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Schriftenreihe der Forschungsgruppe "Große technische Systeme" des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung FS I I 94-509

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Academic year: 2022

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am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

FS I I 94-509

Sex ’n’ Drugs ’n’ Leuchter Report;

Die Usenet News zwischen A(narchie) und Z(ensur) Jürgen Bruchhaus

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin

Tel. (030)-25 491-0 Fax (030)-25 491-254 od. -684

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Zusammenfassung

Der Beitrag stellt eine der am weitesten verbreiteten Anwendungen im Internet und anderen Computemetzen vor, die Usenet News. Diese sind eine Art Mischung aus Schwarzem Brett, Zeitung und Kneipengespräch - organisiert in elektronischen Dis­

kussionsgruppen, den sogenannten Newsgroups. Im Gegensatz zur Darstellung in den Medien, in denen die Usenet News hauptsächlich als Verteilstelle für elektronische Pomobilder dargestellt werden, haben sich innerhalb des Usenets seit seiner Ent­

stehung Anfang der 80er Jahre kontinuierlich bestimmte Kommunikationsstrukturen und Interaktionsregeln herausgebildet, von denen die wichtigsten erläutert werden. Des weiteren gibt der Beitrag einen anekdotenhaften Einblick in die Geschichte des Usenet und versucht eine grobe Analyse der Teilnehmerinnenmotive sowie einen Ausblick auf die Diskrimanten der weiteren Entwicklung des Usenet.

Sex ‘n ’ Drugs Ti’ Leuchter Report: Usenet News Between Anarchy and Censorship

Summary

This paper introduces to one of the most popular applications of the internet and other computer networks: Usenet News. They can be described as a mixture of a pinboard, a newspaper and a chat in a pub, organized as electronic discussion groups, the so-called newsgroups. Contrary to the usual interpretation by the media of Usenet News being mainly a distributor of electronical pornography, within the Usenet certain communica­

tion structures and rules of interaction have evolved continuously since its introduction in 1980s. Some of these structures and rules are explained here. Furthermore, the author tells, in anecdoctie form, the history of usenet and gives a—rough-analysis of the participants' motives and a brief overview on the discriminants of its further development.

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Das Internet ist das weltweit größte Netz von Computemetzen und ist gerade in den letzten Jahren sehr stark gewachsen. Gestiegen sind auch die Qualität und die Verbreitung der verschiedenen Kommunikationsdienste, die sich via Internet rea­

lisieren lassen. In diesem Beitrag geht es um die sogenannten Usenet1 News, einer Mischung aus Schwarzem Brett, Zeitung und Kneipe - organisiert in elek­

tronischen Diskussionsfbren, den sogenannten Newsgroups,

Die Kommunikation in den Newsgroups ist asynchron und eine von mehreren (im Prinzip beliebig vielen) Benutzerinnen. Damit unterscheidet sich das Usenet von der populärsten Kommunikationsform im Netz, der Email: diese ist ebenfalls asynchron, findet jedoch standardmäßig zwischen genau zwei Benutzerinnen statt. Die entsprechenden synchronen Kommunikationsformen sind das sog.

Internet Relay Chat (IRC)1 2 3 für mehrere bzw. das sog. ‘Talken’

für

zwei Benutze­

rinnen.

Das in letzter Zeit besonders populär gewordene World Wide Web (WWW) unterscheidet sich von den soeben genannten Anwendungen dadurch, daß es kein bidirektionaler Kommunikationsdienst, sondern ein aus der Sicht der Durch­

schnittsbenutzerinnen im wesentlichen in eine Richtung verlaufendes Informa­

tionsverteilsystem ist.

Aufgrund der Wachstumsdynamik des Internet und der Nichtverfugbarkeit zentra­

ler Teilnahmestatistiken ist es schwierig, genaue Zahlen über die Benutzung der einzelnen Kommunikationsdienste anzugeben. Brian Reid (reid@pa.dec.com), Leiter des Network Measurement Project am Network Systems Laboratory der Digital Equipment Corporation und langjähriger Entwickler und Teilnehmer des Usenet, schätzt Anfang 1995, daß weltweit etwa 16,5 Millionen Menschen Newsgroups lesen? Repräsentative Studien über deren Sozialstruktur liegen bis­

lang noch nicht vor. Aufgrund einiger Vorstudien kann jedoch vermutet werden, daß das Usenet ein Forum für jüngere, bildungsprivilegierte Männer aus Indu­

striestaaten ist.4

1 Usenet ist die Abkürzung für User’s Network 2 Vgl. Seidler 1994, Schlese/Wagner 1994.

3 Vgl, Reid 1995

4 Für Deutschland siehe z.B. Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung 94

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Das Usenet hat zunächst einmal nichts gemein mit den "Einstiegsdrogen in den Wahnsinn des 21. Jahrhunderts"5, den Mailboxen. Während diese unabhängig vom Internet betrieben, benutzt und organisiert werden können, gibt es zumindest eindeutige Verquickungen zwischen Usenet und Internet. Auch die M är der glo­

balen Vernetzung muß in diesem Punkt relativiert werden, denn eine einfache Usenet-Benutzerln - also eine, die ohne Modem an einem Terminal oder einem PC eines vernetzten Hochschulinstituts sitzt - kann sich mitnichten auf die virtu­

elle Reise in die Vielfalt all der Kinderporno-6, Nazi-"Widerstands"-7, freien8 und ganz normalen Mailboxen begeben. Andererseits gehört es heute zum Standard­

angebot der meisten Mailboxen, auch einige Newsgroups aus dem Usenet anzu­

bieten.

