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Zwischen tierischen Menschen und vermenschlichten Tieren : Untersuchungen zur Tier-Mensch-Beziehung im Krieg anhand von Selbstzeugnissen deutscher Kombattanten des Ersten und Zweiten Weltkriegs

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Academic year: 2022

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Zwischen tierischen Menschen und vermenschlichten Tieren

Untersuchungen zur Tier-Mensch-Beziehung im Krieg anhand von Selbstzeugnissen deutscher Kombattanten

des Ersten und Zweiten Weltkriegs

Wissenschaftliche Arbeit im Fach Geschichte

zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien

Vorgelegt von Johannes Stekeler

an der

Geisteswissenschaftliche Sektion Fachbereich Geschichte und Soziologie Gutachter: Prof. Dr. Clemens Wischermann

Konstanz, 2015

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-0-348810

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i

„Sie brachten keinen ‚Nutzen‘, den man abschätzen kann. Sie haben uns nur oft die Wolken der Sorge und Bitterkeit vertrie- ben und uns in einer Zeit der wilden massigen Gewalt an Grazie

und Anmut glauben gelehrt. Uns hat in den Tagen, da die Welt wankte, ein liebes Hundebellen mehr gegeben, als die klügsten Worte der Menschen.“

„Kamarad“- Imperial War Museum (Art.IWM ART 16587 2)

(3)

ii

Inhaltsverzeichnis

Einleitung - „Sie hatten keine Wahl“ - Tier(e) im Krieg ... 1

Forschungsfeld ... 3

Kriegs- und Militärsoziologie ... 3

Handelnde Subjekte des Kriegs ... 5

Human-Animal Studies (HAS) ... 8

Tiere in Geschichtsschreibung & historischen HAS ... 10

„Hier liegt der Hund begraben!“ – wissenschaftliche Nichtbeachtung der Tiere ... 13

„Auf den Hund gekommen!“ – Tiere halten Einzug in die Geschichtswissenschaft ... 16

„Une autre version de l’histoire“ - Animate History, eine belebte und bewegte Geschichte . 18 Agency - ein handlungsorientierter Ansatz ... 21

Fährten lesen – Quellen und der Umgang mit der Sprachlosigkeit tierlicher Akteure ... 28

Spurensuche in den (Selbst-) Zeugnissen der Kombattanten ... 30

Quellen einer Tiergeschichte des Kriegs ... 30

„M[S]eine Erlebnisse im Kriege“ – Tier und Mensch in Selbstzeugnissen ... 34

„Der Krieg ist der Vater […] des Tagebuchschreibens“ - Merkmale der Selbstzeugnisse ... 37

Feldpostbriefe ... 37

Kriegstagebücher ... 39

Erlebnisberichte ... 41

Grenzen ziehen - das Untersuchungsfeld ... 43

Methode – eine qualitative Inhaltsanalyse ... 47

Analyse ... 53

Tierliche Spuren im Kriegstagebuch ... 53

Der Feldhilfsarzt Hans Naujoks ... 53

Der Rittmeister Fritz H. Schnitzer ... 57

Der Kriegsfreiwillige Hermann Köbele ... 58

Der Landsturmmann Karl Außerhofer ... 60

Tierliche Spuren in Feldpostbriefen ... 61

Der Ersatzreservist Georg Teufel & der Unteroffizier Hans Spieß ... 61

Die gefallenen Studenten ... 62

Revision der Unterkategorien ... 66

Tierliche Spuren in Erlebnisberichten ... 66

Die Anekdoten aus der „grauen Masse der Namenlosen des deutschen Frontheeres“ ... 67

Oswald Döpke „war Kamerad Pferd“ ... 70

(4)

iii

Herbert Franze – „Sie dienten treu, litten und starben –wofür?“ ... 72

Die Tier-Mensch-Beziehungen des Kriegsalltags ... 73

Emotionen – Heroisierung & Emotionalisierung in der Tier-Mensch-Beziehung ... 74

Nutzung - Das Tier ein (Ausnutzungs-) Objekt in der Tier-Mensch-Beziehung ... 81

Gewalt & Antipathie – Der Störenfried in der Tier-Mensch-Beziehung ... 83

Hierarchisierung – Machtasymmetrie & Hierarchisierung in der Tier-Mensch-Beziehung . 85 Kooperation – Die Tier-Mensch-Beziehung eine Not- und Überlebensgemeinschaft ... 87

Analyseergebnis... 88

Resümee ... 90

Literaturverzeichnis ... 93

Internetquellen ... 101

Erklärung ... 102

(5)

1

Einleitung - „Sie hatten keine Wahl“

1

- Tier(e)

2

im Krieg

„In den Tagen, da die Welt wankte“3 und die Zeichen auf Krieg standen, waren es nicht nur die Menschen, die zur Teilnahme am ‚Spiel der Mächtigen‘ zusammengetrommelt wurden; in den letzten Jahrtausenden wurden in allen Ländern der Welt mit den Menschen stets auch Tiere auf das ‚Spielfeld Krieg‘ gezerrt. Eine reelle Wahl zwischen Verbleiben in gewohnter Umgebung und Einsatz an der (Heimat-)Front hatten die Tiere nicht. Krieg ist immer ‚Menschenkrieg‘ und hat für die unpolitischen Tiere keinerlei Bedeutungsinhalt. Menschliche Feindbilder und Polarisierung, die in Kriegen ihren Höhepunkt fanden, waren Tieren fremd. Sie teilen menschliche Stereotype nicht und unterschieden daher auch im Krieg nicht zwischen dem Feind und dem Freund; und doch mussten Tiere auf beiden Seiten der Schützengräben ihre Körper ungefragt für menschliche Ziele nutzbar machen.

In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrtausends waren Art und Anzahl der Tiere, die in den Güterwaggons gen Front rollten oder in langen Kolonnen marschierten, prinzipiell unendlich.

Nicht erst im Zweiten Weltkrieg - seit Goebbels Sportpalastrede im Jahr 1943 - wurden jegliche gesellschaftliche und ökonomische Ressourcen für Kriegszwecke mobilisiert. Auch in den Jahren ab 1914 und vor allem ab 1916 lässt sich diese Neigung zur Totalisierung der Kriegsführung ten- denziell bereits beobachten. Gerade die ‚Ressource‘ Tier war von solchen Totalisierungstendenzen nicht ausgenommen. Die Vielfältigkeit der Lebewesen – wie deren Schnelligkeit, Kraft, Körper- maße, Geruchs- und Gehörsinn – wurde von Militärs (in Verbindung mit Ihrem Ideenreichtum) nutzbar und die Tiere so zu Instrumenten des Kriegs gemacht. Hunde, die Melde-, Wach-, Trans- port- und Sanitätsdienste leisteten, Tauben, die (Spionage-)Nachrichten an der Front oder aus dem Feindesland übermittelten, Vögel, die als Warnsignal für Gasangriffe herhalten mussten, Schweine, Kühe, Hühner und Hasen, die zur Nahrungsversorgung dienten, Katzen, die die Schüt- zengräben von Mäusen ‚säuberten‘ oder Schafe, Kängurus und Äffchen, die als Maskottchen ge- meinschaftsstiftend der Truppe dienten; um nur einige Beispiele zu nennen. Die prominentesten unter den ‚Kriegstieren‘ waren die massenhaft eingesetzten Einhufer.4 Pferde und Maultiere waren

1 [Diese Inschrift - im Original „They had no choice“ - trägt das Animals in War Memorial in London; zum Gedenken an die unter britischem Kommando eingesetzten, verletzten und getöteten Tiere.]

2 [Zur Brisanz der begrifflichen Unterscheidung von das Tier und die Tiere siehe Seite 18]

3 [Dieser Ausschnitt des Zitats der ersten Seite (i) ist Teil eines Erlebnisberichtes aus dem Ersten Weltkrieg;

Vgl. Hohlbaum, Robert: Von einem Ehepaar und einem Junggesellen, in: Theuerkauff, Johannes (Hg.):

Tiere im Krieg, Berlin 1932, S. 186–190 ]

4 [Allein im Ersten Weltkrieg wurden schätzungsweise insgesamt rund 10 Millionen Einhufer sowie meh- rere Hunderttausend Hunde und Brieftauben eingesetzt; Vgl. Baratay, Éric: Geschichtsschreibung von Seiten der Tiere, Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, in: Tierstudien - Tiere und Tod (5), 2014,

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2 als Reit-, Zug- und Lasttiere unverzichtbar für die Fortbewegung von Mensch und Material. Das galt für beide Weltkriege. Denn selbst die mechanisierten und motorisierten ‚Helfer‘ des Zweiten Weltkriegs stießen bei den Herausforderungen, die der Krieg an sie stellte, oftmals an ihre Gren- zen. So waren bspw. Pferde im unwegsamen Gelände der Ostfront die einzige Alternative zu den überforderten motorisierten Fahrzeuge oder die Brieftauben und Meldehunde das letzte Kommu- nikationsmittel, wenn Funk- und Fernsprechverbindungen versagten. Doch dieser Blick auf die Art, Anzahl und den Nutzen der Tiere im Krieg ist ein rein anthropozentrischer und macht die Tiere zu bloßen Objekte und Ressourcen menschlicher Kriegsführung.

