder überlastungsbedingte („over- use“) eingeteilt werden müssen.
Die „Degeneration“ ist in aktu- ellen Pathologielehrbüchern reser- viert für Zellveränderungen und nicht für pathologische Erscheinun- gen an einem Gewebekomplex wie dem bradytrophen Bindegewebe.
Nach Eder und Gedigk (8) bezeich- net „Degeneration“ reversible Ver- änderungen der Zellstrukturen, die entweder durch eine gestörte Funk- tion verursacht werden oder ihrer-
seits eine Störung der Funktion bewirken. Gemeint sind Schädigun- gen der submikroskopischen Struk- turen der Zelle. Folge ist die Zerstö- rung der Kern- und Zytoplasma- strukturen. Es resultiert eine irre- versible Zellschädigung. Wenn die schädigende Noxe wegfällt, ist eine Reparation anfangs möglich. De - generative Zellveränderungen sind:
Störungen des Wasserhaushaltes der Zelle und abnorme Ansamm- lungen von Stoffen in der Zelle.
Abbildung links:
Leichtgradige Tex- turstörung (Grad 1), weitgehend alters- entsprechend.
Abbildung rechts:
Schwergradige Tex- turstörung (Grad 3).
Foto: Veit Krenn, Trier
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12. Dezember 2014 A 2225 Dass die „Degeneration“ insbeson-dere am bradytrophen Bindegewe- be problematisch ist, hat bereits Aschoff (5) beschrieben. Ebenso sieht Hamperl (11) in der Degenera- tion eine Störung des Zellstoff- wechsels, weswegen die Bezeich- nung Degeneration vermieden wer- den sollte. Otte (6) hat, bezogen auf den Gelenkknorpel, den Hinweis gegeben, dass der Qualitätsverlust des Gewebes die Resistenz gegen- über mechanischer Beanspruchung vermindert und zu den bekannten
„Texturstörungen“ führt. Die mecha- nisch-bedingten Faktoren bezeich- net Otte (6) als Destruktion oder Texturstörung. Die Degeneration ist dann lediglich ein metabolischer Faktor, der sich in den Knorpelzel- len abspielt. Unter Berücksichti- gung der Zellzahl sollte nicht von der Degeneration, sondern von Tex- turstörungen gesprochen werden.
Die Verwendung der Degenerati- onsbezeichnung am bradytrophen Bindegewebe führt gutachtlich zu Missverständnissen und Fehlinter- pretationen. Im Lehrbuch der All- gemeinen und Speziellen Patholo- gie von Riede und Schäfer (12) wird ebenfalls von der Bezeich- nung „Degeneration“ (= Abartig- keit) abgeraten, es werden einzelne pathologische Phänomene empfoh- len. Im Lehrbuch der Pathologie von Böcker, Denk und Heitz (13) findet sich das Wort „Degenerati- on“ im Sachverzeichnis nicht mehr, auch hier wird die Abgrenzung der Zellpathologie von der des Binde- gewebes deutlich.
Histopathologische Graduierung
Aus Gründen der Praktikabilität orientiert sich eine reproduzierba- re, histopathologische Begutachtung der Texturstörung in erster Linie an quantitativ dominierenden Matrix- Veränderungen, in zweiter Linie an zellulären Veränderungen (3).
Funktionell stellt die „Degenerati- on“ eine Störung der ana-/katabolen Balance chondrozytärer/mesenchy- maler Zellen dar (14), welche zu einer Strukturänderung und in Fol- ge Abbau des Gewebes führt. Die Kennzeichen der Texturstörung des bradytrophen Gewebes betreffen
zelluläre und azelluläre Kom - ponenten: reduzierte Zelldichte, re- duzierte/inhomogene Anfärbbarkeit der Grundsubstanz, deren fissurale Defekte mit Pseudozystenbildung.
Die geweblichen Veränderungen der Texturstörung bradytropher Ge- webe lassen sich in einer dreistufi- gen Graduierung (gering-, mäßig-, hochgradig) erfassen, welche die zellulären und azellulären Kompo- nenten (Matrix) beinhaltet (Tabel- le 1). Extrazelluläre NITEGE-Ab - lagerungen (10) und der Textur - störungsgrad korrelieren. Prakti - kabel ist eine Reduktion auf ein zweistufiges histopathologisches Graduierungssystem (Low-grade versus High-grade Texturstörung).
Es besteht eine aberrante Ex - pression der Kollagene Typ I, II und III.
Primäre und sekundäre Texturstörung
Kausal sind eine primäre und ei- ne sekundäre Texturstörung unter- scheidbar: Primäre Texturstörung:
eine das altersübliche Maß über- schreitende Texturstörung ohne kli- nisch bekannte Noxen. Es ist davon auszugehen, dass leicht- und mä- ßiggradige Texturstörungen (low grade degeneration) das Äquivalent des Alterungsprozesses darstellen.