Eine konkrete Definition dessen, was das Usenet ist, wird auch von erfahrenen Benutzerinnen meist zugunsten einer solchen aufgegeben, die zunächst zu be­

schreiben versucht, was das Usenet eher nicht ist, um dann auf dieser Basis eine Definition zu geben, die immer noch difius bleiben muß. So schreibt charakteri­

stisch Gene Spafford (spaf@cs.purdue.com), einer derjenigen, die die Entwick­

lung des Usenet entscheidend mitgeprägt haben;

"The first thing to understand about Usenet is that it is widely misunderstood. Every day on Usenet, the ‘blind men and the elephant’ phenomenon is evident, in spades. In my opinion, more flame wars9 arise because o f a lack o f understanding o f the nature o f Use­

net than from any other source. And consider that such flame wars arise, o f necessity, among people who are on Usenet. Imagine, then, how poorly understood Usenet must be by those outside! Any essay on the nature of Usenet cannot ignore the erroneous im­

pressions held by many Usenet users. Therefore, this article will treat falsehoods first. ...

What Usenet is not:

1. Usenet is not an organization. No person or group has authority over Usenet as a whole.

2. Usenet is not a democracy. Since there is no person or group in charge o f Usenet as a whole - Le. there is no Usenet ‘government’ — it follows that Usenet cannot be a democracy, autocracy, or any other kind o f ‘acy’.

3. Usenet is not fair. After all, who shall decide w hat’s fair?...

So Klemens Polatschek im Zeit-Magazin vom 11.3.1994.

6 Die ARD-Sendung Report berichtete am 12.4.1994 über einen solchen per Mailbox organisierten Vertrieb in London.

7 *

So der Name der berühmtesten Box dieser Couleur {vgl. u.a. Chip 1/94).

o

Aus der Selbstdarstellung des eingetragenen Vereins Arbeitsgemeinschaft freier Maiiboxen (agfmb@hot.

gun.de)'. ’’Die AGFMB e.V. ist ein Verein, in dem sich Menschen, die sich in der Datenfernübertragung enga­

gieren, zusammenschließen, um die Öffentlichkeit über das Medium aufzuklären und aus seiner gesellschaft­

lichen-Randposition zu befreien. Die Datenkommunikation soll sozial den gleichen Stellenwert erhalten, wie ein Gespräch amTelefon, oderder tägliche Plausch mit dem Nachbarn.”

9 Zum Konfliktregelungsmechanismus der flames und flame wars siehe S. 10.

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4. Usenet is not a public utility. ...

5. Usenet is not an academic network. ...

6. Usenet is not an advertising medium. ...

7. Usenet is not the Internet. The Internet is a wide-ranging network, parts o f which are subsidized by various governments. It carries many kinds o f traffic, o f which Usenet is only one. And the Internet is only one o f the various networks carrying Usenet traffic. ...

8. Usenet is not a Unix network. ...

9. Usenet is not software. ...

What Usenet is: Usenet is the set o f people who exchange articles tagged with one or more universally-recognized labels, called ‘newsgroups’. ... If the above definition o f Usenet sounds vague, th at’s because it is."10 11

Dagegen argumentiert Edward Vielmetti (emv@msen.com):

"Imagine, indeed, how poorly understood Usenet must be by those who have the deter­

mined will to explain what is is by what it is not?

'Usenet is not a bicycle. Usenet is not a fish .'...

The first thing to understand about Usenet is that it is big. Really big. Netnews (and even netnewsdike things) have percolated into many more places than are even known about by people who track such thins. There is no grand unified list o f everything that's out there, no way to know beforehand who is going to read what you post.11 ... Distrust any grand sweeping Statements about 'Usenet', because you can always find a counter­

example."12 13

Das Usenet bietet also, Internet- oder sonstigen Netzzugang und Verfügbarkeit der notwendigen (betriebssystemspezifischen) Software vorausgesetzt, prinzipiell allen an irgendein Netz angeschlossenen Teilnehmerinnen die Möglichkeit, Nach­

richten (news) zu bestimmten Themen zu lesen oder selbstverfäßte im Usenet abzulegen.

Die Bandbreite der Themen entspricht dabei deren Neigungen:

es

gibt News­

groups für die Systemadministratorlnnen der verschiedensten Unixderivate (comp.unix.xenix.misc), Ankündigungen von Konferenzen in Teildisziplinen der Angewandten Mathematik (sci.math.num-analysis), bundesweite Stellenanzeigen (de.jobs)™, Songtexte von und Diskussionen über diverse Rockstars (z.B.

10 Vgl. Spafford 1993. Dieser Text und andere ähnliche Dokumente zum Usenet sind auch im World Wibe Weg unter der Uniform Resource Location (URL) http://sunsite.unc.edu/usenet-i/home.html nachzulesen 11 Mit 'posten' wird das Senden eines Beitrags in eine Newsgroup bezeichnet.

12 Vgl. Vielmetti 1991.

13 Von denen - und das läßt Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Nutzerinnen zu - gut 90 % für Infor- matikerlnnen bestimmt sind.

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alt.fan.frank-zappa), Tips für gewalttätige Sexualpraktiken (alt.sex.bondage)14 und nur regional relevante Gruppen, so z.B. - als der Wetterbericht für Berlin und Brandenburg noch von der Freien Universität kam - auch eine Gruppe namens bln.wetter.

Niemand weiß ganz genau, wieviele Gruppen - geschweige denn wieviele aktive Gruppen - zu einem bestimmten Zeitpunkt existieren. Es gibt zwar relativ feste Vorschriften zur Errichtung neuer Gruppen (sog. call for votes sowie eine Art Ältestenrat zur Verfahrensabwicklung) und eine gewisse an der Namensgebung erkennbare hierarchische Struktur15 16, doch ansonsten herrscht auch im Usenet die für das Internet so kennzeichnende organisierte Unübersichtlichkeit. So können z.B. die Gruppen der alt-IIierarchie10 überhaupt nicht gelöscht werden, ihr Ende macht sich allenfalls daran fest, daß niemand mehr Beiträge schreibt bzw. liest.

