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Die Tiergeschichtsschreibung im historischen Raum Krieg basiert bis dato mehrheitlich – eine Ausnahme stellt Baratay dar - auf einer Quellenlektüre und keiner Quellenrelektüre, wie sie Stein-brecher im Sinne einer Animate History fordert. Denn sowohl die vielen interessierten Laien als auch die wenigen Geschichtswissenschaftler, die sich diesem Thema widmen, taten genau das, wovor Steinbrecher warnt, wenn es darum geht in menschlichen Quellen nach Tieren Ausschau zu halten – eine Verdoppelung der Sicht des menschlichen Verfassers. Das bisherige Interesse an den Tieren im Krieg konzentrierte sich auf den menschlichen Gebrauch und die menschliche Re-präsentation der Tiere, indem der Standpunkt der zur Verfügung stehenden menschlichen Quellen übernommen wird. Ein „zwischen den Zeilen und gegen den Strich“142 Lesen – also gegen den unmittelbaren Sinn lesen - bzw. die Suche nach der verborgenen Wirkungsmacht der tierlichen Kriegsteilnehmer fand dabei nicht statt. Das in ganz Europa verbreitete soziale Phänomen der Vik-timisierung der Kämpfer in den Weltkriegen wird dabei zusehends von den Menschen auf die Tiere übertragen, ohne zu einer Umkehr der Dokumente, der Lesarten oder der Analysen zu ge-langen. Daher bleibt die Sicht auf die tierlichen Lebewesen doch dem menschlichen Standpunkt verhaftet.143 Um aber mehr über die Wirkmächtigkeit tierlicher Aktanten und die Tier-Mensch-Beziehung im Krieg zu erfahren, muss die „Einbahnstraße“, wie Baratay die Reduzierung des Tier-Mensch-Themas auf einen einzigen Pol (den Menschen) nennt, für die Tiere als Aktanten geöffnet werden. Dies bedeutet die zwingende Aufgabe der Haltung, Tiere seien nur passive We-sen oder gar reine Objekte des Krieges. Die dafür benötigten Zeugnisse sind wie bei jeder Tierge-schichtsschreibung, mangels Alternative, menschlichen Ursprungs:

141 Steinbrecher, In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, S. 277

142 Vgl. Mohrmann, Ruth-E.: Zwischen den Zeilen und gegen den Strich, Alltagskultur im Spiegel archiva-lischer Quellen, in: Der Archivar 44, 1991, Sp. 234–246

143 Baratay, Geschichtsschreibung von Seiten der Tiere, S. 32

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„Die Tiere selbst haben tüchtig bezeugt, aber in einer vergänglichen Art und Weise, z.B. indem sie sich widersetzten oder starben. Es müssen also menschliche Dokumente verwendet wer-den.“144

Eine Strategie, um der Sprachlosigkeit der Tiere im Krieg zu entgegnen, wäre eine Sammlung an verschiedenen Quellen und Quellengattungen zur gleichen Forschungsfrage zusammenzutragen, wie es bspw. Steinbrecher als Möglichkeit vorschlägt145 oder Winfried Schulze als Notwendigkeit sieht: „Wenn man die ‚Schwelle der Geschichtsfähigen‘ tatsächlich weiter nach ‚unten‘ absenken will, dann führt kein Weg an einer möglichst weitausgreifenden Quellensuche vorbei.“146 Wie be-reits erwähnt und durch eigene Nachforschungen bestätigt147, lassen sich tatsächlich in ver-schiedensten Quellenarten tierliche Spuren finden, so auch für die historiographische Kategorie Krieg. So zeugen bspw. zahlreiche Bild-, Text-, Ton-, Film-und Sachquellen von der Präsenz tier-licher Lebewesen in Militär und Krieg. Jede dieser Quellen kann durch eine Relektüre den Tieren darin eine Stimme geben.

Auf unzähligen Bildern148 (nicht nur) aus den beiden Weltkriegen sind Tiere in verschiedenster Weise und unterschiedlichsten Situationen präsent.