„Wer den Krieg im Felde erlebt hat, weiß, welche tiefen Stunden echter Kameradschaft die Tiere dem Krieger geschenkt haben.“5 Dieses Zitat, das auch aus dem Mund des unrasierten deutschen Soldaten in der Bleistiftzeichnung6 auf Seite i stammen könnte, zeigt eine andere Sichtweise auf die Tiere im Krieg. Die Tiere sind mehr als Objekt und Ressource, sie stehen im Krieg wie im zivilen Leben stets in Kontakt mit den Menschen, die sie umgeben. Das Leben von Tier und Mensch ist im Geschichtsraum ‚Krieg‘ in einem ständigen Verhältnis miteinander verwoben. Die- ses Tier-Mensch-Verhältnis konnte wie in Friedenszeiten ganz unterschiedliche Formen anneh- men. Doch der Kriegsalltag stellte für beide – Tier und Mensch – eine besondere Situation dar, die sich auf ebenso besondere Weise auf das Verhältnis, auf die Beziehung zwischen Tier und Mensch auswirkte. Es waren nicht länger Bauer und ‚Ackergaul‘, die gemeinsam das Feld bestellten. Der Bauer war Soldat geworden und das Pferd zog nicht länger den Pflug, sondern die Geschützlafette.

Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich die Charakteristika dieser speziellen Tier-Mensch-Bezie- hungen des Kriegs, genauer gesagt des Ersten und Zweiten Weltkriegs (auf deutscher Seite), in Erfahrung bringen. Ausgehend von der Annahme, dass Tiere mehr als nur Objekte und Kriegsres- source sind, stelle ich die Frage nach der Art der Beziehung zwischen Tier und Mensch im Kontext des Ersten und Zweiten Weltkriegs. In welchen Beziehungen standen die menschlichen Kriegs- teilnehmer und die Tiere an und hinter den Fronten der beiden Weltkriege zueinander? Die

S. 30–46, S. 31. Für den Zweiten Weltkrieg wird von ca. 2,7 Millionen eingesetzten Pferden auf deut- scher Seite ausgegangen; Vgl. Schäfer, Rolf; Weimer, Wolfgang: Schlachthof Schlachtfeld, Tiere im Menschenkrieg, Erlangen 2010, S. 58f. sowie Pöppinghege, Rainer (Hg.): Tiere im Krieg, Von der An- tike bis zur Gegenwart, Paderborn 20091, S. 241]

5 Richters, Claus E.: Schutz der Tiere und Lebensmittel im chemischen Kriege, Berlin 1936, S. 3

6 [Die Bleistiftzeichnung zeigt einen deutschen Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg; im Hintergrund ist ein Pferd und eine Krankenschwester zu sehen; gezeichnet 1917 von William Orpen, einem britischen Kriegszeichner. Bildbeschreibung des IWM: “A sketch of the head of an unshaven German prisoner of war, his left hand held palm out towards the viewer, a speech bubble with the word 'KAMARAD' to the right of the image. There is a small sketch of a horse and another of a nurse leaning to her right in the left of the composition.”; Vgl. http://www.iwm.org.uk/collections/item/object/20891, Stand 31.01.2015]

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3 Antwort auf diese Frage erfordert ein nahes Herankommen an die beiden Akteure. Eine solche Nähe ermöglichen die zur Verfügung stehenden und infrage kommenden Quellen auf recht unter- schiedliche Weise. Meine Wahl fällt auf die Selbstzeugnisse der Kombattanten. Selbstzeugnisse ermöglichen generell einen relativ unmittelbaren Einblick in die Erfahrungen, Erlebnisse und die Gefühlswelt von Soldaten und können daher, so meine Erwartung, auch etwas über die verschie- denen Beziehungen zwischen Soldat und Tier verraten. Anhand einer qualitativen Inhaltsan- alyse sollen in dieser Untersuchung ausgewählte Selbstzeugnisse nach darin enthaltenen „tieri- schen Spuren“ durchleuchtet und anschließend hinsichtlich der genannten Fragestellung analysiert werden. Das Ergebnis dieser Analyse zeigt - im Idealfall - bestimmte Charakteristika auf, die auf verschiedene Tier-Mensch-Beziehungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg hinweisen und allge- meingültige Aussagen über die Beziehungen zwischen Tieren und Menschen im Krieg zulassen.

Auch wenn, oder gerade weil, zu dem Thema der vorliegenden Arbeit (noch) kein nen- nenswerter wissenschaftlicher Diskurs erkennbar ist, soll zunächst damit begonnen werden, das Forschungsfeld, in dem sich diese Untersuchung bewegt, und in das sie sich einfügen soll, auszu- leuchten.

Forschungsfeld

Kriegs- und Militärsoziologie

Die „non-human animals“ (nicht-menschliche Tiere)7, die auf den ‚Schlachtfeldern‘ der Menschen ihr Leben lassen mussten, standen dort zwar in einer für den vorindustriellen Krieg (und nicht nur für diesen, wie wir noch sehen werden) konstitutiven Beziehung von symbiotischem Agieren und Sterben8 mit den „human animals“, dies räumte ihnen jedoch keinen äquivalenten Stellenwert in

7 Vgl. Latour, Bruno: Will non-humans be saved?, An argument in ecotheology, in: The journal of the Royal Anthropological Institute 15 (3), 2009, S. 459–479

[„Der Begriff „nicht-menschliche Tiere“ bzw. „non human animals“ wird von Seiten der insbesondere von der Tierrechtsbewegung beeinflussten Human-Animal Studies (kurz: HAS) benutzt, um auf die enge Verwandtschaft von Mensch und Tier aufmerksam zu machen.”; Vgl. Roscher, Mieke: Human- Animal Studies in: docupedia.de, <http://docupedia.de/zg/Human-Animal_Studies?oldid=84625>, Stand: 22. Dezember 2014]

8 Lang, Heinrich: Tier und Wirtschaft, Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit, in: Krüger, Gesine; Steinbrecher, Aline; Wischermann, Clemens (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 20141, S. 241–267, S. 260

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4 der Kriegs- und Militärsoziologie ein. Einmal abgesehen von der zahlreichen populärwissenschaft- lichen Literatur über die Kavallerie nationaler Heere9 bzw. deren beiläufige Erwähnung in Militär- Chroniken10, weist die soziologische und geschichtswissenschaftliche Forschung zum Militär- und Kriegswesen sowohl im makrosoziologischen (militärische Institutionen) und mikrosoziologi- schen (Militärpersonen) Feld, als auch in der Militär-und Sozialgeschichte deutliche Lücken hin- sichtlich der Beachtung der Rolle der Tiere auf.11 Gerade aus der mikrosoziologischen Perspektive, mit Blick auf die handelnden Akteure innerhalb der Dreiecksbeziehung Militär-Gesellschaft- Krieg, ist das Tier bis zum Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus (eigentlich) nicht zu übersehen.

Es nimmt in der Gesellschaft, in deren Subsystem Militär als sozialer Großverband und im Kno- tenpunkt Krieg eine omnipräsente, aber gleichzeitig scheinbar doch unsichtbare Stellung ein. Im Dienst für (Para-) Militär und Geheimdienst waren die non-human animals in jeder „organisierten Anwendung von Gewalt zwischen kriegsführenden Parteien“12 ‚Mitläufer‘ und Helfer der human animals. Eine entsprechende Berücksichtigung in einer interdisziplinären Kriegs- und Militärfor- schung finden sie deswegen jedoch keineswegs. Über den (Objekt-)Status einer reinen Kriegsres- source gelangen sie nicht hinaus. Kaum verwunderlich, da selbst die „soldatische Subjektivität“13 der human animals in der Kriegs- und Militärsoziologie nicht als absolut und uneingeschränkt

9 Beispielsweise: Richter, Klaus Christian: Die Geschichte der deutschen Kavallerie, 1919-1945, Stuttgart 19781; Béneytou, Jean-Pierre: Histoire de la cavalerie française des origines à nos jours, Panazol 2010;