"At the time I sent that message I didn’t yet realize that alt groups w ere immortal und couldn’t be killed by anyone. In retrospect, this is the joy o f the alt network: you create a group, and nobody can kill it. It can only die, when people stop reading it. N o artificial death, only natural death."17

Gerade im Usenet kann man sich relativ sicher sein, daß auch der abstruseste eigene Beitrag in einer seit Wochen brachliegenden Gruppe dann irgendwann doch noch (z.B. aus purer Neugier) von jemand anderem gelesen wird. Insofern gilt hier also die Formel "Schreiben heißt gelesen werden" und nicht zuletzt des­

halb ist dann im Usenet die kritische Masse

für

jede Gruppe in der Tat 2:

"In normal society, everyone may claim to be an individual, but many times their individ­

ualism is compromised by the need for a Sufficiently large group that shares their con­

cerns. This is called ‘critical mass’. You may love medieval French poetry, but try start­

ing -a local group to discuss it. You probably w on’t be able to find enough people who are interested and willing to meet often enough... On the network, critical mass is two.

You interact when you want and how you w ant - it’s always convenient, no driving is required. Geography doesn’t m atter."18 *

Solch eine Aussage wäre jedoch in den Anfangszeiten des Usenet nicht möglich gewesen. Erst die Dynamik, die das Internet - und damit auch die Verbreitung der Newsgroups - in den letzten Jahren erfahren hat, ermöglicht die berechtigte Hoff­

nung, auch exotische Interessen befriedigt zu bekommen.

14 die von vielen im Netz nicht gern gesehen - bzw. gelesen - werden, s. u.

So haben die ersten Kürzel feste Bedeutungen: comp - computer, misc - miscelleanous, news = news, reo

= recreation, sei = science, soc - society, talk = talk.

16 Diese 'altemative'Hierarchie entstand 1987 nach Auseinandersetzungen unter den damals für das Usenet Verantwortlichen, siehe S. 10.

17 So Brian Reid (reid@decwrl.dec.com), einer der Usenet-Gurus.

18 Vgl. Krol 1992, S. 36 Von diesem Buch wurden in den USA über 300.000 Examplere verkauft!

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How to do it

Weniger unübersichtlich als in der imaginierten Drauf- bzw. Zusammenschau stellt sich das Usenet aus Sicht der Benutzerin dar: Vom eigenen Rechner (zuhause oder am Arbeitsplatz) wird eine Verbindung zum Newsserver herge­

stellt19, einem Rechner, auf dem die Artikel der angebotenen Newsgroups der letzten Zeit abgespeichert sind. Nicht auf jedem Server wird alles angeboten: teils reicht die Speicherkapazität nicht aus, teils gibt es andere lokale Einschränkun­

gen. Ebenfalls aus Speicherplatzgründeü hat jede Gruppe ihr eigenes Expire, d.h.

eine feste Zeitdauer, wie lange die Artikel auf dem Newsserver gespeichert wer­

den (dies sind im allgemeinen 14 Tage) Früher bezog jeder Newsserver seine Gruppen von einem der sogenannten Backbones: das sind einige, untereinander mit sehr schnellen Datenleitungen verbundene Rechner, die zusammen gewisser­

maßen das Herz des Usenet bildeten. Heutzutage sorgen raffinierte Weitervertei­

lungsprogramme (sog. Routingalgorithmen) dafür, daß die Beiträge möglichst schnell weltweite Verbreitung finden.

Genau auf dieser Ebene (nämlich der des Angebots von Newsgroups am nächst­

gelegenen Newsserver und auf den Backbones) befinden sich übrigens die einzi­

gen Stellen des ganzen Usenets, an denen konkrete Personen - nämlich die loka­

len Systemadministratorlnnen (ja, es sind tatsächlich auch einige wenige Frauen dabei) - Entscheidungen für andere zu fallen und zu verantworten haben.20

"It is up to the individual system administrator to decide which groups his site will re­

ceive and pass along, based on the information provided by disparate sources. The sysop must weigh the desires o f readers, the established customs and practices o f the net ( ‘neti­

quette') and the possible consequences o f conflicts due to controversial postings or alle­

gations o f censorship if a group is removed from the local feed."21

"Every administrator controls his own site. N o one has any real control over any site but his own. The administrator gets her power from the owner o f the system she administers.

As long as her job perormance pleases the owner, she can do whatever she pleases, up to and including cutting o ff Usenet entirely."22

Zurück zur Benutzerlimenperspektive: Für jede der abonnierten Gruppen erhält man eine Überschriftenliste der neuen Artikel auf dem Bildschirm angezeigt.

Natürlich (denn es gibt ja keine Pflichten, alles ist freiwillig) muß man keine Gruppen fest abonnieren, sondern kann sich von Mal zu Mal verschiedene Grup-

Mit sogenannten Newsreaderprogrammen wie beispielsweise rn, trn, xrn (fur Unix bzw. X-Windows) oder trumpet (fiir Oos bzw. Windows) oder NewsWatcher (für den Mac).

Vgl. dazu die Diskussion über die Entstehung der a lt* -Gruppen und die Zensur pornographischer Grup­

pen weiter unten.

21 Vgl. Hardy 1993a.

22 Vgl. Spafford 1993.

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pen anschauen, also -wie im IRC- herumflottieren. Da das Newsreaderprogramm ein Protokoll der schon gelesenen Beiträge anlegt, landet man stets ungefähr dort, wo man die Gruppe beim letzten Mal verlassen hat. In Abhängigkeit des Expires kann es auch Vorkommen, daß man einen Teil der Diskussion verpaßt, wenn man sich eine Gruppe nicht oft genug anschaut. Klingt das Thema interessant, kann man den vollen Text des Artikels vom Newsserver zum eigenen Rechner übertra­

gen lassen, ihn z.B. abspeichem oder einen Antwortartikel verfassen.

Hier lauern natürlich Mißbrauchsmöglichkeiten. In Gruppen mit politischen The­

men kann man bei Übertschriften wie etwa "Want to know interesting historical facts?" schon fast sicher mit einem Artikel der immer massiver auftretenden Hardcore-Geschichtsrevisionisten rechnen.

