Mitte der dreißiger Jahre hatte ich mich in einem altbekannten Heilbad als Badearzt niederge- lassen. Tausende von in- und ausländischen Badegästen ka- men jährlich zur Kur. Es wurde noch fleißig und nach strengen alten Riten in den schon den Rö- mern bekannten Quellen gekurt.
Als neue Kurmittel waren Inhala- tionen und pneumatische Kam- mern hinzugekommen, von de- nen man sich Wunderheilungen versprach.
Nun saß ich an meinem Schreib- tisch, die noch unberührte Pa- tientenkartei neben mir, und lauschte dem Kurbetrieb unter meinen Fenstern. Am zweiten Praxistag hatte ich alle medizini- schen Zeitschriften, die Sprech- stundenhelferin ihren Roman zu Ende gelesen. Die Langeweile begann uns zu quälen. Es ging schon gegen Abend, als es klin- gelte. Es war offensichtlich der lang erwartete erste Patient.
Aber der ältere Mann mit Schirmmütze und blauem Ar- beitsschurz, der hereintrat, woll- te sich nicht untersuchen las- sen. Er stellte die nüchterne Fra- ge: „Können Sie mir fünf Mark
• •
Zeichnungen: CORK
leihen, Herr Doktor? Ich will ver- reisen." Ich war sprachlos. Er fuhr unbeirrt fort: „Ich bin Ge- päckträger am Bahnhof, und wenn Sie mir aushelfen, bringe ich Ihnen morgen einen Patien- ten, sogar einen Ausländer." Ich mußte lachen. Die fünf Mark sollte er haben.
Am nächsten Tag, bald nach An- kunft des Fernschnellzugs, der täglich die neuen Kurgäste brachte, klingelte es, und dann meldete die Sprechstundenhel- ferin, daß ein Amerikaner im Wartezimmer säße. Er wurde mein erster Patient, der nach ei- ner guten Stunde, nachdem er gründlich untersucht und ein genauer Kurplan aufgestellt war, die Praxis wieder verließ.
Wenig später meldete sich der Gepäckträger. Selbstbewußt verkündete er, daß er sein Ver- sprechen gehalten hätte. Direkt von der Bahn hätte er den Ame-
rikaner zu mir gebracht und nur unterwegs die Koffer im Hotel abgegeben. Sein Kunde hätte zuerst gar nicht gewollt, versi- cherte er. Aber er hätte ihm wah- re Wunder von dem neuen Dok- tor erzählt, den er unbedingt so- fort aufsuchen müßte.
Das war der Anfang meiner Kur- praxis, die sich auch ohne weite- re Darlehen an diensteifrige Ge- päckträger über Erwarten gut
entwickelte. ❑
Aus „Erlebt — und überlebt, Erinnerun- gen eines Arztes" von Dr. med. Helmut Wagner, 121 Seiten, Leinen, 19,80 DM, 1982 erschienen im Selbstverlag des Autors, 7295 Dornstetten-Hallwangen
Zu Karneval: Gewußt wie
POST SCRIPTUM
...UND ALS 92 D1 E WOTE VOLLER .orz.1\i IN DEN 39._ummEN
„.JA 1>c LEP- ERTe EIN I_ANGER BE(ATELSCHN)EI'DER
R A-LAS Spektrum der Woche
Aufsätze • Notizen
—1-1 Cr EiKver-1 S-Ig_ÄHLEKD
SCH -o- NCN
ilARTIKJA t<Erml, - mEup
108 Heft 6 vom 11. Februar 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A