10 Chandler, David G.: The Oxford history of the British Army, Oxford u.a. 19962

11 [Die Militärsoziologie, entstanden aus der modernen militärbezogenen, sozialwissenschaftlichen For- schung während des Zweiten Weltkrieges (in den USA), lässt sich in einer „Dreiecksbeziehung zwi- schen dem Militär, der Gesellschaft und dem Krieg“ verorten. Sie nimmt das Militär sowohl als eigen- ständige Organisation und Institution, als auch die Beziehungen der verschiedenen - im bzw. in Bezug auf das Militär - handelnden sozialen Akteure untereinander und den entsprechenden Inhalt ihres Han- delns wahr. Die Politikwissenschaftlerin Nina Leonhard sieht in diesem interdisziplinären Forschungs- feld neben den originär militärspezifischen Themen (Kampfmoral, Einsatzmotivation, politische Kon- trolle, Ausprägungen des Wehrsystems etc.) auch allgemeine gesellschaftsrelevante Fragestellungen (in den Themenfeldern wie Kultur, Tradition und Gender), am Beispiel des Militärs als gesellschaftlichem Subsystem, analysierbar: „Neben einer ganzheitlichen Betrachtung der Streitkräfte und der Gesellschaft können auch ausgewählte soziale Gruppen innerhalb des Militärs bzw. in der Gesellschaft (wie zum Beispiel Dienstgradgruppen, Truppengattungen, Standorte, bestimmte Alterskohorten oder Minderhei- ten) im Fokus des Interesses stehen. […] Zugespitzt formuliert konzentriert sich der soziologische Blick auf die Interdependenz zwischen Gesamtgesellschaft und militärspezifischen Entwicklungen, auf die Funktionsbedingungen und Funktionslogiken des Militärs als sozialem Großverband, auf die dort han- delnden Akteure sowie die sozialen Bedingungen ihres Handelns.“; Vgl. Leonhard, Nina; Werkner, Ines-Jacqueline: Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden 20122, S. 22–23; Seifert konstatiert, dass innerhalb wie außerhalb der Militärsoziologie das Subjekt Soldat als passiv angesehen und „unter

‚objektive‘ Organisationsstrukturen subsumiert“ [werde]. Handeln und Denken der in den Strukturen befindlichen Personen sind bestenfalls nachgeordnet.“ Vgl. Seifert, Ruth: Militär, Kultur, Identität, In- dividualisierung, Geschlechterverhältnisse und die soziale Konstruktion des Soldaten, Bremen 1996 (Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e. V. (WIFIS) 9), S. 21 ]

12 Leonhard, Werkner, Militärsoziologie – Eine Einführung, S. 22

13 Warburg, Jens: Das Militär und seine Subjekte, Zur Soziologie des Krieges, Bielefeld 20081

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5 gegeben betrachtet und diskutiert wird. Menschliche Soldaten werden, so die Militärsoziologin Ruth Seifert, (ähnlich den Tieren) überwiegend als Objekte, als Instrumente der Herrschaftsaus- übung wahrgenommen.14

Handelnde Subjekte des Kriegs

Wenn sich also bereits die Militärsoziologen mit einer Subjektzuschreibung für zweibeinige Sol- daten schwertun, scheint eine solche auf dem militärsoziologischen Forschungsfeld für vierbeinige oder gefiederte „Kriegsressourcen“ schwer möglich zu sein. Dass das soldatische Handeln im Krieg als bloßer Ausfluss militärischer Befehlsketten verstanden wird und die verbreitete Ansicht, Soldaten beteilig(t)en sich nur als passive und leidende Wesen am Kriegsgeschehen, weist ganz im Gegenteil sogar erhebliche Parallelen zu den gängigen Rollen- und Handlungszuschreibungen an Tiere (als bloße Ressourcen/Objekte mit reaktivem Verhalten) in kriegerischen Auseinander- setzungen auf.

Behauptet man jedoch, dass ein soldatisches oder tierisches Individuum Subjekt sein kann, setzt die Behauptung eine Veränderung des Fokus voraus, in dem das Individuum wahrgenommen wird.

Solange Individuen (non-human animals und human animals) als reine Befehlsempfänger betrach- tet werden, die den disziplinierenden und objektivierenden Mächten hilflos ausgeliefert sind, wer- den sie automatisch auch zu Objekten des Kriegs degradiert:

„Als Subjekte tauchen sie dann nur noch als tragische, mitunter auch als heroische oder – wenn die disziplinierenden Mächte als negativ beurteilt werden – als geknechtete Opfer auf.“15

Werden die (Kriegs-)Akteure jedoch nicht in erster Linie als willenloses Werkzeug thematisiert, sondern als Träger eines freien Willens und freier Entscheidungen, können sie (entsprechend der Handlungstheorie) als Subjekt betrachtet werden. Der Wechsel vom Objekt zum Subjekt ergibt sich dabei zum einen aus einer Zurechnung von geistigen Befähigungen gegenüber dem Indivi- duum, zum anderen aus der Erwartung, dass das Individuum sein Tun aufgrund mehr oder minder

14 [Ein Soldat wird als Objekt wahrgenommen, „keineswegs aber als ‚Subjekt‘, das sich in umfassender Weise mit seinen Lebens- und Berufsbedingungen, gesellschaftlichen und organisationsspezifischen Einflüssen sowie politischen und ideologischen Veränderungen auseinandergesetzt hat.“ Vgl. Seifert, Militär, Kultur, Identität, S. 16]

15 Warburg, Jens: Paradoxe Anforderungen an soldatische Subjekte avancierter Streitkräfte im (Kriegs- )Einsatz, in: Apelt, Maja (Hg.): Forschungsthema Militär. Militärische Organisationen im Spannungs- feld von Krieg Gesellschaft und soldatischen Subjekten, Wiesbaden 2010, S. 245–270, S. 246

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6 freier Entscheidungen selbst bestimmen kann. Ausgestattet mit einem Selbstbewusstsein ist das Subjekt fähig, eigene und fremde Handlungen oder Meinungen zu analysieren, zu bewerten, ab- zuwägen und dementsprechend zu handeln. Diese Subjekt-Eigenschaften stehen aber, so scheint es, in einem unauflöslichen Gegensatz zu den Charakteristika des Militärs, im Besonderen des Kriegs, und zu dem Befehl-Gehorsam-Prinzip als dessen tragende Säule. Weder für Mensch noch Tier scheint in der militärischen Befehlskette Raum für eigenen Willen und freies Handeln.

Der Sozialwissenschaftler Jens Warburg versucht mit dieser Forschungstendenz zu brechen, wel- cher das Bild einer angeblich mangelhaften subjektiven Erkenntnisfähigkeit des Beherrschten (menschlicher Soldat) und der Überbetonung ‚zweckrationalen‘ Handelns anhaftet. Warburg ent- gegnet dem Ansatz, Soldaten eine Beteiligung am Zustandekommen von Gehorsam abzusprechen und davon auszugehen, dass sie „keinen ihnen zuzuordnenden Anteil am Kriegsgeschehen haben“, dass auch Gehorsam und Konformität subjektive Entscheidungen erfordern.16 Individuen als han- delnde Wesen anzusehen, so Wartburg weiter, ist die Voraussetzung, sie überhaupt als Subjekte betrachten zu können.17 Auf non-human animals übertragen, würde dies bedeuten, dass diese erst dann einen Subjektstatus erhalten können, wenn sie ebenfalls als Wesen mit intentionalem Handeln betrachtet werden, die darüber hinaus im Falle von erzwungenen Handlungen nennens- werte Handlungsalternativen besitzen und sich deren bewusst sind. Eine dementsprechende An- näherung der Handlungstheorie an das Tier bzw. eine „Relativierung der Tier-Mensch-Diffe- renz“18, wie es Warburg umschreibt, ist unumgänglich, um es von seinem reinen Objektstatus be- freien zu können.19 Schon Aristoteles räumte bestimmten Tieren eine Vorstellungskraft (die Prä- misse für intentionales Handeln) ein, jedoch mit der Einschränkung, dass diese in weit größerem Maße an ihr Wahrnehmungsvermögen gebunden seien, als dies bei den Menschen der Fall ist.