How it came to be23

Die ersten Schritte tapste das Usenet 1979, als Steve Bellovin an der University of North Carolina die Kommunikation mit der nahegelegenen Duke University verbessern wollte. A uf der obersten Hierarchieebene der Newsgroups gab es nur zwei Bereiche, mod und net. Später kamen dann noch die./«-Gruppen ( für ‘from arpanet’24) sowie verschiedene lokale Verteilsysteme hinzu. In m od befanden sich Gruppen mit einem Moderator, einer Person, die jeden eingehenden Artikel las und entschied, ob er in die Gruppe paßte. Dieses Verfahren wird auch heute noch bei einigen, aber wenigen Newsgroups angewandt. In net befanden sich alle anderen Gruppen. Zwischen 1982 und 1986 wurde das System kontinuierlich verbessert und erweitert, und im Juli 1986 begann ein heiß debattiertes Restruk­

turierungsunterfangen, das als »The Great Renaming« in die Geschichte des Use­

net einging und mit der Errichtung der sieben Top-level-Hierarchien25 endete.

"One reason for the renaming was the increasing number o f groups made such a reorga­

nization o f the highest level domains advantageous for organizational reasons. Another reason was to put controversial groups in the ‘talk’ domain which w as added towards the end o f the Renaming, so that it would be easier for the administrators who wished to remove such groups from their newsfeed to do so."26

23 Die Darstellung der Geschichte des Usenet folgt im wesentlicher! Hardy 1993; vgl. auch Quarterman 1990, S. 243ff.

24 Dies ist der Name des damals größten, von der Advanced Researchh Projects Agency des US-Verteidi- gungsministeriums geforderten Computemetzes.

25 Vgl. Anmerkung 15.

'JZTSo Tom Truscott, einer der Programmentwickler der News-Software, zit. nach Hardy 1993.

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Ebenfalls in dieser Zeit formalisierte Gene Spafford die Anforderungen an einen Backbonerechner, und dem weiteren Sprießen der sieben Gruppen unter Kon­

trolle einiger der Systemadministratoren der Backbones (auch genannt: The Backbone Cabal) hätte nichts im Wege gestanden, wenn nicht Sex, Drogen und andere lebensweltliche Bedürfnisse in die bis dahin so sterile Netzwelt Einlaß begehrt hätten.

"But the most profound change to the net occurred when Richard Sexton proposed

‘rec.sex’ (followed closely by rec.drugs) and the group ‘passed’ its ‘vote’ but the Back­

bone Cabal decreed that they would NOT carry the group or create the group on the

‘backbone’ machines. Almost immediately, the ‘alt’ distribution was set up, using alter­

native routes that were ‘separate’ front the backbone. ... Within about five months, the Backbone Cabal ‘officially’ abdicated after installing ... Gene Spafford as the new.group Tsar."27

Dies war jedoch nicht der einzige Grund für den Weg zu noch mehr Herrschafts- ffeiheit in der Usenet-Verwaltung. Ein heftiger Streit um die Errichtung einer Newsgroup namens comp.women sowie die erwähnte Möglichkeit, die News­

groups ebenfalls auf den damals neuen Wegen des Internet weiterzuverbreiten, führten schließlich zur auch jetzt noch gültigen anarchischen Verwaltungsform.

Die Geschichte, wie quasi durch die Hintertür die dröge Welt der Informatik- technokraten um die Möglichkeit erweitert wurde, Gruppen wie alt. guinea- pig, conspiracy, alt.fa n .Schwaben und alt.psychotic.roommates zu erfinden, kann dann, hat man sich entschlossen, einem der Protagonisten dieses Putsches Glau­

ben zu schenken, auch nicht unerzählt bleiben:

"The famous barbecue at which the alt net was created was held at G .T.’s Sunset bar­

becue in Mountain View California on May 7, 1987. John Gilmore and I were both un­

happy with the decision making process o f the ‘ordinary’ net. John was distressed be­

cause they wouldn’t create rec.drugs, and I was distressed because they wanted to force me to adopt the name ‘rec.food.recipes’ fbr my recipe newsgroup. Gordon Moffett o f Amdahl28 also sat with us. He had no specific beef or goal, but he wanted to help. John’s home computer was ‘hoptoad’; my home computer was ‘mejac’. We set up a link to amdahl; and we vowed to pass all alt traffic to each other and to nurse the net along. In those days one sent out numerous newsgroup messages in the hopes that one would

‘take’; by the end o f May the groups alt.test, altconfig, alt.drugs, and alt.gourmand were active.

At the time I also managed ‘decwrl’29, so I quietly added ‘alt’ to the list o f groups that it carried. Nearly a year later, there was a vote taken about ‘soc.sex’ and although it passed, Gene Spafford refused to create it. I therefore created ‘alt.sex’ on April 3, 1988, and sent the following message to the Usenet ‘backbone’ cabal:

Vgl. Woodbury 1992, zit. nach Hardy 1993.

28 Dies ist der Name einer amerikanischen Computerfirma.

29 Ein Rechnemame der Digital Equipment Corporation.

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To end the suspense, I just have created alt. sex. That meant that the alt network now carried alt.sex and alt.drugs. It was therefore artistically necessary to create alt.rock- n-roll, which I have also done. I have no idea what sort o f traffic it will carry. ... "30

Während einer weiteren Konsolidierungs- und Wachsfrimsphase31 Ende der acht­

ziger und Anfang der neunziger Jahre blieb das Usenet in der Öffentlichkeit, ins­

besondere der deutschen, weitestgehend unbeachtet, obwohl damals schon recht komfortable und an die meisten Betriebssysteme anpaßbare Newsreaderpro­

gramme zur Verfügung standen. Wurden jedoch einmal jenseits der Fachpublika­

tionen Informationen über das Usenet einem weiteren Kreis zugänglich gemacht, so geschah dies zunteist im negativen Kontext.

