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Archiv "„Stärkekörner in Blut und Urin”: Rahel Hirsch wurde 1907 von den Charitä-Ärzten ausgelacht" (30.11.1989)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

MEDIZINGESCHICHTE

Der „Hirsch-Effekt" wird im „Pschyrembel Klinisches Wörterbuch" (255. Auflage, 1986) wie folgt beschrieben:

„Elimination großkorpusku- lärer Partikel (zum Beispiel Stärkekörner) aus dem Blut- gefäßsystem in den Harn; vgl.

Herbst-Effekt."

Beim normalen Verdau- ungsvorgang gelangen ge- wöhnlich nur gelöste Substan- zen aus dem Darmlumen durch resorptive Leistung des Darmepithels in den Orga- nismus. Der Göttinger Phy- siologe Gustav Herbst (1803-1893) hat als erster 1843 die Durchlässigkeit der Darmschleimhaut für korpus- kuläre Elemente nachgewie- sen: Er verfütterte einem Hund eine Stärkemehlsus- pension und fand im Chylus und im Blut einige dieser Stärkekörner. Diese Beob- achtung wurde im folgenden Jahrzehnt von verschiedenen Forschern bestätigt. Da sol- che Vorgänge nach den Vor- stellungen über die Resorp- tionsmechanismen unmöglich und deshalb unglaubhaft er- schienen, gerieten diese Un- tersuchungen bald wieder in Vergessenheit.

Erst 1905 griff Rahel Hirsch, Assistentin an der II.

Medizinischen Klinik der Charit6 in Berlin, diese The- matik wieder auf. Sie konnte ebenfalls die „Resorption"

grobkorpuskulärer Elemente bestätigen und fand außer- dem, daß oral verabreichte Stärkekörner auch mit dem Harn ausgeschieden werden.

Rahel Hirsch war die erste, die diese Beobachtung am Menschen nämlich im Selbst- versuch machte. Als sie ihre Beobachtungen in der Sit- zung der Gesellschaft der Charite-Ärzte am 7. Novem- ber 1907 vortrug, wurde sie in der Diskussion verlacht. Wie ein Teilnehmer jener Sitzung später dem Berliner Gastro-

Rahel Hirsch 1912 am Tag ihrer Ernennung zur Professorin, die Urkunde in der Hand haltend enterologen Gerhard Volk- heimer berichtete, habe man damals gewitzelt: Der Dame sei wohl die Puderquaste ins Nachtgeschirr gefallen. Der ungarische Physiologe Fritz Verzär bestätigte jedoch 1911 die Ergebnisse von Rahel Hirsch in einer sehr sorgfälti- gen Versuchsanordnung.

Aber es blieb wieder fünf- zig Jahre still um diese Befun- de, die erst 1960 Gerhard Volkheimer an der Berliner Charite mit seinen Mitarbei- tern wieder aufgriff und in- tensiv bearbeitete. Der Titel der Habilitations-Schrift von Volkheimer (1962) lautet:

„Durchlässigkeit der Darm- schleimhaut für großkorpus- kuläre Elemente." Für diese Mechanismen wählte er den Arbeitstitel „Persorption":

Hierbei geht es um Partikel, deren Durchmesser bis zu 150

R111 beträgt, die ungelöst aus dem Verdauungstrakt in den Organismus durchtreten.

Hingegen versteht man unter Resorption (Absorption im englischen Sprachgebrauch) die Substanzaufnahme durch die Enterozyten (Saumzellen) des Dünndarmpithels, die mittels Diffusion oder akti-

vem Transport erfolgen kann;

es handelt sich dabei um kleinstpartikuläre Elemente im Nanometer-Bereich.