Damit fehle ihnen die Ungebundenheit und damit die Fähigkeit, ihr Handeln einem Entscheidungs- prozess zu unterwerfen.20 Ihnen sei es daher nicht möglich,

16 Warburg, Das Militär und seine Subjekte, S. 42

17 [„Individuen als Gestalter ihres Lebens zu fassen, heißt ihnen zuzugestehen, dass sie über Fragen, die ihr Leben betreffen, entscheiden können und heißt davon auszugehen, dass ihr Tun zumindest einen kon- kreten Einfluss auf ihr Geschick hat.“ Davon auszugehen, dass ihr Tun einen konkreten Einfluss hat, klammert jedoch automatisch diejenigen Handlungen eines Wesens aus, die nicht intentional verknüpft und damit ungeeignet sind „die Souveränität des Individuums als Subjekt zu gewährleisten.“; Vgl. ebd., S. 65]

18 ebd., S. 67

19 [Zur behaupteten Mensch-Tier-Differenz: eine Analyse der sozialen Grenzziehung und des ‚Geist‘ als konstruiertes Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und Tieren, Vgl. Buschka, Sonja;

Rouamba, Jasmine: Hirnloser Affe? Blöder Hund?, 'Geist' als sozial konstruiertes Unterscheidungs- merkmal, in: Pfau-Effinger, Birgit; Buschka, Sonja (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Ana- lysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013, S. 23–56 ]

20 Warburg, Das Militär und seine Subjekte, S. 67

(11)

7

„unter einer Mehrzahl von Vorstellungen Eine zu verwirklichen. Und dies ist der Grund, dass die Tiere eine auf einem Schlussverfahren beruhende Entscheidung nicht kennen, auf der der Entschluss beruht.“21

Der Soziologe und Vertreter der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessner löst das Bild des rein instinkt-gesteuerten Tieres weiter auf, indem er das Handeln von Tieren nicht länger als reinen Kettenreflex betrachtet, der durch den Instinkt ausgelöst wird, sondern als Zusammenspiel von Instinkt und Bewusstsein.22 Höheren Tieren, wie dem Hund, wird von Plessner daher eine

„echte Einsicht“ attestiert (nicht in Sachverhalte, sondern (nur) in Feldverhalte23) und damit „Ein- blick in eine bestimmte Struktur oder Situation des umgebenden Feldes.“24 Diese Tiere sind, an- ders als Pflanzen oder niedere Tiere (lower animals), also durchaus zu Handlungen, mit Plessners Worten zur „Korrigierbarkeit der Bewegungsreaktionen durch die individuelle Vergangenheit des Organismus“ fähig.25 Diese individuelle Vergangenheit, abgelegt im Gedächtnis, diene dem Tier somit als eine „historische Reaktionsbasis“.26 Zum Handeln durch den bestehenden Dualismus von Innen- und Außenwelt zwar fähig, doch eine volle Reflexivität, wie sie (nur) dem menschli- chen Wesen zu eigen ist, sei den Tieren verwehrt, so der Anthropologe.27

Plessner sowie das Gros der Kriegsforschung reihen sich, trotz vereinzelter ‚Zugeständnisse‘ an das Tier als bewusst handelndes Lebewesen, in die traditionsreiche Linie derer ein, die bei der Unterscheidung von Tier und Mensch rein anthropozentrisch argumentieren. In weiten Teilen der Wissenschaftslandschaft werden, in Bezug auf Heterogenität der beiden ‚Antagonisten‘, bis dato gängige Valenzen und Dichotomien28 vertreten und somit die Grenze zwischen non-human und

21 Aristoteles; Nestle, Wilhelm: Aristoteles Hauptwerke, Stuttgart 19636, S. 182

22 [Plessner definiert den Instinkt als eine „von Geburt an festliegende Richtungsbestimmtheit des Verhal- tens […], die eine gewisse ‚Breite‘ besitzt. Innerhalb dieser Instinktbreite verlaufen die Handlungen ohne Zwang […] Instinktiv bedingtes Handeln braucht deshalb nicht notwendig ohne Begleitung des Bewusstseins zu verlaufen, der Instinkt tritt nicht an die Stelle des Bewusstseins, sondern er formt und trägt es.“; Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Einleitung in die phi- losophische Anthropologie, Berlin 19753, S. 262]

23 [„Der Unterschied zwischen Sach- und Feldverhalten besteht darin, dass erstere nicht an eine spezifische Gegebenheit des Raumes gebunden sind. Feldverhalte sind im Gegensatz dazu immer den Sinnen zu- gänglich. Ein Sachverhalt ist bspw. ein Intervall wie „jeder dritte Apfel“. Die Eigenschaft des Dritten ist dem Apfel nicht anzusehen und daher kein Feldverhalt.“ Aus: Kurilla, Robin: Emotion, Kommuni- kation, Konflikt, Wiesbaden 2013, S. 22]

24 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 276

25 ebd., S. 279

26 ebd., S. 283ff

27 ebd., S. 288f [„Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte.

Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.“]

28 [Die traditionellen Antonyme, wie Instinkt und Vernunft, Gefühl und Reflex, Lernen und Imitation ver- festigten über Jahre hinweg eine Ab- bzw. Ausgrenzung der Tiere von und durch den Menschen. Vgl.:

(12)

8 human animals standhaft ‚verteidigt‘. Doch diese Grenze bröckelt. Eine relativ junge, sich noch etablierende Disziplin stellt diese traditionelle Segregation angesichts neuer Forschungsdebatten in Frage – die Human-Animal Studies (kurz HAS).

Human-Animal Studies (HAS)

„Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier von Grund auf neu beleuchten“29 – das haben sich die Vertreter der Human-Animal Studies auf die Fahnen geschrieben. Spätestens seit der Jahrtausend- wende ist der ‚Gegenwind‘, in dem die Fahne der Pioniere dieses interdisziplinären Forschungs- feldes einst flatterte, abgeflaut und dieselbige in den fruchtbaren Boden der Wissenschaft gesteckt.

Dem Thema der Mensch-Tier-Beziehungen wurde in den vergangenen fünfzehn Jahren eine sys- tematische Aufmerksamkeit zuteil. Ausgehend von dem angelsächsischen wissenschaftlichen Dis- kurs in den 1980/90er Jahren schuf es eine inzwischen global vernetzte Gemeinschaft, der neben Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaftlern auch (Tierschutz-) Aktivisten und Angehörige von Berufsgruppen angehören, die auf die ein oder andere Weise in Berührung mit Tieren kommen.30 Den Treibstoff für diese Entwicklung bot die, im Gegensatz zur zoologisch-biologischen oder eth- nologischen Erforschung der Tierwelt, bis dahin mangelnde Forschung hinsichtlich der Beziehun- gen zwischen Mensch und Tier und das aus ihr entstandene Desiderat:

„Ähnlich der feministischen Wissenschaftskritik der 1970er Jahre versuchen die Human-Ani- mal Studies, das Tier in die Wissenschaft hineinzudenken und zu integrieren, es dabei jedoch von seinem reinen Objektstatus zu befreien und grundsätzlich den Platz zu reflektieren, der dem Tier bis dato in der weiteren Wissenschaftslandschaft zugedacht worden ist.“3132

Roscher, Human-Animal Studies; Krüger, Gesine; Steinbrecher, Aline; Wischermann, Clemens: Ani- mate History, Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, in: Krüger, Gesine; Steinbrecher, Aline; Wischermann, Clemens (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Ani- mate History, Stuttgart 20141, S. 9–34 ]

29 Roscher, Human-Animal Studies, S. 2

30 Vgl. Krüger, Gesine; Steinbrecher, Aline; Wischermann, Clemens (Hg.): Tiere und Geschichte, Konturen einer Animate History, Stuttgart 20141; Roscher, Human-Animal Studies, 2012; Wiedenmann, Rainer E.: Tiere, Moral und Gesellschaft, Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität, Wiesbaden 20091

31 Roscher, Human-Animal Studies, S. 2

32 [Der Historiker Clemens Wischermann wertet hier eine Korrelation zu den Gender Studies keineswegs als Zufall. In der Frage um die Grenzziehung zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben, habe nicht, wie vielleicht zu vermuten, die seit den 1970er Jahren virulent geführte Tierethik-Debatte zu neuen Einstellungen in der Kulturwissenschaft geführt, sondern die wiss. Grundlagendebatte der

(13)

9 In den Human-Animal Studies (auch (Critical) Animal Studies)33 und in ihren zugehörigen Dis- ziplinen (Soziologie, Geschichts-, Erziehungs-, Literatur-, Kunst-, Rechts- und Kulturwissen- schaft, Philosophie, Psychologie und Anthropologie34) haben sich bereits einige dominante For- schungsschwerpunkte herausgebildet.35 Ein allgemeines und einendes Erkenntnisinteresse dieser akademisch betrachtet noch relativ jungen Disziplin (insbesondere im deutschsprachigen Raum) besteht dabei an der kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Bedeutung der non-human ani- mals, deren Beziehungen zu den human animals sowie an den gesellschaftlichen Mensch-Tier- Verhältnissen.