Ein Beispiel zur öffentlichen Thematisierung des Usenet: In ihrer Dezemberaus­

gabe 1991 hatte die Zeitschrift EMMA darüber berichtet, daß mittels Usenet

"honorige C4-Professoren, Diplomgeographen oder Physikdozenten ... ihren öden Uni-Alltag mit Computer-Sex und knallharter Pornographie beleben. Großenteils auf Staatskosten natürlich". Gemeint war damit das Angebot in Gruppen wie (damals) alt.sex.pictures oder heute, nach dem auch hier ein Ausdifferenzie­

rungsprozeß stattgefunden hat, a/t.binaries.pictures.erotica.orientals. Hier Po­

sten -in überwiegender Anzahl Männer - nicht Meinungen oder Nachfragen, son­

dern komprimierte Bilder, die ihrerseits nicht gelesen, sondern am eigenen Rech­

ner entkomprimiert, betrachtet und ausgedruckt werden können. Das Format die­

ser Dateien, GIF, wurde demzufolge auch nicht mit dem eigentlichen Namen

»graphics image format« bezeichnet, sondern lief in gewissen Kreisen nur noch unter »girls in files«, EMMA forderte auf

"Informatik-Studentinnen, Hacker und Hacksen: Kriegt raus, welche von Euren Kom­

militonen und Profs sich in den Pomo-Programmen tummeln. Guckt ihnen über die Schulter, wenn sie auffällig lange am Vierfarbdrucker sitzen, denn Porno-Grafiken brau­

chen mehrere Minuten, bis sie ausgedruckt sind. Erwischt sie in flagranti oder legt einen Köder aus - so wie dieser Tage die Holländerinnen. Die boten per Computer Porno- Programme an und speicherten jeden Interessenten: 2000 Anfragen innerhalb von nur drei Tagen!"32

Als Reaktion darauf postet am 3. 12. 1991 der Systemadministrator der Universi­

tät Köln die Nachricht über den EMMA-Artikel und initiiert damit eine Diskus­

sion in der Newsgroup dnet.inet, einer Gruppe, die eigentlich nur der technischen Koordination der Systemverantwortlichen untereinander dient und in der damals pro Tag durchschnittlich ein bis zwei Beiträge gepostet wurden. In den folgenden

30 So Brian Reid 1993 in einem Bericht an Henry Edward Hardy.

31 Nach Hardy 1993 wuchs die Anzahl der Rechner im Internet im Zeitraum von Ende 1987 bis Mitte 1992 von knapp 30000 auf über eine Million.

32 Vgl. Ott 1991.

(11)

zwei Wochen äußern sich 26 mal Frauen und gut 200 mal Männer in ihrer Posi­

tion als Systemadministratorin. Relativ schnell - nach zunächst weitgehend ein­

helliger Empörung über die undifferenzierte Darstellung des Usenet - entflammt die Diskussion, ob die Gruppen mit pornographischem Inhalt abbestellt werden sollen, ob dies wiederum schon Zensur bedeute und inwieweit eine solche M aß­

nahme überhaupt mit den ungeschriebenen Gesetzen der Usenet community ver­

einbar sei, in denen in bezug auf Zensur stets nur von "censorship at the reader’s end" die Rede ist. Oder, wie es der Gründer der Software-Firma Lotus pragma­

tisch erklärte:

"Sie können hier [in den USA] äußern, was Sie wollen, egal wie schlimm es ist. Das basiert auf der Erkenntnis, daß der gesellschaftliche Preis zu hoch ist, der bezahlt werden muß, wenn jemand die Macht erhält, zu bestimmen, wer etwas sagen darf und wer nicht."33

Nachdem auch noch der Spiegel34 das Thema aufgreift und von Institutionen be­

richtet, die die inkriminierten Gruppen abgeklemmt haben, dauert es nicht mehr lange, bis die Systemverantwortlichen in Deutschland entscheiden, zumindest die Gruppen mit pornographischen Bildern auf ihren Newsservem nicht mehr anzu­

bieten. Diese Position ist allerdings in letzter Zeit wieder aufgeweicht, so daß mann - einen gewissen nachforschenden Einsatz vorausgesetzt - durchaus wieder berechtigte Hoffnungen hegen kann, die Bilder zu erhalten. Und eigentlich auch immer hatte, da weltweit genügend Newsserver zur Verfügung standen, die die Gruppen doch führten. Die Porno- (bzw. ‘Meinungsffeiheits’-) Fans führten dann auch das Argument eines durch die komplizierteren Beschaffungswege erhöhten Datenaufkommens im Netz gegen ihre Kontrahentlnnen ins Feld.

How to get a hundred strangers to agree?35

Im Usenet finden sich zwar keine formalen, jedoch viele durchaus ausdifferen­

zierte informelle Verhaltenskodexe, welche alle zusammen den schönen Namen

‘Netiquette’ tragen. Sie werden einerseits durch die normale Einführung ins Use­

net aufrechterhalten (eine erfahrene Person wird stets neben den technischen De­

tails auch eine Art Meta-Einführung abliefem), andererseits ist wie die Unüber­

Vgl. Kapor 1994.

Ausgabe 4/92, S. 194 - er verfügt mittlerweile auch über einen Anschluß ans Internet, was hier nicht ver­

schwiegen werden soll. Der Leserservice ist zu erreichen unter 100064.3164@pompuserve.com, die WWW- Adresse lautet http://www.spiegei.de.

35 So lautet der Titel eines Papers von Fay Südwedes (fays@archsci.arch.su.edu.au) und Sheizaf Rafaeli (sheizafr@phum.cc.huji.ac.it) über computer mediated communication and collaboration.

(12)

sichtlichkeit auch die Informalität organisiert: In Newsgroups wie news.answers werden regelmäßig Leitfaden mit Titeln wie "A primer on how to work with the Usenet Community" veröffentlicht. Verstöße gegen die Normen können - elek­

tronisch - lynchjustizähnliche Sanktionen nach sich ziehen. Denn dies geschieht nicht unter Zuhilfenahme von Zwischeninstanzen wie Schiedsstellen oder gar Gerichten, sondern direkt

in

Form von sog. flames (die bisweilen in einen sog.

flame war ausarten) oder bösen follow-ups, die durchaus nicht selten eine die Gruppe fast lahmlegende Intensität annehmen. Flames sind z.B. in GROßBUCH- STABEN GESCHRIEBENE PERSÖNLICHE BELEIDIGUNGEN ALLER ART. Als follow-ups werden die Beiträge bezeichnet, die einen direkten Bezug zu einem der Newsgroup-Beiträge haben.