144 ebd., S. 33

145 Steinbrecher, In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, S. 278

146 Schulze, Winfried (Hg.): Ego-Dokumente, Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 25f.

147 [Sowohl im Militärbundesarchiv in Freiburg, dem Bundesarchiv in Berlin, im Bildarchiv der Österrei-chischen Nationalbibliothek Wien, dem National Archives and Records Administration in Washington, D.C. oder dem The National Archives in London ließen sich vor Ort oder über den Online-Katalog vielfältige und zahlreiche tierliche Spuren in den Quellen der beiden Weltkriege finden.]

148 [Bilder hierzu lassen sich bspw. im Archiv des Imperial War Museum London oder der Österreichischen Nationalbibliothek Wien finden; Zur Möglichkeit einer Nutzung von Tierdarstellungen in den

Human-(Volks-)Deutsche Soldaten mit Stadttauben, während der Besatzung Sarajevos (WKII, verm. 1943), Quelle: Archiv des Autors

Britische Soldaten mit Kaninchen und Geflügel in einem im-provisierten Käfig. Davor ein Topf, voll mit Eiern. Nähe Al-bert (WKI, 1918), Quelle: Imperial War Museum (Q 10956)

32 In Propagandafilmen und Tonaufnahmen werden sie auf beiden Kriegsseiten menschlich in Szene gesetzt und allerlei Ausrüstungs- und Alltagsgegenstände zeugen davon, dass Tiere im Krieg an-wesend waren bzw. in einem (wie auch immer gearteten) Verhältnis zu den Menschen darin stan-den.

Noch mehr non-human animals lassen sich in den Akten der (Militär-)Archive ausmachen – von Taubennachrichten über Pflegehinweise zu Pferden oder „Bauanleitungen“ zu tierlichen Bomben und Waffen (bspw. Fledermaus- und Katzenbomben149). An Quellenmaterial fehlt es also, wie generell bei der Spurensuche einer Tiergeschichte150, auch auf diesem Themengebiet nicht.

Eine Animate History hat allerdings das Anliegen, Tiere als eigenständige lebende Wesen, als historische Aktanten einer (Kriegs-)Tiergeschichte auszumachen. Der historiographische Blick richtet sich (bei einem handlungsorientierten Ansatz) daher – unter Rückgriff auf Latour - auf tierliche Aktanten in einem Kollektiv. Demgemäß auf Tiere, die sich in einer wechselseitig beein-flussenden Beziehung zu den menschlichen Kriegsteilnehmern befinden und somit Agency besit-zen. Es stellt sich also nicht das Problem eines Quellenmangels, sondern vielmehr die Frage, in welchen Hinterlassenschaften der (kriegerischen) Vergangenheit die tierlichen Aktanten in einer Beziehung mit Menschen zu Tage treten. Um die Tier-Mensch-Kollektive aufspüren und die Handlungsmacht der involvierten Entitäten beurteilen zu können, helfen nach meinem Dafürhalten daher die Zeugnisse der Kombattanten am besten weiter.151 Anders als bspw. Dokumente aus (Militär-)Archiven, die sehr oft (nur) auf organisatorische Fragen rund um die Nutzung und den Nutzen der Tiere eingehen – dabei wenig über Lebewesen aussagen, selbst über Menschen

Animal Studies vgl. Hengerer, Mark: Tiere und Bilder, Probleme und Perspektiven für die historische Forschung aus dem Blickwinkel der frühen Neuzeit, in: Krüger, Gesine; Steinbrecher, Aline; Wischer-mann, Clemens (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 20141, S. 35–

58 ]