Das seit 1993 erscheinende Journal „Society & Animals“, welches maßgeblich zur Etablierung des neu entstehenden Forschungsfeldes beitragen sollte, postulierte in seiner ersten Ausgabe noch eine recht anthropozentrische Sichtweise auf daselbige. Die (Co-)Herausgeber Kenneth Shapiro und Arnold Arluke versprachen sich von der Durchleuchtung des Mensch-Tier-Verhältnisses in erster Linie, Erkenntnisse über den menschlichen Part gewinnen zu können. Die Tiere spielten dabei eher die Rolle des „Steigbügelhalters“:

„The main purpose of Society and Animals is to foster within the social sciences a substantive subfield, animal studies, which will further the understanding of the human side of the hu- man/nonhuman animal interactions. 36 Animals also represented one of the richest windows for understanding ourselves, and […] how we think and act toward them may reveal our most

Frauen- und Geschlechtergeschichte habe auf die Geschichte der Tiere übergegriffen. Vgl. Wischer- mann, Clemens: Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, in: Wischermann, Clemens (Hg.):

Tiere in der Stadt. Informationen zur modernen Stadtgeschichte, Berlin 2009, S. 5–12, S. 8–9 ]

33 [Die Historikerin Mieke Roscher benützt bzw. führt in Abgrenzung zu den Human-Animal Studies den Terminus Animal-Studies ein, um das Schlaglicht auf die Tiere als solche zu werfen und die Beziehung zum Menschen aus dem Fokus zu rücken. Vgl. Roscher, Mieke: Where is the Animal in this Text?, Chancen und Grenzen einer Tiergeschichtsschreibung, in: Chimaira - Arbeitskreis für Human Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gsellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 121–150, S. 122

34 [Einen kurzen Eindruck vom disziplinübergreifenden Charakter der HAS und der dazugehörigen Vielfalt der universitären Lehre gibt bspw. der Band DeMello, Margo (Hg.): Teaching the animal, Human-ani- mal studies across the disciplines, New York 2010]

35 [Die Soziologin Sonja Buschka erkennt (vornehmlich für den deutschsprachigen Raum) vier wesentliche Forschungsschwerpunkte innerhalb der HAS: 1)“Soziale Konstruktion des Tieres“ 2) „Tiere in sozialen Interaktionen“ 3) „Das Mensch-Tier-Verhältnis als Herrschafts- und Gewaltverhältnis“ und 4) „Wandel gesellschaftlicher Mensch-Tier-Verhältnisse“, vgl. Buschka, Sonja; Gutjahr, Julia; Sebastian, Marcel:

Gesellschaft und Tiere, Grundlagen und Perspektiven der Human-Animal Studies, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 62 (8-9), 2012, S. 20–26]

36 Shapiro, Kenneth J.: Editors Introduction to Society & Animals, in: Society and Animals 1993 (1), 1993, S. 1–4, S. 1

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10 essential conceptions of the social order and unmask our most authentic attitudes toward people.37

Die HAS entwickelten derweil - von der sozialwissenschaftlichen Dominanz losgelöst - in den Folgejahren ein weitaus breiter gefächertes und vor allem weit weniger anthropozentrisch gepräg- tes Forschungsinteresse. Gerade in den geschichtswissenschaftlich orientierten Human-Animal Studies, zu der auch die vorliegende Arbeit zählen soll, liegt das Interesse darin, Tiere nicht als reine Steigbügelhalter für die Menschen und somit nicht als eine amorphe Masse zu betrachten, sondern sie als aktiv Mitgestaltende der Geschichte aufzufassen.

Tiere in Geschichtsschreibung & historischen HAS

“Der Menschen ältere Brüder sind die Tiere. Ehe jene da waren, waren diese. […]

Jede Geschichte des Menschen also, die ihn außer diesem Verhältnis betrachtet, muß mangelhaft und einseitig werden.

Freilich ist die Erde dem Menschen gegeben;

aber nicht ihm allein, nicht ihm zuvörderst.“ 38 (Johann G. Herder, 1784)

"A horse, a horse, my kingdom for a horse!"39 Sein ganzes Königreich hätte der britische König Richard III. 1485 womöglich für ein einziges Pferd eingetauscht - sofern man William Shake- speare Glauben schenken möchte. Doch wie können Tiere für Menschen zugleich so viel Wert und damit die Macht besitzen den Lauf der Geschichte zu beeinflussen, aber in der Geschichtsschrei- bung kaum erwähnt werden? Der Schriftsteller Elias Canetti - und mit ihm diejenigen Historiker, die in jüngerer Zeit genau dieses bemängeln, liegt ganz richtig, wenn er feststellt: „in der Ge- schichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede.“40

37 Arluke, Arnold: Associate Editor's Introduction, Brining Animals into Social Scientific Research, in:

Society and Animals 1993 (1), 1993, S. 5–7, S. 5

38 [Der deutsche Schriftsteller und Denker Herder fragte schon 1784 nach der Rolle des Tieres als Teil menschlicher Sozialität. Vgl. Herder, Johann Gottfried von; Stolpe, Heinz (Hg.): Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Berlin 1965 (1), S. 63]

39 ["Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!" sind nach Wiliam Shakespeare die letzten Worte Richards III. in der Schlacht von Bosworth, bevor er erschlagen wird. Vgl. Shakespeare, William: King Richard III, Stuttgart 2014]

40 Canetti, Elias: Über Tiere, München 2002, S. 13

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11 Die moderne Geschichtswissenschaft ging bislang Seite an Seite mit dem Blindenhund an der Leine durch die Geschichte der eigenen Spezies. Jedoch ohne Augenlicht für den vierbeinigen Begleiter und die Tiere um sie herum. Obwohl Tiere auf engstem Raum und in verschiedensten Kontexten mit den menschlichen Gemeinschaften durch ihre gesamte Geschichte hindurch verwo- ben, deutlich erkennbar und schließlich auch prägend waren, ist ihrer Geschichte bisher nur spo- radisch nachgegangen worden. In facto ist die Beschreibung von Tieren in geschichtswissen- schaftlichen Abfassungen kein Novum. Sowohl in der zoologischen Schrift Aristoteles‘ (Historia Animalum) als auch in zivilisationsgeschichtlichen Texten des vergangenen Jahrhunderts ist das Tier Gegenstand (natur-)geschichtlicher Untersuchungen. Die darin beschriebene Position der Tiere ist jedoch, stets die einer Randgruppe.41 Die Historikerin Mieke Roscher entdeckt in diesen Texten Tiere nur als „Staffage“, an deren Darstellung spezielle menschliche Verhaltensweisen ex- pliziert werden sollen. Tiere würden demnach (dem Menschen) dazu dienen, neue anthropozent- rische Blickwinkel auf die (Menschheits-)Geschichte zu ermöglichen und zuzulassen.42 So sieht Roscher auch in Keith Thomas‘ „Man and the Natural World“43 nur eine (Aus-)Nutzung der Tiere, die darin „als Ausschmückung für die Darstellung der Kultur der Moderne herhalten“ müssen.44 Dennoch kann in Thomas‘ Werk ein bedeutender Meilenstein der Tiergeschichte (auch Animal History) ausgemacht werden – darin nämlich werden die Tiere (erstmals) als historische Kategorie eingeführt.4546 Erst in jüngerer Zeit und damit mit einer gewissen Verspätung im Vergleich zu anderen Forschungsdisziplinen47 fanden die Tiere im Rahmen der HAS Einzug in die ge- schichtswissenschaftliche Forschung und die universitäre Lehre.48 Während sich im deutschspra-

41 Roscher, Where is the Animal in this Text?, S. 124

42 ebd.

43 Vgl. Thomas, Keith: Man and the natural world, Changing attitudes in England 1500 - 1800, Harmonds- worth 1984

44 Roscher, Where is the Animal in this Text?, S. 124

45 Steinbrecher, Aline: Auf Spurensuche, Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Pöppinghege, Rainer (Hg.): Themenschwerpunkt Tier und Mensch in der Region, Münster 2012, S. 9–29, S. 11

46 [Dieser ideengeschichtliche Zugriff auf die Tiere, wie es Thomas praktiziert, ist typisch für weitere Bei- träge aus den achtziger und neunziger Jahren, so bspw. auch Ritvo, Harriet: The animal estate, The English and other creatures in the victorian age, Cambridge Mass. 1987 – Ritvo beschreibt darin den zeitgenössischen Bedeutungswandel des Tieres und seine Aufladung mit bestimmten Zuschreibungen (philosophisch-wissenschaftliche wie profan-alltägliche)]

47 Vgl. Ritvo, Harriet: History and Animal Studies, in: Society and Animals 10 (4), 2002, S. 403–406

48 [Zur neueren geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Tieren vgl. Eitler, Pascal; Möhring, Maren: Eine Tiergeschichte der Moderne, Theoretische Perspektiven, in: traverse 15 (3), 2008, S. 91–

106; Steinbrecher, Aline: In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, Die Geschichtswis- senschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Otterstedt, Carola (Hg.): Gefährten - Kon- kurrenten - Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 264–286 ; Roscher, Human-Animal Studies; Roscher, Where is the Animal in this Text?; Roscher,