In Selbstversuchen wurde die Persorption mit verschie- denen Modellkörpern beob- achtet: Pollen, Sporen, Pflan- zenzellen, Stärkekörner, Po- lyvinylchlorid-Partikel, Kri- stalle, Silikate usw. Der Ab- transport der Partikel erfolgt sowohl chylös über den Duc- tus thoracicus als auch portal direkt zur Leber. Aus dem Blutgefäßsystem gelangen die Partikel schließlich in den Harn. Die Frage, ob es sich bei der Persorption um einen physiologischen oder um ei- nen pathologischen Vorgang handelt, ist noch ungeklärt.

Ebenso ist die immunologi- sche Bedeutung der Persorp- tion noch zu bearbeiten.

Rahel Hirsch hat nach ih- rem Vortrag in Jahre 1907 ih- re Untersuchungen nie wie- der erwähnt; sie verfolgte da- nach andere Probleme. Die Arbeiten von Gerhard Volk- heimer erschienen erst nach ihrem Tode.

Wer war diese Frau?

Rahel Hirsch wurde am 15. September 1870 in Frank- furt am Main geboren; sie entstammte einer jüdischen Gelehrtenfamilie. Ihr Vater war Lehrer an der Realschule und Höheren Töchterschule der „Israelitischen Religions- gesellschaft". Der Geist des Elternhauses war sehr fort- schrittlich; so wurde von den elf Kindern viel Sport getrie- ben.

Nach Besuch der Höheren Töchterschule wurde Rahel Hirsch zuerst Pädagogin wie ihr Vater. Doch nach einigen Jahren entschloß sie sich zum Medizinstudium. 1898 wurde sie in Zürich immatrikuliert;

dort gab es bereits seit 1840 weibliche Hörer. In den deut- schen Teilstaaten war es da- mals Frauen nur vereinzelt

möglich zu studieren; sie mußten bei jedem Dozenten, dessen Vorlesungen sie hören wollten, persönlich vorspre- chen und um Erlaubnis bit- ten! Erst im Jahre 1908 war die Gleichstellung der Frauen an allen deutschen Universi- täten erreicht.

Rahel Hirsch ging von Zü- rich nach Straßburg, wo sie nach drei Semestern im No- vember 1900 die ärztliche Vorprüfung ablegte. Zwei weitere Semester studierte sie in Leipzig, kehrte 1902 nach Straßburg zurück; hier legte sie am 4. Juli 1903 das Staats- examen mit dem Prädikat

„Gut" ab und erhielt ihre Ap- probation. Anschließend pro- movierte sie in Straßburg mit der Arbeit „Ein Beitrag zur Lehre von der Glykolyse".

Am 1. Oktober 1903 trat Rahel Hirsch als Volontäras- sistentin in die II. Medizini- sche Klinik der Charit6 unter Prof. Dr. F. Kraus ein. Sie be- schäftigte sich in dieser Zeit besonders mit der Schlaf- krankheit und mit der Aus- scheidung verschiedener Sub- stanzen im Urin. 1906 veröf- fentlichte sie in der „Zeit- schrift für experimentelle Pa- thologie und Therapie" die Arbeit „Über das Vorkom- men von Stärkekörnern im Blut und im Urin". Nach der Ablehnung dieser Arbeit durch die Charite-Ärzte be- schäftigte sie sich mit ande- ren Fragen der Inneren Me- dizin: Fieber und Wärme- haushalt, Diabetes mellitus, Morbus Basedow, Fettsucht.

1908 wurde ihr die Leitung der Poliklinik der II. Medizi- nischen Klinik übertragen.

Rahel Hirsch hielt auch Vorträge über die Körperkul- tur der Frau, die 1913 in einer Publikation zusammengefaßt erschienen. Mit dieser Schrift leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Frauenbewegung.