149 [Im Zweiten Weltkrieg wurde von der US-Armee die sog. „Bat Bomb“ entwickelt, die im Krieg gegen Japan eingesetzt werden sollte, jedoch nie zum Einsatz kam; Vgl. Lubow, Robert E.: The war animals, Garden City 1977; Sowohl aus dem Mittelalter, als auch für die Neuzeit sind Quellen vorhanden, die von Katzen mit Spreng- oder Brandsätzen auf dem Rücken berichten, vgl. Helm, Franz: Feuer Buech, durch Eurem gelertten Kriegs verstenndigen mit grossem Vleis auss villen Probiertten Kunsten 1584, S. 137r, abrufbar unter http://dla.library.upenn.edu/dla/medren/pageturn.html?id=MED-REN_1580451&rotation=0&currentpage=277, Stand 08.01.2015]

150 Vgl. Steinbrecher, In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede, S. 277

151 [Auch Éric Baratay hält Zeugnisse von Kombattanten am erfolgversprechendsten für seinen, einen an-deren, aber sehr vielversprechenden ethologischen Ansatz. Baratay geht es in erster Linie darum, sich in den Standpunkt der Tiere hineinzuversetzen und durch „Umdrehung“ der Ego-Dokumente und der Verflechtung derer Hinweise mit zoologischen Erkenntnissen, die Erlebnisse der Tiere im Krieg zu be-greifen. Der Mensch rückt dabei relativ weit aus dem Fokus der Untersuchung. Baratays Anliegen ist es, „die physiologischen, psychologischen und verhaltensbedingten Weisen, das Kriegsgeschehen zu erleben und zu empfinden.“ Vgl. Baratay, Geschichtsschreibung von Seiten der Tiere, S. 32ff.]

33 und umso weniger über Tiere - , sprechen solche Erlebnis-Dokumente ergiebiger von Tieren und Menschen. Baratay warnt davor, den Aussagen dieser Dokumente voreilig eine „deplatzierte oder projizierte Sensibilität“ vorzuwerfen und sie deshalb zu verwerfen, denn es gelte vielmehr zu be-denken, dass sie eine (vergangene) Wirklichkeit betrachten und schildern. Gewiss ist auch hier, wie bei allen Zeugenaussagen, im Hinterkopf zu behalten, dass diese Wirklichkeit immer unter dem Einfluss des jeweils eigenen kulturellen und persönlichen Hintergrunds – mal mehr oder we-niger gut – geschildert wurde. Darüber hinaus muss dem Untersuchenden bewusst sein, dass sich die Menschen nur für einzelne Spezies (mit einem kulturell privilegierteren Status) und meist nur für einige Aspekte interessierten – von denen sie wiederum nur das behalten haben, was sie sehen, fühlen oder hören konnten bzw. wollten. Verzerrungen bleiben daher durch individuelle, soldati-sche Vorstellungen, Interessen und Gewissheiten über eine Spezies, eine Gesellschaft, eine Epo-che nicht aus – nur untersEpo-cheiden sich diese Probleme für die Tiergeschichtsschreibung nicht ele-mentar von der einer menschlichen Geschichtsschreibung.152 Geschichtswissenschaftler sind, in Bezug auf solche Zeugnisse, darauf bedacht, sich den Erfahrungen und Einbildungen der Soldaten anzunähern. Hierfür werden die Dokumente in der Regel nach Diskrepanzen zwischen den Zeu-genaussagen hinsichtlich Situation, Milieus, Meinungen oder der Natur der Dokumente durch-leuchtet. Im Anschluss lässt sich die Frage nach dem Wert der Quelle(n), in diesem Fall der Er-zählungen, beantworten. Für Baratay ist die Frage nach diesem Wert für die Tiere irrelevant, da es in Bezug auf sie nach diesen Kriterien kaum Unterschiede gebe.153 Insofern die Perspektive der Tiere unter zoologischen bzw. ethologischen Aspekten im Vordergrund der Untersuchung solda-tischer Zeugnisse steht - wie bei Baratay der Fall - und somit das tierliche Erleben des Krieges, kann die übliche Wertabschätzung der Zeugnisse tatsächlich vernachlässigt werden. Sobald aber der Mensch hinter oder in der Quelle einen Teil des Untersuchungsgegenstandes – im vorliegenden Fall einer Tier-Mensch-Beziehung - darstellt, so scheint mir eine Kontextualisierung und Einschät-zung der Zeugnisse dennoch bis zu einem gewissen Grade notwendig und sinnvoll.

