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Archiv "Hilding und ihre Tochter" (23.06.2006)

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A1764 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 25⏐⏐23. Juni 2006

U

nsere Patientin Hilding hatte ein sonniges Gemüt und ein gutes Herz. Sie meisterte ihr nicht immer ganz einfaches Leben fröhlich und mit Gottvertrauen.

Problematisch war aller- dings ihre Gesundheit. Hilding war nicht nur deutlich älter, sondern auch kränker ge- worden. Ja, ihre Durchblutung wollte nicht mehr so, wie sie sollte, dazu kam die zur Volkskrankheit aufgelaufene Zuckerkrankheit, Gichtanfälle und so manches mehr. Auch ein deutliches Übergewicht – und nun auch noch „offene Beine“. Kein Wunder, bei ih- ren ausgeprägten Krampfadern.

Also – Hilding, adrett geklei- det, die schlohweißen Haare hübsch frisiert, immer noch redselig und vergnügt, siedelte jetzt in den Haushalt ihrer Tochter über. Die Tochter wol- le sie pflegen, berichtete sie.

Zurückhaltend

Wir fanden die Idee gut und versprachen einen baldigen Hausbesuch in ihrer neuen Wohnung. Die Tochter kann- ten wir noch nicht.

Und so stiegen wir an einem sonnigen Frühlingstag frohge- mut die zwei Treppen hinauf und klingelten. Eine Frau mitt- leren Alters, offenbar die Toch- ter, öffnete, zog sich ihren Schal enger um den Hals und ver- schwand im Schatten des Flu- res. „Vielleicht hat sie Hals- schmerzen oder eine Erkäl- tung“, dachte ich. Die Tür zum gemütlichen Wohnzimmer stand weit offen, und Hilding saß in dem bequemsten Sessel, den es gab,zwischen üppig grü- nenden Zimmerpflanzen und dem Fernsehgerät, und strahl- te uns an.

„Sie haben es ja richtig gemütlich hier!“, meinte ich, und Hilding bestätigte fröhlich, wie gut es ihr bei ihrer Tochter gehe. Die Tochter hielt sich weiter im Hintergrund und schaute auffällig nach rechts.

Ich untersuchte Hilding, hörte Herz und Lunge ab, prüfte den Blutdruck, besprach die Blut- zuckerwerte, sah mir ihre Ge- lenke an und verordnete die Medikamente neu.

Dann ging’s an die Haupt- sache, an das „offene Bein“.

Doch, es war schon ein größe- rer, unregelmäßig begrenzter Gewebsdefekt unterhalb der stark hervorspringenden bläu- lichen Krampfadern, und die Heilungstendenz würde bei ihrem „Zucker“ bestimmt nicht sehr hoch sein. Aber wenn man die Wunde sorg- fältig behandelte und dazu eine wirksame Kompressions- behandlung des gesamten Unterschenkels durchführte, dann würde der Rückfluss besser werden, die Stauungs- ödeme verschwinden und die Chancen auf Abheilung wach- sen. So hoffte ich wenigstens.

Ich verordnete also neben dem Verbandsmaterial noch die nützlichen Elastoflexbin- den und wollte nun deren An- wendung, also die genaue Ver- bandstechnik, erläutern. Dazu hatte Schwester Sieglinde schon einiges an Verbands- zeug ausgepackt und auf den Tisch gelegt. Ich erklärte Hil- ding also alles, und sie nickte eifrig zu meinen Worten.

Aber ich wollte sicherge- hen. Deshalb sah ich mich nach der Tochter um und bat die auffallend Zurückhalten- de heran. Schließlich sollte auch sie die Verbandstechnik lernen und üben. Denn das war das Wichtigste überhaupt, wichtiger als alle Salben und Tinkturen. Wieder fiel mir auf, dass die Tochter den Kopf so seltsam schief, so komisch ver- dreht hielt. Zögernd kam sie näher. Wieder kehrte sie mir nur ihre linke Körper- und Ge- sichtshälfte zu, kroch fast in ihren großen dicken Schal hinein. Ich begann auch ihr die Wickeltechnik zu erklären,

und Schwester Sieglinde führ- te sie nochmals vor. Am Fuß anfangen, in Touren nach oben, die Fesselpartie sehr gut komprimieren, dann . . .