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12 chigen Raum die Historiker dem Aufruf Paul Münchs, „Menschen und Tiere als existentiell ver- bundene Teilhaber einer Lebenswelt wahrzunehmen“49 und die wissenschaftliche Auseinanderset- zung des Mensch-Tier-Verhältnisses nicht länger als ein „exotisches Randproblem“50 zu begreifen, erst langsam annahmen, erklärte die Umwelthistorikerin Harriet Ritvo die Beschäftigung mit Tie- ren in der Geschichtswissenschaft bereits 2004 zum „Mainstream“.51 Dies mag, so der Einwand der Historikerin Aline Steinbrecher (2009), für den angloamerikanischen Raum zunächst mehr zutreffen, als es für den deutschsprachigen Raum der Fall ist.52 Bezogen auf deutschsprachige Forschungslandschaften zeichnete auch noch Roscher vor nicht allzu langer Zeit (2011) ein recht düsteres Bild vom Einzug der Tiere in die Geschichtswissenschaft bzw. von der Forschungsmei- nung etablierter Themengebiete:

„Das Tier bleibt etwas Lächerliches, etwas sprichwörtlich Parasitäres, das nicht in die Bas- tion menschlicher Geschichte einzudringen, geschweige denn einen eigenständigen histori- schen Platz, der parallel zur menschlichen Geschichte existiert, einzunehmen habe. […]

Würde dem Tier ein ebenso zentraler Platz in der Historiographie eingeräumt, wäre der Weg zur absoluten Gleichmacherei nicht mehr weit. Dies gilt es [aus Sicht der ablehnenden, tradi- tionellen Historiker und somit] aus rein anthropozentrischen Gründen zu verhindern.“53 So verwundert es auch nicht, dass Münch Wissenschaftlern, die (Tieren gegenüber aufgeschlossen waren) sogar die Gefährdung ihrer wissenschaftlichen Karriere prognostizierte bzw. prognostizie- ren musste, wenn diese sich zur Jahrtausendwende mit Forschungsfragen der Tiergeschichte in den Geschichtswissenschaften qualifizieren wollten.54 Der Kulturanthropologe John Simons schreibt Autoren, die Tiere kulturwissenschaftlich behandeln, gar ein antiintellektuelles, infantiles Gebaren zu:

Mieke: Tiere und die historischen Wissenschaften, Von einer Geschichte mit Tieren zu einer Tierge- schichte, in: Spannring, Reingard; Schachinger, Karin (Hg.): Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Bielefeld 2014 (Im Erscheinen)1 ; Brantz, Dorothee; Mauch, Christof (Hg.): Tierische Geschichte, Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010; Shaw, David Gary: A Way With Animals, Preparing His- tory for Animals, in: History and Theory 52 (4), 2013, S. 1–12; Krüger, Steinbrecher, Wischermann, Tiere und Geschichte, Stuttgart 2014; u.a. ]

49 Münch, Paul: Tiere und Menschen, Ein Thema der historischen Grundlagenforschung, in: Münch, Paul;

Walz, Rainer (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Pa- derborn 19992, S. 9–34, S. 14

50 ebd.

51 Ritvo, Harriet: Animal Planet, in: Environmental History 9 (2), 2004, S. 204–220, S. 3

52 Steinbrecher, In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, S. 270

53 Roscher, Where is the Animal in this Text?, S. 126

54 Münch, Tiere und Menschen, S. 16

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„ […] the notion that animals are a fit topic for academic consideration in the cultural field is somehow inferior, either intellectually or, I fear, ideologically […].”55

Diese vermeintliche Infantilisierung der Geschichtswissenschaft verhalf auch hierzulande der Meinung zum Durchbruch, die Geschichte der Tiere sei kein adäquates Forschungsfeld. Erst recht nicht, wenn diese dabei im Forschungsmittelpunkt stünden. So bleiben die Tiere selbst in vielen historischen Übersichten unerwähnt, selbst dann, wenn es um tierspezifische Entwicklungen, wie Industrialisierungsphänomene geht.56

„Hier liegt der Hund begraben!“57 – wissenschaftliche Nichtbeachtung der Tiere

Wo liegt hier der Hund begraben? Die Gründe für die Vorbehalte gegenüber den Tieren als histo- riografisches Thema liegen mehrschichtig begraben und überschneiden oder bedingen sich gegen- seitig. Roscher beispielsweise sieht neben der bereits erwähnten, vermeintlichen Infantilisierung und dem traditionellen Anthropozentrismus der Geschichtswissenschaft die scheinbare Nonverba- lität des Tieres ganz maßgeblich (mit-)verantwortlich für seine wissenschaftliche Nichtbeachtung.

Das primär textliche Quellenstudium, als die vermeintlich einzig legitime Herangehensweise der historischen Methode, verwehrt den Tieren demnach mangels entsprechender verbaler und schrift- licher Quellenproduktion den Weg in die Forschungsagenden. Dieser „Primat der Vertextlichung“, wie es Roscher nennt, werde durch den linguistic turn – die Auffassung, dass die Sprache kein

„transparentes Medium“ der Wirklichkeitserfassung, aber sehr wohl die „unhintergehbare Bedin- gung des Denkens“58 sei – untermauert. Die „sprachliche Struktur [bilde] sowohl die Vorausset- zung als auch die Grenze des Erkennbaren […] Sprache [ist] das konstitutive Mittel menschlichen Bewusstseins.“59 Geht man also davon aus, dass Sprache die Grenzen des Denkens absteckt, kann unterhalb der Sprache auch keine Realität existieren – damit wären die nonverbalen Tiere a priori außen vor:

„Sie haben keine Sprache, die wir verstehen könnten, und können damit auch nicht in den Diskurs eingreifen, denn nur über die Sprache sind Ausführungen über Tiere erst möglich.

55 Simons, John: The Longest Revolution: Cultural Studies after Speciesism, in: Environmental Values 6 (4), 1997, S. 483, S. 487

56 Roscher, Where is the Animal in this Text?, S. 125

57 [Zum Ursprung und Gebrauch der Redensart „Hier liegt der Hund begraben“ vgl. Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1838-1961 (15), Sp. 1918]

58 Stierstorfer, Klaus: Linguistic turn, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Literaturtheorie, Stutt- gart 2004, S. 147–151, S. 147

59 Roscher, Where is the Animal in this Text?, S. 130

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14 Sie sind in diesem Sinne ein diskursives Nichts. […] Und auch wenn sie sich artikulieren könnten, würde ihre Aussage kein Verständnis auslösen, denn der Rezipient ist nicht das Tier und gehört nicht mal seiner Spezies an und unterliegt damit einer anderen Form der Erkennt- nis.“60

Dieser Diskurs, in dem die Sprache nicht länger nur ein neutrales Medium für Mitteilungen ist, stellt wiederum den maßgeblichen Zugang dar, über den die diskursanalytisch geprägten Ge- schichtswissenschaften auf die Tiere zugreifen - stets dem Prinzip folgend, dass Wahrheiten und Fakten erst sozial artikuliert werden müssen, um Untersuchungsgegenstand werden zu können.61 Die Anthropologin Mary Weismantel und die Historikerin Susan Pearson bestätigen diese schein- bare Relevanz der Sprache für die Geschichtsfähigkeit der Tiere. In ihrem mehrdimensionalen Problemaufriss zur Einbeziehung der Tiere in die Geschichte geht die vermeintliche Tatsache, dass die Tiere als Forschungsobjekte „keine Stimmen und keine [textlichen] Spuren“ besitzen über ein methodologisches Hindernis hinaus – „die Unfähigkeit, sich mitzuteilen, ist eine Bedingung des Tierischen an sich.“62 Damit, so die beiden Amerikanerinnen, besitze das Tier nolens volens einen ontologischen Mangel, der es aus der Geschichte ausschließe, da Sprache – bei Descartes und anderen mit Vernunft, Bewusstsein und Subjektivität verbunden – lange als Voraussetzung ange- sehen wurde, ein Subjekt in und mit Geschichte zu sein.63 Gräbt man nun etwas tiefer, so finden sich zwei weitere Gründe, warum die Tiere weder den Historikern des 19. Noch des 20. Jahrhun- derts als erforschenswerter ‚Gegenstand‘ überhaupt in den Sinn kamen. Eine der Ursachen, so Steinbrecher, liege direkt in der persönlichen Umwelt des Historikers. Die Tatsache, dass die Tiere aus dem Alltag des Historikers – im Raum seiner genuinen Rolle als Gesellschaftsmitglied - ver- schwunden sind (mit Ausnahme der Heimtiere), führt in Kombination mit einer „vornehmlich an Gegenwartsproblemen orientierten Geschichtswissenschaft“64 zu einer fehlenden Brisanz und Motivation sich diesen zu widmen. Dies trifft vor allem für die Jahre nach 1950 zu, die von einer rasanten Abnahme der Tiere in der erlebten Umwelt der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften geprägt sind. Diese Veränderung ist Teil einer anhaltend breiten Variation des

60 ebd.