152 ebd., S. 33ff.

153 ebd., S. 34

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„M[S]eine Erlebnisse im Kriege“154 – Tier und Mensch in Selbstzeugnissen

Welche Zeugnisse Aussagen über mögliche Tier-Mensch-Beziehungen und die Handlungsmacht der involvierten Tiere im kriegerischen Kontext am gewinnbringendsten treffen können, habe ich in den vorangegangenen Zeilen bereits erwähnt, Zeugnisse der Kombattanten. Was ist damit nun genau gemeint und warum scheinen sie für die vorliegende Fragestellung am geeignetsten?

Zeugnisse von Kombattanten (Mit-Kämpfer, Kampfteilnehmer laut Duden; im Grunde ge-nommen also Soldaten) kommen dann auf uns zu, wenn einzelne von ihnen während oder im Nachhinein (in der Regel) aus eigenem Antrieb über ihre Erlebnisse im Krieg Zeugnis ablegen.

Mit diesen schriftlichen (oder mündlichen) Zeugnissen der Soldaten sind also in erster Linie Kriegstagebücher, Tatsachen-, Reise- und Erlebnisberichte, Zeugenaussagen, Feldpostbriefe oder Autobiographien bzw. Memoiren gemeint, die sich unter dem Begriff der Selbstzeugnisse zusam-menfassen lassen oder, dehnt man sie auf unfreiwillige Aufzeichnungen aus, unter dem Begriff Ego-Dokumente155. Letzterer Quellenbegriff wurde jedoch, aufgrund seiner Weite - der Vermi-schung von freiwilligen und unfreiwilligen Aussagen - und durch die (mit dem Terminus Ego verbundene Assoziation Freud’scher Begrifflichkeit) möglicherweise geweckten Erwartungen an die Quellen, die diese kaum befriedigen können, von der Forschung nicht übernommen.156 Der

154 [Mit „Meine Erlebnisse im Kriege 1914.1915 auf feindlichem Boden“ betitelte der Rittmeister Schnitzer den ersten Band seiner Kriegstagebücher aus den Jahren 1914-1916, vgl. Schmidt, Jürgen W.; Schnitzer, Bernd (Hg.): Militärischer Alltag und Pressearbeit im Großen Hauptquartier Wilhelms II. - die Gazette des Ardennes, Die Kriegstagebücher des Rittmeisters Fritz H. Schnitzer (22.9.1914-22.4.1916), Berlin 20141, S. 29; Der Kriegsteilnehmer Oswald Döpke gab seinen Erlebnisbericht den Untertitel „Meine grotesken Kriegserlebnisse 1942-1945“, vgl. Döpke, Oswald: Ich war Kamerad Pferd, Meine grotesken Kriegserlebnisse 1942 - 1945, Berlin 2004]

155 [Ein Neologismus von Jacques Presser im Zusammenhang mit Erfahrungen und Erzählungen von Ho-locaustüberlebenden; definiert wurde der Begriff „Ego-Dokumente“ durch Winfried Schulze wie folgt:

„Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagepartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Ge-meinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Syste-men und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuell-Syste-menschliches Verhalten rechtferti-gen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlerechtferti-gen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.“ Vgl. Schulze, Winfried: Ego-Dokumente, Annäherung an den Men-schen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Schulze, Winfried (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11–30, S. 28

; Andreas Rutz beschreibt Ego-Dokumente als Zeugnisse der Mentalitätsgeschichte ihrer Zeit, da die

„in ihnen entwickelten Ich-Konstruktionen immer in den Grenzen des in einer Epoche Denk- und Emp-findbaren“ ablaufen. Vgl. Rutz, Andreas: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2), 2002, 18]