1913 wurde ihr „in Rücksicht auf ihre anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistun- gen das Prädikat Professor"

verliehen. Es war das dritte Mal, daß in Preußen eine akademisch tätige Frau mit dem Professortitel geehrt wurde; Rahel Hirsch war die

„Stärkekörner in Blut und Urin”

Rahel Hirsch wurde 1907 von den Charitä-Ärzten ausgelacht Kurt Pollak

Foto: Archiv Prof. Volkheimer, Berlin

Dt. Ärztebl. 86, Heft 48, 30. November 1989 (77) A-3723

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erste Medizinerin. 1914 er- schien ihr Buch „Unfall und Innere Medizin". 1919 schied sie aus der Charit6 aus und eröffnete im Berliner Westen eine Praxis. 1920 erschien aus ihrer Feder das „Therapeuti- sche Taschenbuch der Elek- tro- und Strahlentherapie".

Nach Berichten von Zeitge- nossen wurde Rahel Hirsch von ihren Patienten sehr ge- liebt; ihre Praxis mit „großer Röntgeninstallation" hatte ei- nen guten Ruf.

1933 wurde ihr wie allen jüdischen Ärzten die Behand- lung „arischer" Patienten ver- boten. Sie litt sehr schwer un- ter den Erlebnissen dieser Jahre. Als ihr das Schild mit Namen und Beruf an der Haustür untersagt wurde, verließ sie Deutschland. Am 7. Oktober 1938 traf sie in London ein und wohnte bei ihrer Schwester. Ihren Beruf durfte sie nicht ausüben, sie hätte die Examina nachholen müssen. Dazu fühlte sie sich aber zu alt. So arbeitete sie einige Zeit in einer Klinik als Laborassistentin, schließlich für die „Women's Voluntary Association" als Übersetze-

Die Schrift von Johann Theodor Boetius „Sonderba- re und curieuse Magen-Boer- ste, Kraetzer und Raeumer/

Vermöge welcher ein Mensch seinen Magen von allen Schleim und Unrath reinigen-

. . . kann" (Leipzig, 1711) ist in der Basilisken-Presse Mar- burg als kommentiertes Fak- simile neu aufgelegt worden.

Die Herausgabe dieser hüb- schen Broschüre mit kultur- geschichtlichen Betrachtun- gen des Marburger Medizin- historikers Professor Dr. Ar- min Geus wurde durch die Unterstützung des Phar- maunternehmens Dr. Karl Thomae, Biberach an der Riss, möglich.

Im Zeitalter der Gastro- skopie ist dieses Faksimile ganz besonders eine reizvolle

rin. Die sehr zurückhaltende Emigrantin wurde damals aus Wohltätigkeitsfonds unter- stützt.

Die Kriegsereignissse setz- ten ihr sehr zu; sie wurde me- lancholisch und litt unter Wahnvorstellungen, zum Bei- spiel daß man sie vergiften wolle. Sie wollte schließlich niemanden mehr um sich ha- ben. Man brachte sie in ein

„mental home" in einem Au- ßenbezirk von London. Am 6.

Oktober 1953 starb sie mit 83 Jahren, sie wurde auf dem jü- dischen Friedhof in der Nähe von London beigesetzt.

Rahel Hirsch erfuhr post- hum noch eine Würdigung:

Auf Vorschlag von Professor Volkheimer, Berlin 62, der das Andenken an die verges- sene Rahel Hirsch wiederbe- lebt hat, wurde sie aufgrund ihrer wissenschaftlichen Lei- stungen in die „Galerie be- rühmter jüdischer Wissen- schaftler" in Jerusalem aufge- nommen.

Literatur beim Verfasser:

Dr. med. Kurt Pollak Kreillerstraße 165 8000 München 82

Magenbürste, aus „Berber, Go dofredus: Dissertatio medico curiosa de novo instrumento re purgatorio ventriculi"

Lektüre: Im achtzehnten Jahrhundert war die Magen- bürste offenbar ein beliebtes Instrument, eine Art Fla- schenreiniger. Und in der Tat, sie sieht ebenso aus wie ein Flaschenputzer. Aus knapp fünfzig Zentimeter langem Eisen- oder Messing- draht gewickelt, trägt die Ru- te am Ende einen breiten Bürstenteil aus Ziegen- oder Roßhaar. Das Universal-Lexi- con Johann Heinrich Zedlers aus dem Jahre 1739 emp- fiehlt, das Instrument am be- sten früh morgens durch den Schlund in den Magen einzu- führen, nachdem man ein

„Spitzglas voll von dem be- sten Frantz-Brandtwein, und hierauf ein Quartier Brun- nen-Wasser zu sich genom- men" hat. Man sollte die Bür- ste dann etwas bewegen, so daß „der Schleim, und womit der Magen sonst sich beladen findet, erregt wird, aufsteiget, und durch Erbrechen wegge- het".

