D
ie Aufklärung in der Onkologie stellt für Arzt und Patienten eine hohe Belastung dar. Sie ist aller- dings eine Vorbedingung für das infor- mierte Einverständnis des Patienten (,in- formed consent‘) in die weitere Diagno- stik und Therapie. Damit dient die Auf- klärung in erster Linie der Selbstbe- stimmung des Patienten und dem Auf- bau eines Vertrauensverhältnisses zwi- schen Arzt und Patient, ohne das sich onkologische Therapien nicht anwenden ließen.Das Interdisziplinäre Tumorzentrum Tübingen bietet mit seinen in zweiter Auflage erschienenen Empfehlungen für die „Aufklärung von Tumorpatien- ten“ Hilfe an. Danach ist die Aufklä- rung eines Patienten nicht gesetzlich ge- regelt, jedoch rechtlich zwingend vorge- schrieben, so auch im § 8 der (Muster-) Berufsordnung. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat festgelegt, dass der Patient rechtzeitig wissen muss, was mit ihm, mit welchen Mitteln und mit wel- chen Risiken und Folgen geschehen soll. Die Aufklärung besteht in der Re- gel nicht aus einem einzigen Gespräch, sondern ist ein Prozess, der das Arzt- Patient-Verhältnis stets begleitet. Dies gilt insbesondere für die Übermittlung von Informationen, zu deren Verarbei- tung der Patient Zeit benötigt – so auch für die Information, an Krebs zu leiden.
Die ärztliche Aufklärung lässt sich nicht an andere Berufsgruppen delegie- ren; gleichwohl sollten die nichtärztli- chen Heilberufe in den Prozess der Aufklärung mit einbezogen und über den Stand der Aufklärung informiert werden. Die Teilnahme einer verant- wortlichen Pflegekraft und/oder eines Mitarbeiters aus dem psychosozialen Dienst am Aufklärungsgespräch kann vorteilhaft sein. Der Arzt hat in den
Krankenunterlagen zu dokumentieren, dass er den Patienten aufgeklärt hat.
Die Aufklärung eines Patienten darf nur in einem persönlichen Gespräch er- folgen. Standardisierte Einwilligungser- klärungen, die der Patient ohne persön- liches Gespräch mit dem Arzt unter- schreibt, sind rechtlich unwirksam. Weil das Selbstbestimmungsrecht des Patien- ten grundsätzlich Vorrang vor der ärztli- chen Hilfeleistungspflicht hat, muss der Arzt den Patienten vor jeder diagnosti- schen und/oder therapeutischen Maß- nahme aufklären, und jeder Patient muss zuvor einwilligen. Der Patient ist über seine Diagnose, die Prognose, den Verlauf der ärztlichen Maßnahmen in Bezug auf Art, Umfang und Durch- führung des Eingriffs sowie dessen Risi- ken zu unterrichten – abgestimmt auf die Aufnahmefähigkeit des Patienten.
Ungewissheit ist schlechter zu ertragen als die Wahrheit
Bei mehreren anerkannten Behand- lungsmethoden muss der Arzt den Pati- enten über die jeweiligen Alternativen und Risiken aufklären, selbst wenn der Arzt die Methoden nicht als gleichwertig ansieht. Der Patient muss sich aufgrund der Aufklärung selbst entscheiden kön- nen, ob er beispielsweise eine Operation oder eine Bestrahlung bevorzugt.
Ärzte weisen häufig darauf hin, dass viele Tumorpatienten die Wahrheit
über ihre Erkrankung nicht ertragen.
Die Rechtsprechung sieht darin kei- nen Grund, auf eine Aufklärung zu ver- zichten. Nur bei ausreichenden An- haltspunkten, dass die Aufklärung zu einer ernsten Gesundheitsschädigung führen würde, darf darauf verzichtet werden. Nur in solchen begründeten Ausnahmefällen kann sich der Arzt auf das „therapeutische Privileg“ be- rufen.
Der Tumorpatient erwartet in der Regel eine Aufklärung über seinen Zu- stand (Schlömer-Doll/Doll, Dt Ärztebl 2000; 97: A 3076–3081 [Heft 46]). Ge- fühle von Unsicherheit und Ungewiss- heit sind auf Dauer schwerer zu ertra- gen als eine bekannte schlechte Progno- se. Die klinische Erfahrung zeigt, dass ungenügend informierte Tumorpatien- ten eher unter gestörtem Befinden, la- bilem Selbstwertgefühl und depressi- ven Verstimmungen leiden.
Aufklärung als Prozess
Der Patient in der Onkologie benötigt Zeit, die Aufklärung zu verarbeiten.
Dies vollzieht sich in unterschiedlichen Phasen, die in wechselnder Abfolge von Affekten begleitet werden. Scheinbar widersprüchliche Gefühle wie Aggressi- on und Anklage, Hilfesuche, Nicht- wahrhaben-Wollen, Zuversicht oder De- pression können sich in raschem Wech- sel einstellen. Ein Arzt sollte auf diese Reaktionen eingestellt sein, sie nicht als Angriff auf seine Person verstehen und Unterstützungsangebote – auch in Zu- sammenarbeit mit dem psychosozialen Dienst – offerieren.
Angehörige sind durch die Krebser- krankung eines Familienmitglieds häu- fig ebenso belastet wie der Betroffene.
Der Arzt sollte deshalb – sofern der Pa- tient zustimmt – von Anfang an An- gehörige und/oder nahestehende Perso- nen in die Aufklärung und Therapieent- scheidungen aktiv mit einbeziehen.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing Lehrstuhl für Ethik in der Medizin Keplerstraße 15
72074 Tübingen
Prof. Dr. iur. Hans Kamps Bezirksärztekammer Südwürttemberg Haldenhaustraße 11
72770 Reutlingen P O L I T I K
A
A1366 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 21½½25. Mai 2001
Onkologie
Aufklärung von Tumorpatienten
Das Interdisziplinäre Tumorzentrum in Tübingen bietet mit einer in zweiter Auflage erschienenen Schrift Hilfestellung.
Die gemeinsam mit der Bezirksärztekammer Südwürt- temberg herausgegebene Schrift kann beim Interdiszi- plinären Tumorzentrum Tübingen, Geschäftsstelle, Her- renbergstaße 23, 72070 Tübingen, angefordert werden.
Einzelexemplare werden bei Übersendung eines adres- sierten und mit 1,50 DM (0,77 Euro) frankierten DIN-A4- Umschlags kostenfrei abgegeben. Die Empfehlungen sind außerdem im Internet online unter www.medizin.
uni-tuebingen.de/itz/itztllon.html abrufbar.
Medizinreport