156 ebd., 4; Vgl. Ulbrich, Claudia; Medick, Hans; Schaser, Angelika (Hg.): Selbstzeugnis und Person, Trans-kulturelle Perspektiven, Köln, Weimar, Wien 2012, S. 2f.; sowie Greyerz, Kaspar von: Ego-Documents, The Last Word?, in: German History 28 (3), 2010, S. 273–282, S. 281

35 Vorteil dieses weiten Quellenbegriffes, auch „jene sozialen Schichten in der Geschichte, die übli-cherweise nicht zu denen gehörten, die sich häufig artikulierten, sondern die schweigende Masse bildeten“ aufnehmen zu können (bspw. die vermeintlichen Hexen durch Hexenprozess-Akten), geht allerdings durch eine Begrenzung auf Selbstzeugnisse verloren.157 Für eine Animate History scheint also, da gerade sie eine Geschichtsschreibung einer solchen schweigenden Masse zum Ziel hat, das Ego-Dokument als Quellengruppe gewinnbringender. Für die hier verwendeten Quel-len reicht hingegen zunächst die Festlegung auf Selbstzeugnisse als QuelQuel-lengattung, da die ge-suchten Information vermutlich am ehesten in den genannten Zeugnissen der Kombattanten zu finden sein sollten. Wichtig ist dabei die Voraussetzung, dass Selbstzeugnisse über den Tellerrand des Ichs hinausreichen. So ist auch die neuere Selbstzeugnisforschung zu der Erkenntnis gelangt, dass die Bedeutung der Selbstzeugnisse nicht nur in einer Geschichte des Selbst bzw. Individuali-tät liegt, sondern dass Selbstzeugnisse auch immer Zeitzeugnisse sind,

„die direkt oder indirekt Bezug nehmen auf das gesellschaftliche, kulturelle und politische Umfeld der Zeit, in der sie verfasst wurden und in der ihre Verfasserinnen und Verfasser schrieben und handelten. Sie führen über die ‚Horizonte des Individuellen‘ hinaus und er-möglichen, neue Sichtweisen auf die untersuchten Gesellschaften zu entdecken.“158

Die Historikerin Benigna von Krusenstjern unterscheidet die Selbstzeugnisse, die sie als Teil-menge der Ego-Dokumente auffasst, in vier Typen mit zahlreichen Varianten und Abstufungen.

Typ A versammelt egozentrische Zeugnisse mit zentralem und mehrheitlichem Bezug auf das Ich.

Dieser Ich-Bezug macht den überwiegenden Teil des Inhalts eines Textes aus. Typ B bezeichnet Texte, in denen das Ich über sich selbst berichtet, aber auch darüber, was es interessiert, beschäf-tigt und berührt. Dazu gehören selbsterlebte bzw. selbstbeobachtete Ereignisse ebenso wie solche, von denen das Ich nur durch Lektüre oder Hörensagen Kenntnis bekommen hat. In der dritten Variante - Typ C - stehen diese „Anteile von Welt“ im Vordergrund, während die „Anteile vom Ich“ dahinter zurücktreten; Typ D befindet sich, so von Krusenstjern, bereits jenseits der Grenze von Selbstzeugnissen, da hier – bei formaler und inhaltlicher Nähe zu Typ C - kein explizites Selbst mehr wahrzunehmen ist (daher eher ein Zeitzeugnis). Stattdessen erscheint ein implizites Ich (bspw. ein Stadtchronist).159 Die in dieser Arbeit zum Tragen kommenden Zeugnisse

157 Schulze, Ego-Dokumente, S. 13 u. 21

158 Ulbrich, Medick, Schaser, Selbstzeugnis und Person, S. 5

159 Krusenstjern, Benigna von: Was sind Selbstzeugnisse?, in: Historische Anthropologie 2 (3), 1994, S. 462–471, S. 464f.