Im obigen Primer fordert zum Beispiel Chuq von Röspach {chuq@apple.com}-.

"Never forget that the person on the other side is human! ... If you are upset at some­

thing o r someone, wait until you have had a chance to calm down and think about it. A cup o f (decaf!) coffee or a good night’s steep works wonders on your perspectives. ...

Be careful what you say about others! ... Please remember - you read netnews; so do as many as 3,000,000 other people. This group possibly includes your boss, your friend’s- boss, your girl friend’s brother’s best friend and one o f your father’s beer buddies. In­

formation posted on the net can come back to haunt you or the person you are talking about.

Be brief! Never say in ten words what you can say in fewer. ... Remember that the longer you make your article, the fewer people will bother to read it.

Use descriptive titles! The subject line o f an article is there to enable a person with a limited amount o f time to decide whether o r not to read your article. D on’t expect people to read your article to find out what it is about because many o f them w on’t bother.

Think about your audience! Try to get the most appropriate audience for your message, not the widest. Be familiar with the group you are posting to before you post.

Read all follow-ups and don’t repeat what has already been said!"

Katechismen dieser und anderer Art sind typisch für das Usenet und bilden die wesentliche Sozialisationsgrundlage. Alltagsweltliche Vemunftappelle wie die Tasse (entcoffeinierter ...) Kaffee stehen dabei gleichberechtigt neben in der Fachsprache (subject line, follow up) formulierten technischen Tips. Eine spezi­

elle Form Katechismus bilden die sogenannten FAQ-Listen (frequently asked questions), in denen besonders Engagierte die häufigsten Fragen samt deren Ant­

worten zu bestimmten Themen oder Newsgroups zusammenfassen und in regel­

mäßigem Abstand z.B. in der schon erwähnten Gruppe news.answers veröffentli­

chen.

(13)

Da das Befolgen von Geboten jedoch nicht jedermanns Stärke, geschweige denn Wille ist, sollen hier auch die in der offenen Struktur des Usenet angelegten Schattenseiten samt ihrer Protagonisten kurz vorgestellt werden:

- Sowohl in amerikanischen als auch in deutschen Politikdiskussionsgruppen findet sich mittlerweile offen rassistische Propaganda. Dan Gannon, ein be­

kannter amerikanischer Nazi, verbreitet mittlerweile Texte des Auschwitz- Lügners Fred Leuchter im Usenet. Zu dessen die Existenz von Gaskammern leugnenden sog. Leuchter-Report gibt es mittlerweile eine alle darin vorgetra­

genen Argumente auseinandemehmende FAQ-Liste. Diese wurde wiederum von einigen Nettem und Medienvertretem aufgrund ihres Titels als Apologetik verstanden und ihrerseits als Beweis für die Verbreitung revisionistischer Positionen im Usenet gedeutet.

- In Geschichtsfalschung armenisch-türkischer Couleur versucht sich eine Gruppe türkischer Chauvinisten (oder eine Einzelperson), indem diese das halbe Netz nach Artikeln mit dem Stichwort Turkey absucht, um seinerseits dann follow-ups zu posten, die einen Völkermord der Armenier an den Türken Anfang dieses Jahrhunderts behaupten. Sogar die New York Times widmete dieser Problematik im Jahre 1993 einen Artikel. Netzexperten vermuten gar ein Stichwortsuchprogramm hinter diesem Phänomen.

- Massive Kontroversen innerhalb der 'Netzbevölkerung' verursachen auch die Pomoveröffentlicher wie z.B., um auch einmal einen in Deutschland ansässi­

gen Fall anzufuhren, Wiljo Heinen, der im März 1994 innerhalb von zwei Wo­

chen 140 Artikel an alt.binaries.pictures.erotica verbreitete und der damit - nach Volumen der Beiträge in Kilobytes sortiert - weltweit an dreizehnter Stelle lag. Den Rekord hielt zu dieser Zeit mit 19 Megabyte in alt.binaries.

pictures.erotica Larry Grim, was sich auf immerhin 471 Beiträge belief.

Ein Argument, das insbesondere gegen die Verbreitung der pornografischen Bil­

der angeführt wird, ist die Auslastung des notorisch überstrapazierten Netzes. So gingen beispielsweise im Juli 1994 gut 12% des gesamten Volumens36 allein auf Kosten von alt.binaries.pictures.erotica, alt.binaries.pictures.erotica.orientals, alt.binaries.pictures.erotica.male, alt.binaries.pictures.erotica.female und alt.

binaries.pictures. supermodels.

Eine weitere Usenet-spezifische Regelverletzung ist das sog. 'spamming'37, d.h, das wiederholte Posten desselben Artikels in sehr viele Newsgroups. Traurige Berühmtheit erlangte hierbei das Tucsoner Rechtsanwaltsehepaar Laurence

36 Gemessen in Megabyte, ermittelt aus dem Usenet Readership Report dieses Monats.

37 Zur 'Genese' dieses Akronyms (für 'Spiced Pork And Ham') aus einem Monty-Python-Sketch vgl. Campbell 1994.

(14)

Canter und Martha Siegel, die am 12.4. 1994 innerhalb von 90 Minuten einen Artikel in fast 6000 Newsgroups schickten. In diesem boten sie ihre kommerziel­

len Dienste für die Teilnahme an der Green-Card-Lotteric an, was einen weiteren eklatanten Netiquette-Verstoß bedeutete, da kommerzielle Werbung eines der bestgehaßten Themen im Usenet darstellt.

Neben den gewollten Regelbrechem kennt das Usenet außerdem noch die unge­

wollten Opfer des neuen Mediums, von denen zumindest zwei hier vorgestellt werden soll. Einflugschneise für die nächste Geschichte ist die Problematik, daß - auch wenn im Usenet im allgemeinen anonym und damit quasi verantwortungslos kommuniziert wird - die mögliche Reidentifizierbarkeit zuweilen durchaus zu Turbulenzen zu fuhren vermag:

Das Standardbeispiel liefert hier das Schicksal eines jungen Studenten, der per Email eine Morddrohung an Bill Clinton (president@whitehouse.gov} schickte und damit - laut eigenem Bekunden - lediglich prüfen wollte, ob Mr. President tatsächlich jeden der eintreffenden Briefe liest. Nach wenigen Tagen wurde er festgenommen.