„Warum verdreht sie bloß den Kopf so unnatürlich?“, ging mir im Unterbewusstsein durch den Kopf. Dann bat ich sie, selbst einige Verbandstou- ren zu wickeln, um den richti- gen Zug, nicht zu fest und nicht zu locker, auszuprobieren, ein Gefühl dafür zu bekommen.

Ein riesiges Geschwür Gertrud, die Tochter, beugte sich über das kranke Bein ih- rer Mutter. Und plötzlich ge- lang es mir, einen Blick auf ihre rechte Gesichtshälfte zu werfen. Mir stockte der Atem.

Sie hatte ein riesiges Ge- schwür, einen weitläufigen Ge- websdefekt, eine große Wunde im Gesicht! Das unschön aus- sehende „Geschwür“ hatte be- reits den gesamten rechten Nasenflügel befallen und auf die Wange übergegriffen.

Ruckartig legte ich die Ver- bandsmaterialien weg, ver- suchte das Entsetzen in mei- ner Stimme zu unterdrücken und fragte: „Wie lange haben Sie denn das schon?“

Sie druckste herum, mur- melte etwas von „schon lange“, und Hilding zwitscherte da- zwischen: „Siehst du, Truding, ich habe dir schon lange ge- sagt, geh zum Arzt!“ Und uns erklärte sie: „Aber sie hört ja nicht! Sie ist nicht berufstätig, hat gar keinen Hausarzt – und vor allem hat sie Angst!“

Ich bat, den Prozess doch einmal genauer ansehen zu dürfen und erkannte die ganze Katastrophe. Unregelmäßige

Geschwürsflächen, ein perlar- tiger Saum darum, kein Zwei- fel, ein großes Hautkrebsge- schwür im Gesicht, das schon Teile des rechten Nasenflügels zerstört hatte. „Damit müssen Sie unbedingt und schnell in die Hautklinik!“, rief ich.

Trudchen sträubte sich mit Händen und Füßen. Nicht in die Klinik,nicht operieren,und außerdem müsse sie doch Mutti pflegen. Ich schrieb den Überweisungsschein trotzdem und bat sie nochmals dringend, einsichtig zu sein. Dazu be- schwor ich Hilding, sie zu über- zeugen, den Regeln der Ver- nunft und dem Rat des Arztes zu folgen. Hilding versprach alles, was in ihren Kräften stand, die Tochter drapierte sich wieder ihren Schal um das Gesicht und verschwand.

Zwei Tage später erhielt ich telefonisch die Kunde,Truding sei in die Hautklinik eingezo- gen, und eine Schwägerin ha- be Hildings Pflege übernom- men. Gott sei Dank, sagten wir und warteten gespannt auf den nächsten Hausbesuch.

Beim nächsten – noch nichts. Aber beim übernäch- sten Hausbesuch begrüßte uns eine strahlende Tochter – diesmal ohne Schal und ohne Verrenkungen – und zeigte uns ihr frisch operiertes Ge- sicht. Die Hautärzte hatten nicht nur das „Krebsge- schwür“, ein riesiges Basali- om, großflächig ausgeschnit- ten, sondern auch mit gesun- der Haut plastisch gedeckt, sodass alles schon fast wieder normal aussah.Auch die leich- te Erhabenheit der großen Narbenfläche würde mit der Zeit noch verschwinden.

Trudchen aber wirkte wie erlöst. Und Hilding strahlte.

„Endlich habe ich wieder ei- ne gesunde Tochter“, rief sie,

„und Fru Doktor’n, mein Bein sieht auch schon viel besser aus!“

Ich staunte. Tatsächlich – dank hilfsbereiter Schwäge- rin, guter Pflege, Verbands- technik und Wundbehand- lung – das Unterschenkelge- schwür war bereits sichtlich kleiner geworden. Ende gut – alles gut, dachte ich.

Annerose Schulz

Seit 2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzteblatt regelmäßig Arztgeschichten – zunächst aus der Literatur, seit Heft 3/2004 vorwiegend Beiträge aus der Ärzteschaft.

Hilding und ihre

Tochter

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