36 sen sich nach von Krusenstjern dementsprechend dem Typ B (und C) der Selbstzeugnisse zuord-nen. Denn der Quellenkorpus dieser Analyse setzt sich aus Kriegstagebüchern160, Feldpostbrie-fen161 und Tatsachen- bzw. Erlebnisberichten162 zusammen, in denen das Ich – in der Regel Kom-battanten - über sich selbst und das was es interessiert, beschäftigt und berührt, berichtet. Die Kriegsteilnehmer erzählen und schreiben von ihren selbsterlebten bzw. selbstbeobachteten Ereig-nissen, ihren Erwartungen, Ängsten, Hoffnungen, von Leid und Freud mit und in ihrer Umwelt. In dieser (Kriegs-)Umwelt - „die den menschen umgebende welt“163 – stehen die Autoren der Selbst-zeugnisse in reziproken, mal mehr oder weniger festen bzw. fluktuierenden Kollektiven mit ebenso unterschiedlichen Beziehungen. Die sich überschneidenden Kollektive der Kriegsteilnehmer sind vielfältig und je nach Situation unterschiedlich präsent und mit Zusammengehörigkeitsgefühl ver-sehen – Volk, „Rasse“, soziale Klasse, Armee, Einheit, Familie, und viele weitere. Innerhalb (und außerhalb) dieser Kollektive bestehen wiederum die verschiedensten Beziehungsformen zu den einzelnen Aktanten dieser sozialen Gebilde. Die Kombattanten der Selbstzeugnisse berichten, mal mehr oder weniger direkt bzw. bewusst, in ihren Schilderungen von einem Netzwerk aus Akteuren bzw. Aktanten indem sie sich befinden und sich gegenseitig beeinflussen – um es mit Latour aus-zudrücken. In netzwerkartigen Handlungszusammenhängen agiert das Ich der Quelle mit Kame-raden, Vorgesetzten, Feinden, der Familie in der Heimat und Zivilisten oder/und – Dinge und Tiere als Aktanten miteinbezogen – mit Waffen, Munition, Ausrüstung und pflanzlichen und vor allem auch tierlichen Lebewesen. Welche Vielzahl an tierlichen Lebewesen Teile solcher Netzwerke bilden, konnten unter anderen bereits Pöppinghege164, Baratay165 und Hediger166 eindrucksvoll

160 Schmidt, Schnitzer, Militärischer Alltag und Pressearbeit im Großen Hauptquartier Wilhelms II. - die Gazette des Ardennes; Naujoks, Horst (Hg.): Äskulap in Kurland und Wolhynien, 1914 - 1919, Feld-postbriefe und Tagebuchseiten von Hans Naujoks, kgl. preuss. Feldunterarzt, Münster 2012; Köbele, Hermann: Kriegstagebuch, Frankreich, 20.5.-29.10.1917 in: europeana1914-1918.eu, <http://www.eu-ropeana1914-1918.eu/de/contributions/331>, Stand: 18. Januar 2015; Wisthaler, Sigrid: Karl Außer-hofer - das Kriegstagebuch eines Soldaten im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 20101

161 Baehr, Walter (Hg.): Kriegsbriefe gefallener Studenten: 1939 - 1945, Tübingen 1952; Naujoks, Äskulap in Kurland und Wolhynien, 1914 - 1919; Ulrich, Bernd; Ziemann, Benjamin: Frontalltag im Ersten Weltkrieg, Wahn und Wirklichkeit : Quellen und Dokumente, Frankfurt am Main 1994

162 Döpke, Ich war Kamerad Pferd; Franze, Herbert: Kriegskamerad Pferd, Sie dienten treu litten und star-ben - wofür?, Berlin 20011; Norman, Hippolyt v. (Hg.): Kriegskamerad Pferd, Kriegsteilnehmer erzäh-len Erlebnisse mit Pferden aus dem Großen Krieg, Berlin 1943 (Erstausg. 1938)3; Stackelberg, Karl Georg v.: Reiter vorwärts!, Ein Tatsachenbericht vom Kampf u. den Taten e. Reiterdivision während d.