61 ebd., S. 120,130

62 Pearson, Susan; Weismantel, Mary: Gibt es das Tier?, Sozialtheoretische Reflexionen, in: Brantz, Dorothee; Mauch, Christof (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 379–399, S. 380f [Nach Pearson und Weismantel gibt es ein ontologisches, epistemologisches, methodologisches und historisches Problem bei der Einbeziehung der Tiere in die Geschichte: „die methodologische Schwierigkeit, tierisches Leben zu dokumentieren, wird als Beweis für ein ontologisches Problem angesehen, das den Tieren selbst innewohnt, und damit epis- temologisch als Grund dafür, dass man Tiere aus der Geschichte ausschließt.“]

63 ebd., S. 381

64 Steinbrecher, In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, S. 271

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15 Mensch-Tier Verhältnisses in der Geschichte bis hin zur Gegenwart. Und zwar aus zeitlicher wie kulturräumlicher Perspektive, so die beiden Historiker Éric Baratay65 und Clemens Wischer- mann66. Diesen historisch-sozialen Wandel unterscheidet letzterer chronologisch in drei Phasen und findet diesen entsprechend die charakterisierenden, begrifflichen Markierungen „wildes Tier“,

„Nutzvieh“ und das „Tier als Familienmitglied“.67 In die dritte Phase, in der das Tier in erster Linie nicht mehr als wildes Tier oder Nutztier, sondern (nur noch) als Familienmitglied im Alltag des Menschen und damit auch im Alltag eines Historikers auftaucht, fällt auch Steinbrechers Begrün- dung der historiographischen Nichtbeachtung mangels Alltagspräsenz der Tiere.

Die zweite Erklärung sieht Steinbrecher in den Wurzeln der modernen Geschichtswissen- schaft,68 deren Vertreter sich im 19. Jahrhundert auf die Analyse politischer und religiöser Macht- verhältnisse konzentrierten – getreu dem Motto „die Weltgeschichte ist nichts als die Biographie großer Männer“.69 So wurde bis zum Ende des zweiten Weltkrieges vornehmlich die (Politik- )Geschichte berühmter weißer Männer sowie die Geschichte bedeutsamer Ereignisse im Rahmen der Nationalstaaten geschrieben. Mit dem anschließenden Aufstieg der Sozialgeschichte führte der Weg des Historikers nicht mehr ausschließlich über die Politik- bzw. Ideengeschichte, sondern nahm stufenweise neue Akteure und Themen in sein Forschungsfeld auf. Gerade in den 1960er und 1970er Jahren erhielt die Geschichtswissenschaft (besonders im angloamerikanischen Raum) nach und nach einen neuen, heterogenen, multiethnischen und Gender-interessierten Anstrich.70 Dass die neuen Wege, die zu dieser Zeit in der Sozialgeschichte eingeschlagen wurden, allerdings nicht von allen Zeitgenossen ernst genommen oder anerkannt wurden, zeigt der Aufsatz „House- hold Pets in Urban Alienation“, der sich – erschienen im Journal of Social History, 1974 – über die neuen Wege der Geschichtswissenschaft, insbesondere die Erforschung der Frauengeschichte, lustig machte. So verspottet der anonyme Autor unter dem Pseudonym „Charles Phineas“ die zeitgenössischen Sozialhistoriker mit der ironischen Bemerkung, dass neben den verschiedenen ethnischen Gruppen – und „aktuell sogar den Frauen“ - wohl bald auch noch die Tiere als For- schungsthema folgen würden:

65 Vgl. Baratay, Éric: Le point de vue animal, Une autre version de l'histoire, Paris 2012 (L'univers histo- rique), 2012; Baratay, Éric: Bêtes de somme, Des animaux au service des hommes, Paris 2008

66 Vgl. Wischermann, Clemens: Tiere und Gesellschaft, Menschen und Tiere in sozialen Nahbeziehungen, in: Krüger, Gesine; Steinbrecher, Aline; Wischermann, Clemens (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 20141, S. 105–126 , 2014

67 ebd., S. 106

68 Vgl. Brantz, Mauch, Tierische Geschichte, S. 2

69 [Thomas Carlyle, schottischer Historiker, *1795 †1881]

70 Steinbrecher, In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, S. 271

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„It seems brash to suggest that pets become the next ‘fad‘ subject in social history, but after running through various ethnic groups (and now woman) historians may need a new toy. […]

So why not pets? Here, clearly, would be the ultimate in the history of the inarticulate. Written records, where available, would lend themselves more to anal than to oral history, and a new field could open up. Yet it may not come to pass. Without political power or claims, pets will hardly attract the interest of radical social historians.”71

Aber gerade das Interesse an ehemals oder immer noch marginalisierten Gruppen wie den Sklaven, Armen, Frauen72, Homosexuellen, Angehörigen verschiedener Ethnien oder Glaubensrichtungen abseits der Weltreligionen verändert(e) die starren Perspektiven in den Wissenschaften, birgt neue Fragen und Erkenntnisse und hilft dabei ein umfassenderes Verständnis von Tier, Mensch und Umwelt zu erhalten. Auch die Geschichtswissenschaft kann von derlei Untersuchungen nur profi- tieren und sollte sich nicht vor einem neuen historiographischen Sujet wie den Tieren verschließen.

„Auf den Hund gekommen!“73 – Tiere halten Einzug in die Geschichtswissenschaft

Das Herüberschwappen einer steigenden Zahl an Forschungsansätzen und Veröffentlichungen aus dem angloamerikanischen Raum, die den Tieren einen prominenteren Platz in der Geschichte zu- gestehen wollen, geht indes, trotz aller (vormaligen) Skepsis, nicht spurlos an der deutschsprachi- gen Forschungslandschaft vorbei. Hier bahnt sich die Tiergeschichte ganz aktuell mit jeder weite- ren Publikation, jeder Konferenz, jeder Forschungsgruppe, jedem Schwerpunktjournal und jeder Lehrveranstaltung entlang ausgewählter Einzelthemen zusehends ihren Weg durch die Human- Animal Studies - von der Peripherie der Geschichtswissenschaft hin zu einem etablierten Platz an der Seite des Menschen im Lauf der Geschichte.. Dies ist das ausgerufene Ziel, das propagiert werden soll. Die Herausforderung, den Weg dahin zu ebnen, nehmen im deutschsprachigen Raum (bisher) ganz überwiegend die jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. Flankiert durch eine zunehmende institutionelle Verankerung der Human-Animal Studies betreten sie das historiographische Neuland und vertreten dabei die Intentionen einer Geschichte der Mensch-Tier-

71 Phineas, Charles: Household Pets and Urban Alienation, in: Journal of Social History 7 (3), 1974, S. 338–

343, S. 339

72 [Zur Entwicklung der Tiere zum Forschungsthema aus den Gender-Studies Vgl. Wischermann, Clemens (Hg.): Tiere in der Stadt, Informationen zur modernen Stadtgeschichte, Berlin 2009 (2); u.a.]

73 [Zum Ursprung und Gebrauch der Redensart „Auf den Hund gekommen“ vgl. Grimm, Grimm, Deutsches Wörterbuch, Sp. 1916]

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17 Beziehungen häufig mit Enthusiasmus und Empathie.74 Diese Wegbereiter der Tiergeschichte for- dern, dass die Geschichtsschreibung den Spuren, die Tiere in der menschlichen Geschichte hinter- lassen und der engen Verflechtung der Tiere mit der menschlichen Vergangenheit gerecht werden muss. Voraussetzung hierfür ist, dass Tiere nicht länger als reine Instinktwesen und der Mensch als reines Kulturwesen verstanden wird.75 Roscher sieht darin das Heraufbeschwören ei- ner Trendwende, die an den ebenfalls von Ritvo schon 2007 postulierten „animal turn“76 anknüp- fen soll (oder kann) – ob es sich hierbei letztlich jedoch um ein Strohfeuer handelt, bleibe aber abzuwarten.77 Wie aber in den voranstehenden Zeilen und in den beschriebenen Problemen der Geschichtswissenschaft in ihrem Umgang mit dem Tier-Thema deutlich wurde, bedarf es genau eines solchen turns oder zumindest der Etikettierung des neuen Forschungsfeldes als solches. Eine derartige Wende wird, wie Doris Bachmann-Medick beschreibt, nie eine 180 Grad Drehung des ganzen Faches mit sich bringen. Ein turn muss vielmehr als Reaktion gegen Widerstände sowohl aus den eigenen Reihen als auch aus fremden Disziplinen betrachtet werden, um einen Forschungs- ansatz erst interdisziplinär anschlussfähig machen und vom Status einer Orchideendisziplin be- freien zu können – oder anders ausgedrückt: um zu wissenschaftlichem Mainstream werden zu können.78 Gewiss tragen solche turns „dazu bei, dass sich Disziplinen nicht mehr als in sich ge- schlossen wahrnehmen müssen, gleichsam wie „Nationalstaaten” der akademischen Welt“79, aber gleichzeitig, so Bachmann-Medick, lösen die zahlreichen parallelen Neufokussierungen der For- schung quer durch alle Disziplinen hinweg,80 „Schwindel“ und Verunsicherung aus. Ausgehend vom linguistic turn hat sich eine Wende-Spirale entwickelt, die die Gefahr birgt, dass sich die Positionen der turns von ihren „historischen, gesellschaftlichen und […] disziplinären Entste- hungs- und Erkenntnisorten lösen und als frei flottierende Andockstellen in den Hafenbecken der Disziplinen herumschwimmen“ – es bestehe demzufolge die Gefahr der Verselbständigung.81 Die