Des weiteren berichtet ein Student der Cornell University in Ithaca namens Dia­

blo (mam6@comell.edu) von einer höchst unliebsamen Begegnung mit Polizei- und Psychiatrieangestellten, nachdem er in alt.romance.chat seine Selbstmordge­

danken kundgetan und in alt.drugs sogar noch um nützliche Drogen zu diesem Behufe nachgefragt hatte:

"The Internet is not safe. Two days after I posted it, a couple o f cops show up at my door, along with some nut from the mental health department o f Tompkins City and tell me I have to come with them to the hospital ‘for an hour, maybe an hour and a half. ...

So they drive me to Tompkins County hospital where I am forced to sit in a room for 2 hours. ... The doctor came in (after another 45 minutes o f waiting), and talked to me for maybe 2 minutes. I said I wanted a lawyer. He said ‘Sure, you can always have a law­

yer.’..."

Die Geschichte endet mit zwei in der Anstalt verbrachtenen Nächten, einigen in der Universität verpaßten Tests und der Erkenntnis;

"I guess my point in all this is that the Internet is definitively not safe, even if you aren’t breaking the law. ... Be careful what you post and look into PGP encryption."38

38 Ein populäres Verschlüssehingsprogramm namens ‘Pretty Good Privacy’, vgl. z.B. Helmers 1994

(15)

How does it work anyhow - and why?

Nun muß - trotz all diesen Sumpfes - das Usenet doch so attraktiv sein, daß Monat für Monat die oben angegebene Millionenzahl von Benutzerinnen zur Tastatur und zur Maus greifen, um Anfragen und Diskussionsbeiträge zu lesen bzw. zu versenden. Warum dies?

Mit kleinen Anleihen bei der Rational-Choice-Theorie ließe sich handlungstheo­

retisch argumentieren: Der subjektiv erwartete Nutzen einer Beteiligung am Use­

net liegt bei jeder Art des Gebrauchs über dem dafür zu treibenden Aufwand.

Sind nämlich die eingangs geschilderten Anfangshürden erst einmal genommen und hat man die Kosten dafür womöglich noch mit Hilfe einer netten System- administratorln exterüalisieren können oder eines der vielen in letzter Zeit er­

schienenen 'Kochrezept-Bücher zum Thema erfolgreich studiert, so investiert man im folgenden lediglich Zeit und gewinnt - im allgemeinen - Information.

Wer zum Beispiel an den neuesten Kompatibilitätsproblemen einer neuen Version eines Textverarbeitungsprogramms mit der eines Netzwerkbetriebssystems oder vielleicht an wohl ausformulierten Geschichten über eine - reale oder fiktive, das bleibt dann offen - Vergewaltigung interessiert ist, muß den Aufwand betreiben, Newsgroups wie comp.os.ms-windows.networking.misc oder alt.sex.bondage ausfindig zu machen, um dann eine entsprechende Anfrage in diese Newsgroups zu verschicken.

An dieser Stelle kommt die Netiquette ins Spiel . Was auf der einen Seite wie ein Moralkodex klingt, besteht auf der anderen Seite aus einer handvoll praktischer Tips, die den Umgang mit Usenet effizienter machen und somit Kosten senken.

Die Wahl der richtigen Newsgroup, aussagekräftige Überschriften sowie knappe und präzise Darstellung des Problems sind hier die Regeln, die es zu beachten gilt. Ist dies vollbracht, kommt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine - mehr oder weniger qualifiziert - Antwort.

Wie aber erklärt man die Tatsache, daß oder ob überhaupt auf diese Anfragen ge- atitwortet wird, wo doch die (Zeit-)Kosten für die Beantwortung einer solchen Frage stets über dem (Informations-jNutzen liegt, denn der ist ja gleich Null? Und weiter: worin liegt eigentlich überhaupt der Nutzen - der Reiz - der Kooperation?

Gibt es so etwas wie einen Statusgewinn durch eine richtige Antwort, ist es die simple Lust zu helfen, existiert vielleicht doch eine Art virtuelles Gemeinschafts­

gefühl oder muß man die Partizipation gar psychologisch - etwa als Suchtphäno­

men - erklären? Oder ist es einfach das schlechte Gewissen zumindest derer, die

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während ihrer Arbeitszeit durch die Netnews surfen und sich nach üppigem Info- Konsum von einem helfenden Beitrag Selbstentlastung versprechen?

Läßt nicht das Fehlen der face-to-face-Komponente die Bereitschaft zu antworten sinken? Die zeitliche Versetztheit und die Beschränkung auf die schriftliche Kom­

munikation erzeugen gerade im Usenet neue Probleme. Bisweilen wird - gerade in tagespolitischen oder soc. culture. *-Gruppen - so viel geschrieben, daß die Qualität der Beiträge oft zu wünschen übrig läßt. In einigen, interessanterweise vornehmlich deutschen Gruppen, wird daher auch schon diskutiert, ob man nicht nach dem Lesen eines Artikels diesem eine Note für die journalistische Qualität und den Informationsgehalt, nicht für die politische Aussage oder Sympathie bzw.

Antipathie, geben solle. Im Laufe der Zeit, und das heißt im Internet sehr schnell, würde so jeden Artikel qua Kumulation eine Art kollektives Qualitätsurteil beglei­

ten. Dieses erleichtere dann die Entscheidung, welche der zig Beiträge mit dem­

selben Titel denn die Mühe des Lesens lohnten. Technisch sei das, so die Exper­

ten, ein eher geringes Problem, das allenfalls den Netzverkehr erhöhe.

Wie wird sie nun aussehen, die Zukunft des Usenet? Wird es sich zum basisde­

mokratischen Forum herrschaftsfreier Kommunikation und interessegeleiteten Informationsaustauschs nicht nur unter Hackern weiterentwickeln? Oder droht die Mutation zum elektronischen Stammtisch mit korrespondierenden Diskursstruktu­

ren und Einlaßschranken?