Sekundäre Texturstörung: eine schwergradige Degeneration (high grade degeneration) ist als Aus- druck eines pathologischen Prozes- ses zu bewerten. Somit würde bei einer Texturstörung und bekannter Ätiologie eine sogenannte sekun - däre Texturstörung vorliegen, bei nicht bekannter Ätiologie eine pri- märe Texturstörung.
Fazit
Die Begutachtung des bradytrophen Bindegewebes setzt präzise und einheitlich verwendete Bezeichnun- gen voraus: Die Bezeichnung „De- generation“ sollte, da in der Litera- tur bislang uneinheitlich definiert, durch „Texturstörung“ ersetzt wer- den. Diese beinhaltet Abbauvor- gänge des bradytrophen Gewebes (low und high grade Texturstörun- gen) und reparative, proliferative Veränderungen. Die primäre Tex- turstörung umfasst Veränderungen
ohne bekannte Ätiologie. Die se- kundäre Texturstörung ist Folgeer- scheinung einer bekannten Grund- erkrankung. Unter einem altersvo- rauseilenden Meniskusschaden wird eine über dem Altersniveau ausge- prägte Texturstörung verstanden, wobei keine spezifische Ätiologie erkennbar sein muss. Die Alters - bestimmung von traumatisch be- dingten Kontinuitätstrennungen ist durch histopathologische Kennzei- chen möglich.
Dominiert nicht-texturgestörtes Knorpelgewebe (mit altersentspre- chendem Aufbau, Grad 1 und Grad 2) ist eine histopathologisch nachgewie- sene Kontinuitätstrennung als trau- matisch anzunehmen. Nur durch Zusammenführung von bildgeben- den, klinischen und histopathologi- schen Befunden kann eine endgülti- ge diagnostische Beurteilung von bradytrophen Geweben, insbeson- dere bei gutachtlichen Fragestellun- gen, erfolgen.
Da Pathologien der bradytrophen Gewebe (9, 15) in histologischen Befunden häufig als „degenerativ“
beschrieben werden, fehlt der Be- zug zur Ätiologie, insbesondere zum Schaden. Dieser entspricht ei- ner übergeordneten Bezeichnung und enthält die Erkrankung (zum Beispiel Meniskopathie), den Ver- schleiß („overuse“), die Alterung und die Verletzung (rezent oder ver- altet). Notwendig ist die Nennung des ätiologischen pathologischen Substrates unter Berücksichtigung der Texturstörung. Nur in diesem Kontext kann ein histopathologi- scher Befund zur Diagnose beitra- gen und dann für ein Gutachten ver-
wendet werden.
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Prof. Dr. med. Harald Hempfling Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/
Physikalische und Rehabilitative Medizin, Spezielle Unfallchirurgie, Sportmedizin
Prof. Dr. med. Veit Krenn Arzt für Pathologie MVZ für Histologie, Zytologie und molekulare
Diagnostik (MVZHZMD Trier) Prof. Dr. med. Kuno Weise Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Orthopädie/
spezielle Unfallchirurgie, Leiter der Kommission Gutachter der DGU in der DGOU
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Literatur im Internet:www.aerzteblatt.de/lit5014 oder über QR-Code
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12. Dezember 2014LITERATURVERZEICHNIS DÄ 50/2014:
HISTOPATHOLOGISCHE BEFUNDE
Einheitliche Bezeichnungen in
medizinischen Gutachten gefordert
Degeneration oder Texturstörung? Während der erste Befund eine Störung des Zellstoffwechsels beschreibt, beinhaltet der zweite Abbauvorgänge des bradytrophen Gewebes sowie reparative, proliferative Veränderungen.
LITERATUR
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54: 3533–44.
2. Aschoff L.: Über den Entzündungsbegriff.
Vorträge über Pathologie, gehalten an den Universitäten und Akademien Japans im Jahre 1924. Fischer. Jena 1925.
3. Böcker W, Denk H, Heitz PU: Pathologie. 3.
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4. Eder M, Gedikg P: Allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie, 33. Aufl.
Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 1990: 38.
5. Hagg R, Bruckner P, Hedbom E: Cartilage fibrils of mammals are biocemically hete- rogeneous: differential distribution of de- corin and collagen IX. J Cell Biol 1998;
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10. Krenn V, Knöss P, Rüther W, Jakobs M, Ot- to M, Krukemeyer MG, Heine A, Möllenhoff G, Kurz B.: Meniscal degeneration score and NITEGE-Expression. Orthopäde 2010;
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11. Nickolaus B: Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie – Bei degenerativen Er- krankungen ist Operation meist nur die ul- tima ratio. Dtsch Arztebl 2013; 110(48):
A 2318–9.
12. Otte P: Degeneration des Gelenkknorpels.
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14. Sarkar K, Uhthoff HK: Pathophysiology of rotation cuff degeneration, calcification, and repair, Chapter 3. In: BURKHEAD, W.Z.
jr.: Rotator Duff Disorders, Williams & Wil- kins, Baltimore 1996.
15. Wolff HD: Anmerkungen zu den Begriffen
„degenerativ“ und „funktionell“. Z Orthop Ihre Grenzgeb 1986; 124: 385–8.