Zur Reinigung des Ma- gens wurde eine solche Bür- ste, für die sich auch die Be- zeichnungen Magenräumer oder Magenkrätzer finden, vor allem Ende des 17. Jahr- hunderts angewandt. Jüngere Untersuchungen eines Ethno- logen berichten aber auch von einem auffälligen Hals- schmuck der Eingeborenen eines Stammes auf Neugui- nea, der insbesondere bei In- itiationsritualen bis ins Ma- geninnere vorgeschoben wird.

Ansonsten wenden die Män- ner dieses Mittel zur Magen- entleerung vor der Jagd nach wilden Tieren an.

Die Sondierung des Ma- gens mit dem Ziel, Brechreiz auszulösen, hatte ihre Blüte- zeit freilich in der römischen Kaiserzeit. Wer kennt nicht das überlieferte Bild von fei- sten Römern, die sich eine Feder in den Hals steckten, damit sie immer neuen kuli- narischen Gelüsten auf ihren zahlreichen Orgien frönen konnten? Kaiser Claudius wurde die Vogelfeder indes zum Verhängnis. Sie war ver- giftet. Andere, vor allem me- dikamentöse Brechmittel hat- ten auch ihre Nachteile. Sie

standen dem Genuß ganz of- fensichtlich im Wege. Und überhaupt fand die dekaden- te Lust am Erbrechen mit dem Niedergang des römi- schen Imperiums ihr Ende.

Fortan wurden Brechmittel nur noch auf ärztlichen Rat hin verabreicht. Die Indika- tionen waren Magenerkran- kungen, Vergiftungen sowie Fremdkörper in den Speise- wegen. Sonden zur Extrak- tion von Fremdkörpern muß- ten freilich stabil sein. Die Magenbürste des 18. Jahr- hunderts erfüllte diese Bedin- gung. Im deutschsprachigen Raum ist sie durch Johann Theodor Boetius aus Leipzig populär geworden. hem

KULTURNOTIZ

Debüt des

Ärzteorchesters NRW

Nach einer mehrtägigen, intensiven Probenphase in der Landesmusikakademie in Heek bei Bocholt fand mit Konzerten in Witten und in Oberhausen die erste Pro- ben- und Konzertphase des Nordrhein-Westfälischen Ärzteorchesters ihren Höhe- punkt und Abschluß. Die Zu- hörer, die leider nicht in der erhofften Anzahl kamen, wa- ren begeistert, und die Presse lobte die „solide Orchester- arbeit". Geplant ist eine zwei- te Proben- und Konzertphase im Februar 1990, ebenfalls in der Landesmusikakademie in Heek.

Um die Arbeit fortsetzen zu können, ist das Orchester allerdings auf finanzielle Hil- fe angewiesen, die von inter- essierten und musikbegeister- ten Kollegen erhofft wird:

Diese werden um Spenden gebeten, die steuerlich gel- tend gemacht werden kön- nen, da das Orchester als ge- meinnütziger Verein aner- kannt ist. Nähere Auskünfte erteilt: Nordrhein-Westfäli- sches Ärzteorchester e. V., Dr. med. Hans-Joachim Mey- er-Krahmer, stellv. Vorsitzen- der, Von-Esmarch-Straße 149, 4400 Münster. M-K

Die „sonderbare und

curieuse Magen-Boerste"

A-3724 (78) Dt. Ärztebl. 86, Heft 48, 30. November 1989

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