Viel wird davon abhängen, wie populär die neuen hypertextbasierten Informa­

tionsdienste wie das WWW (World Wide Web) werden und inwieweit sie - trotz ihres strukturellen Unterschieds, da die Diskussion bei ihnen weit hinter der In­

formation rangiert- den Netnews in der Nutzerinnenpräferenz den Rang ablaufen können. In diesem Zusammenhang wäre die Frage zu klären, ob neue attraktive Kommunikationsdienste dazu fuhren, daß die Nutzerinnen insgesamt mehr Zeit 'im Netz' verbringen oder ob das Gesamtzeitbudget eher gleich bleibt und die Nutzerinnen die weniger attraktiven Dienste nicht mehr oder weniger intensiv in Anspruch nehmen. Eine weitere Determinante ist die Fortentwicklung der Hard­

ware, konkret die Einrichtung von weit- bzw. europaweiten oder nationalen Hochgeschwindigkeitsnetzen sowie die Organisation des allgemeinen Zugangs zu den Netzen und die damit verbundene Art der Tarifierung. Dabei wird insbeson­

dere wichtig werden, welche Art von Kommerzialisierung "das Netz" erfahren wird39 und inwieweit sich staatliche Autoritäten kontrollierend in die Kommuni­

kation einmiseben. Die amerikanische Diskussion um den Clipper-Chip, eine Art

39 Auch die Diskussion um diesen Komplex hat mittlerweile die deutschen Magazine erreicht, vgl. z. B.

Spiegel 32/94, S. 152-155.

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in jeden Computer einzubauende Hardwarekomponente, die der Kripo und den Nachrichtendiensten das Abhören ermöglichen soll, weist dabei den Weg genauso wie die Entscheidung, ob der geplante Ausbau der "Datenautobahnen"40 eine dezentrale Netzgestaltung ermöglicht. In diesem Sinne soll zum Abschluß mit Mitchell Kapor noch einmal einer der vehementesten Vertreter für ein auto­

nomes und dezentrales Netz zu Wort kommen:

"Ich glaube wirklich, daß die zukünftigen Benutzer genau das wollen. Sie wollen selbst­

bestimmt arbeiten. ... Das wichtigste dabei ist, daß dieses Netz offen bleibt fiir alle, die Inhalte, Dienstleistungen und Informationen anbieten wollen. Dieser Grundsatz muß ge­

setzlich festgeschrieben und durch die Architektur der neuen Computemetzwerke ge­

währleistet sein. Nach demselben Prinzip funktioniert das Telefonnetz, genauso funktio­

niert seit Jahren auch das Internet."41

40 Zur Diskussion dieses Begriffs vgl. Canzler et al. 1995.

41 Vgl. Kapor 1994.

(18)

Literatur

Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung (1994), Kultur und elek­

tronische Kommunikation - Die wichtigsten Ergebnisse der Telekommunika­

tions-Nutzerstudie, Sonderdruck zur Cebit ‘94 (Kontakt: dahm@uni- trier.dbp.de)

Ingo Braun (1994), Der Schopf des Münchhausen. Eine sozialwissenschaftliche Annäherung an das Internet, WZB discussion paper FS I I 94-505 (Kontakt:

ingo@medea. wz-berlin. de)

K. K. Campbell (1994), Mail 'File 1--Chatting with Martha Siegel* vom 1.10.1994 (Kontakt: zodiac.io.org), URL

ftp://ftp. e ff org/pub/EFF/Legal/Cases/Canter_Seigel/c-and- s summary. article

Weert Canzler, Sabine Helmers & Ute Hoffinann (1995), Die Datenautobahn - Sinn und Unsinn einer populären Metapher, WZB discussion paper FS I I 95- 101, URL http://duplox.svz-berlin.de/docs/caheho

Claudia von Grote, Sabine Helmers, Ute Hoffinann & Jeanette Hofmann (1994) (Hg.), Kommunikationsnetze der Zukunft - Leitbilder und Praxis

(Dokumentation einer Konferenz am 3.6.94), WZB discussion paper FS I I 94- 103

Henry Edward Hardy (1993), The history of the Net, 1993, Allendale (Kontakt:

seraphim @umce. um ich. edu), URL

ftp://ftp. umcc. umich. edu/pub/users/seraphim/doc/nethist8. txt

Henry Edward Hardy (1993a), The Usenet System v. 3.0.1,18.5.93, Allendale, XVKLftp://ftp. umcc. umich. edu/pub/users/seraphim/doc/usnt300. txt

Sabine Helmers (1994), Internet im Auge der Ethnographin, WZB discussion paper FS II 94-102 (Kontakt: s@duplox.wz-berlin.de), URL http://duplox.wz- berlin. de/docs/ding

Mitchell Kapor (1994), Wie im wilden Westen, Interview in: Der Spiegel 10/94, S. 212ff

Ed Krol (1992), The Whole Internet Catalog & User’s Guide, 1992, Sebastopol Ursula Ott (1991), Pomos im Uni-Computer, Emma 12/91, S. 14-16

(19)

John S. Quarterman (1990), The Matrix - Computer networks and Conferencing Systems Worldwide, 1990, Austin

Brian Reid (1995), Artikel: 'Usenet Readership Summary Report for Jan 95', in den Usenet-Newsgroups news.admin.misc, news.groups, news.lists, 1.2.95 (Kontakt: reid@pa.dec.com)

Gene Spafford{1993), Artikel: 'What is Usenet', regelmäßig

in

der Usenet-News group news.answers (Kontakt: spaf@cs.purdue.com)

Edward Vielmetti (1991), Artikel ‘What is Usenet? A second opinion’, regelmä­

ßig in der Usenet-Newsgroup news.answers (Kontakt: emv@msen.com) Greg Woodbury (1992), Artikel ‘Re: Famous flame wars, examples please?’ in

den Usenet-Newsgroups alt.folklore.computers, ah.culture.usenet, news.admin.misc, 30.11.92 (Kontakt: ggw@cds.duke.edu)

Referenzen

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