74 Wischermann, Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, S. 7f

75 Steinbrecher, In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, S. 272

76 Vgl. Ritvo, Harriet: On the Animal Turn, in: Daedalus 136 (4), 2007, S. 118–122

77 Roscher, Where is the Animal in this Text?, S. 126

78 Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns, Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 20145, S. 15 [ebd. zu turns als Strategie, wissenschaftlichen Mainstream zu erreichen: „Niemals handelt es sich um vollständige und umfassende Kehrtwenden eines ganzen Fachs, sondern eher um die Ausbil- dung und Profilierung einzelner Wendungen und Neufokussierungen, mit denen sich ein Fach oder ein Forschungsansatz interdisziplinär anschlussfähig machen kann. Es kommt zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen, eklektizistischen Methodenübernahmen – nicht jedoch zur Herausbildung eines Paradigmas, das ein anderes, vorhergehendes vollständig ersetzt.“]

79Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns in: docupedia.de, <http://docupedia.de/zg/Cul- tural_Turns?oldid=97381>, Stand: 3. Januar 2015, S.10

80 [interpretive turn, performative turn, reflexive turn, postcolonial turn, translational turn, pictorial/iconic turn, spatial turn u.a.]

81 ebd.

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18 Kulturwissenschaftlerin fordert daher nicht ein Zurückrudern (z.B. in die sicheren Häfen der Geis- teswissenschaften), sondern sie fordert einen re-turn, eine Rückübersetzung in die Disziplinen, aber auch in gesellschaftliche Problemlagen hinein, zu vollziehen. Es gilt demnach, einen (animal- ) turn nicht wie Wildwuchs ins Uferlose verlieren zu lassen, sondern in den empirischen Forschun- gen der Einzeldisziplinen rechtzeitig „rückzuverorten“.

„Une autre version de l’histoire“82 - Animate History, eine belebte und bewegte Geschichte Nach der Durchwanderung des Themas Mensch-Tier-Beziehungen durch sämtliche Disziplinen und einer nun interdisziplinären Aufmerksamkeit – als vernehmliche Anzeichen für einen tatsäch- lich stattgefundenen/stattfindenden animal turn - durch die Human-Animal Studies scheint es auch in der Geschichtswissenschaft Zeit zu sein, das Thema mit empirischen Forschungen und einer gemeinsamen Konzeption zu verankern, um den Tieren einen dauerhaft festen Platz darin zu si- chern. So sehen auch die Autoren des jüngst erschienen Bandes „Tiere und Geschichte“83 den Zeitpunkt gekommen, das Thema an die Fachdisziplinen – in ihrem Fall die Geschichtswissen- schaft – zurückzubinden. Die Tiere sind heute mehr denn je auf den Schreibtischen und in den Köpfen der Historiker präsent, nur eine verbindende Konzeption für die Historiographie blieb bis- her ein Desiderat. Eine solche Konzeption war wegen der verstreuten disziplinären Interessen, Beschäftigungen und Ansätze in den Human-Animal Studies und deren Unterdisziplinen (Animal Studies, Critical Animal Studies, Posthumanism, Anthrozoologie und Archäozoologie) kaum fass- bar. Über die Rückbindung des Tier-Themas in die Geschichtswissenschaft und die Bündelung der einzelnen Interessensfelder zu einer eigenen geschichtswissenschaftlichen Unterdisziplin der HAS, scheinen eine verbindende Konzeption und eine kategoriale Präzisierung möglich zu wer- den. Die Historiker Krüger, Steinbrecher und Wischermann führen hierzu den Begriff Animate History ein. Diese soll sich als belebte und bewegte Geschichte verstehen.84 Eine neue „konse- quente Inblicknahme“ der Tiere kann und soll in diesem Sinne die Geschichtswissenschaft in Be- wegung bringen, neu beleben und sie als Ganzes in ihrer Ausrichtung verändern. Ihr Appell, neue und bewusst auch klassische Kategorien der Geschichte – wie Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und u.a. auch Krieg - müssen nach tierischen Leerstellen erkundet werden. Anders als vielleicht noch in vergangenen Herangehensweisen der historischen HAS werden Tiere in einer

82 [Auf dt.: „Eine andere Version der Geschichte“ – Vgl. Untertitel von: Baratay, Le point de vue animal]

83 Vgl. Krüger, Steinbrecher, Wischermann, Tiere und Geschichte

84 ebd., S. 10

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19 Geschichtsschreibung im Sinne einer Animate History als aktiv Mitgestaltende aufgefasst und nicht als reine Staffage der Menschen:

„Es geht um Tiere, die zu allen historischen Zeiten menschliche Räume teilten, für die neue Räume geschaffen worden sind oder die sich außerhalb der Nahräume von Menschen und ihren ‚companion animals‘ 85 befanden und dabei trotzdem menschliche Gesellschaften be- einflussten […].“86

Die Menschen – von den Autoren nicht als abstrakte, sondern als handelnde Wesen und in all ihrer Heterogenität gedacht - wurden seit jeher von Tieren begleitet. Von einzelnen Tieren und im Kol- lektiv, in jedem Fall als lebendige handelnde Wesen. Sie sind daher mehr als nur ein Teil von menschlichem Mythos, Kunst und Philosophie – sie sind handlungsbefähigte Subjekte.

Die im Englischen und in den HAS mittlerweile üblichen Begriffe human animals und non- human animals (oder Other Animals87) versucht die Animate History auf eine Formel zu bringen.

Auf der einen Seite werden durch den in den HAS gängigen Sprachgebrauch die Menschen als

„menschliche Tiere“ bzw. „menschliche Lebewesen“ bezeichnet - Animal steht im Englischen so- wohl für „Tier“ als auch für „Lebewesen“. Auf der anderen Seite werden die Tiere trotz einer weiterhin inhärenten Grenzziehung mit dem Begriffspaar non-human animal und human animal auf eine gemeinsame Stufe (Lebewesen) mit den Menschen gehoben. Die Vertreter einer Animate History nutzen daher die Möglichkeit, von menschlichen und tierlichen Lebewesen zu sprechen, um mit dem gemeinsamen Nomen deutlich zu machen, dass beide Teil der belebten Geschichte sind.88 Die Verwendung der Bezeichnung tierlich - im Unterschied zu tierisch - soll die negative Konnotation des Begriffs tierisch sowie dessen inhärenten Mensch-Tier-Dualismus in Anlehnung an die Bezeichnung menschlich umgehen.89 Um der Individualität der tierlichen Subjekte Rech-

85 [Der Begriff companion animal umfasst alle Tiere der modernen Mensch-Tier-Beziehung und trennt nicht zwischen „Nutztieren“, „Haustieren“ und „gezähmten Wildtieren“. Vgl. Haraway, Donna Jeanne:

The Companion Species Manifesto, Dogs, people, and significant otherness, Chicago 2003, S. 14]

86 Krüger, Steinbrecher, Wischermann, Tiere und Geschichte, S. 9f.

87 [Die Soziologin Kay Peggs zieht den Begriff other animals den (non-)human animals vor, da beim Be- griff „non human“ der Bezugspunkt weiterhin beim Menschen liege und die Tiere von vorneherein in eine hierarchische Unterordnung gerieten. Vgl. Peggs, Kay: Animals and sociology, Basingstoke 20121; Wischermann, Tiere und Gesellschaft, S. 105]

88 Krüger, Steinbrecher, Wischermann, Animate History, S. 11f

89 Chimaira Arbeitskreis: Eine Einführung in Gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse und Human-Ani- mal Studies, in: Chimaira - Arbeitskreis für Human Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gsellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 7–42, S. 33

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