Krieges gegen Frankreich, Berlin 1942; Theuerkauff, Johannes (Hg.): Tiere im Krieg, Berlin 1932;

163 [Definition des Begriffs Umwelt nach Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1838-1961 (23), Sp. 1259]

164 Pöppinghege, Tiere im Krieg; Pöppinghege, Rainer: Tiere im Ersten Weltkrieg, Eine Kulturgeschichte, Berlin 20141

165 Baratay, Éric: Bêtes des tranchées, Des vécus oubliés, Paris 2013

166 Hediger, Ryan (Hg.): Animals and war, Studies of Europe and North America, Leiden 2013

37 zeigen. Die Art(en) dieser Tier-Mensch-Beziehungen und die Wirkungsmacht der Tiere innerhalb dieser Beziehungen herauszufinden bzw. einzuschätzen, das soll die Analyse der Quellen leisten.

Daher fiel die Wahl auf Selbstzeugnisse – auf Feldpostbriefe, Kriegstagebücher und Erlebnisbe-richte.

„Der Krieg ist der Vater […] des Tagebuchschreibens“167 - Merkmale der Selbstzeugnisse Als Voraussetzung, um mit diesen Quellen arbeiten zu können, scheint eine kurze Vorstellung, der sich doch unterscheidenden Selbstzeugnisse, angebracht.

Feldpostbriefe

Unter den Selbstzeugnissen des Krieges kommt, rein quantitativ gesehen, der Feldpost, im Ver-gleich zu den Tagebüchern und Erlebnisberichten, eine gewichtig(er)e Rolle zu. Während des ge-samten Kriegsverlaufes des Ersten Weltkrieges wurden ca. 28,7 Mrd.168 Feldpostbriefe zwischen Front und Heimat verschickt – und das allein auf deutscher Seite. Auch das (deutsche) Feldpost-aufkommen während der Kriegszeit von 1939 bis 1945 kann - zwar nur ungenau zu beziffern - mit rund 30 bis 40 Mrd.169 Sendungen angenommen werden. Die Briefkorrespondenz zwischen Heimat und Front bot den Soldaten in erster Linie die Möglichkeit, mit ihren Angehörigen in Kon-takt zu bleiben und sie – soweit die Zensur dies zuließ – über den Verlauf, ihre Erlebnisse und den Alltag an der Front zu unterrichten. Diese Alltagskommunikation war lebensnotwendig, sie leistete eine regelmäßige Bestätigung der eigenen Identität. Wegen des Postkartenformats waren diese

„Briefe“ jedoch sehr kurz und - je nach Regiment, Einsatzort und Art des Einsatzes - auch sehr unterschiedlich. Ein Soldat des Ersten Weltkrieges, der während des Stellungskrieges in Verdun in einem Schützengraben des insgesamt 40.000 km langen Grabensystems im Schlamm verharren

167 Gassmann, Michael: Dann kam alles anders als geplant, Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen ist ein Erinnerungsort für vergessene Biographien, in: FAZ, 4. Dezember 2012 (Nr. 282), S. 44

168 Vgl. Ulrich, Bernd: Die Augenzeugen, Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 19971; Buchbender, Ortwin; Sterz, Reinhold: Das andere Gesicht des Krieges, Deutsche Feldpostbriefe, 1939-1945, München 1982, S. 13; sowie Schellack, Fritz: Der Kriegsalltag rheinhessi-scher Soldaten im Spiegel von Feldpostbriefen, in: Mainzer Geschichtsblätter, Veröffentlichungen des Vereins für Sozialgeschichte Mainz e.V. (14), 2008, S. 61–78

169 [Über die Anzahl der beförderten Sendungen während des Zweiten Weltkrieges existieren unterschied-liche Angaben, die deutlich voneinander abweichen. Diese bewegen sich zwischen 28 und über 40

169 [Über die Anzahl der beförderten Sendungen während des Zweiten Weltkrieges existieren unterschied-liche Angaben, die deutlich voneinander abweichen. Diese bewegen sich zwischen 28 und über 40