V A R I A
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A1300 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 186. Mai 2005
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ie Medizin ist eine er- freuliche Wissenschaft über unerfreuliche Din- ge“ – von Bartflechte bis Psychiatrie, von Bandwurm bis Pathologie, von Depressi- on bis Manie.Unsere Sprechstunde war schon ganz schön in Schwung, als Schwester Christiane den Patienten Raabe hereinrief.
Er war eigentlich bei Frau Doktor Falke-Flessenkamp in Behandlung, aber die hatte Urlaub. Und Herr Raabe musste dringend einen Arzt sprechen. Das hatte er jeden- falls der Schwester ins Ohr geflüstert und sie dabei durchdringend angesehen.
Der Patient wirkte nicht besonders vergnügt. Wort- reich schilderte er seine Beschwerden, Herzbeschwer- den, Panik-Attacken, Schlaf- losigkeit und dann – diese merkwürdige Sache am Hals!
Manchmal schwelle sein Hals von einer Minute zur anderen an und würde so groß wie ein Tischtennisball, ja fast wie ein Tennisball! Er habe jedes Mal Angst vorm Platzen. . .
Ich hörte ihm zu und ließ meine Augen schon einmal vorsichtig zu seiner Halsregion wandern. Es war nichts Auffäl- liges zu entdecken. „Was hat denn Frau Doktor Falke-Fles- senkamp zu Ihrem Krank- heitsbild gesagt?“ fragte ich.
Er seufzte tief. Nach einer Pause gestand er mir leise:
„Frau Doktor, sie hat gesagt – also sie hat gesagt. . .“ Er stam- melte etwas. „Also – sie hat zu mir gesagt: ,Herr Raabe, Sie haben ja ein total zerrüttetes Nervensystem . . . !‘ “
„Aha“, murmelte ich und überlegte, ob sie das wirklich
so gesagt haben konnte. Dann bat ich ihn, den Hals frei zu machen. Keine Anschwel- lung, kein Druckschmerz, kein Knoten, keine Zyste, keine Schilddrüsenvergröße- rung, keine Lymphknoten- schwellungen. . .
„Bei welcher Gelegenheit schwillt denn Ihr Hals an, Herr Raabe?“ fragte ich.
Denn irgendwie ließ mir die- se merkwürdige Geschichte keine Ruhe.
Zögernd meinte er: „Na, bei jedem Essen. Zum Bei- spiel, wenn das Abendbrot auf dem Tisch steht. Und wenn ich mir Zitronensaft in den Tee gieße.“
Irgendwas klickte in mei- nem Kopf. Irgendwie däm- merte ein Verdacht in mir auf.
Davon hatte ich doch schon einmal gelesen. Ich überwies den schwierigen Fall Raabe in eine Klinik. In die Klinik, die mir dafür richtig schien.
Vor kurzem war übrigens gerade die Sache mit Herrn Grämlich passiert. Er kam al- le zwei Tage zu Doktor Dorsch und klagte, klagte, klagte. Der Kollege gab sich alle Mühe, untersuchte ihn, schickte ihn zum EKG, zum Röntgen und ins Labor – nichts! Immer wenn Herr Grämlich auftauchte, hörte ich Dorsch seufzen. Er fand nichts, und es half auch nichts, weder Baldrian noch Melisse, noch sonst etwas. Bis wir dann erfuhren, dass der Patient Grämlich sich nachts in einem Anfall von Schwermut in selbstmörderischer Absicht über seinen brennenden Gas- herd geworfen hatte und mit schwersten Verbrennungen in die Chirurgische Klinik ein-
geliefert worden war. Der Schock saß tief bei uns allen.
Ob Herr Raabe etwa auch ei- ne larvierte Depression aus- brütete?
Die Hausbesuchstour heu- te wurde wieder langwierig.
Am schlimmsten wurde die Sache mit dem Patienten Kriebel. Die Verwandten hat- ten mir schon an der Haustür zugeflüstert, mit dem sei et- was nicht in Ordnung. Kreuz und quer sei er wochenlang durchs Land gereist, unstet, ziellos, und nun hier vor An- ker gegangen. Er raube ihnen die letzten Nerven.
Tatsächlich – Kriebel wirk- te sehr auffällig, schwang große Reden, war ein be- rühmter Erfinder und Welt- verbesserer, plante Gewalti- ges, Geniales. Und jeden sei- ner Sätze schmückte er mit der magischen Floskel: „Die Kugel rollt. . . ! Sie rollt und rollt und rollt. . .“
Sein überschäumender Re- deschwall hatte kein Ziel und kein Ende, er redete, redete, redete. Blitzartig schoss mir durch den Kopf – eine Ma- nie! Großmannssucht, Ideen- flucht, Unruhe, diese krank- haft gehobene Stimmungsla- ge – vor allem aber sein Rede- drang! Alles passte! Ich kam mir vor, als sei ich in einen Strudel geraten und drehte mich im Kreise, ohne das ret- tende Ufer, die Nervenklinik, jemals erreichen zu können.
Denn eindeutig gehörte er dorthin!
Leider war der Erfolg meiner Überredungskünste gleich null. Die Klinik lehnte er rundweg ab, sah mich scharf an und murmelte:
„Aber die Kugel rollt. . . Sie
rollt und rollt und rollt. . .“
Nicht nur die Kugel rollte, sondern auch meine Zeit rann und rann und rann. Sie rann mir förmlich unter den Fingern davon. Inzwischen war bereits eine ganze Stunde vergangen (welch ein Wahn- sinn für einen einzigen Haus- besuch!) und ein Ende der
„rollenden Kugel“ immer noch nicht abzusehen. Nun, eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bestand we- der für ihn noch für seine Umgebung, eine Zwangsein- weisung war also nicht mög- lich. So riss ich mich von ihm und seiner rollenden Kugel los, nicht ohne den erschöpf- ten Verwandten zu versi- chern, dass ich einen Psychia- ter hinzuziehen würde. Är- gerlich über meinen Misser- folg, fuhr ich zurück.
Als ich durchs Wartezim- mer ging, saß Herr Raabe, der Patient mit dem „total zerrüt- teten Nervensystem“, wieder im Wartezimmer. Die Schwe- ster murmelte: „Ein Unglück kommt selten allein.“ Ich aber nahm ihn gleich mit ins Sprechzimmer, gespannt auf das, was der Arzt in der Zahnklinik gesagt hatte.
,,Ja, Frau Doktor, ich kam gleich zum Oberarzt rein“, berichtete Herr Raabe, jetzt sichtlich aufgelebt, „und er hat mir die Diagnose auf den Kopf zugesagt!“ Ich hob den Kopf.
,,Das ist ein Speichel- stein!“ hat er gesagt, „der verstopft den Ausführungs- gang Ihrer Mundbodenspei- cheldrüse. Immer wenn Sie Saures essen oder trinken, produziert sie Speichel. Der staut sich durch den ver- schlossenen Gang – und die Speicheldrüse schwillt an!“
Das war’s, was ich geahnt hatte. Ich freute mich richtig.
Und tatsächlich – am näch- sten Tag wurde der Speichel- stein durch einen kleinen Eingriff entfernt. Die Be- schwerden sind nie wiederge- kommen.
Ich aber war glücklich, dass eine Operation „ein völlig zer- rüttetes Nervensystem“ von ei- nem Tag zum anderen geheilt hatte. Dr. med. Annerose Schulz
Das völlig zerrüttete Nervensystem
Seit 2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzteblatt regelmäßig Arzt- geschichten – zunächst aus der Literatur, seit Heft 3/2004 vorwie- gend Beiträge aus der Leserschaft.