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Joachim Scharloth. 2005. Sprachnormen und Mentalitäten. Sprachbewusstseins- geschichte in Deutschland im Zeitraum von 1766 und 1785 (Reihe Germanisti- sche Linguistik 255). Tübingen: Niemeyer. x, 571 S.

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Joachim Scharloth. 2005. Sprachnormen und Mentalitäten. Sprachbewusstseins- geschichte in Deutschland im Zeitraum von 1766 und 1785 (Reihe Germanisti- sche Linguistik 255). Tübingen: Niemeyer. x, 571 S.

Stefaniya Ptashnyk Goethe-Wörterbuch

Frischlinstr. 7 D-72074 Tübingen ptashnyk@quest.uni-tuebingen.de

In den letzten Jahren hat sich innerhalb der germanistischen Sprachge- schichte ein Zweig ausgebildet, den man als kulturanalytisch charakterisie- ren könnte: Sprachhistorische Fragen und linguistische Methoden werden dazu benutzt, um Erkenntnisse über die Kultur und Gesellschaft vergan- gener Epochen zu gewinnen. In diesem Forschungskontext steht die Dis- sertation von Joachim Scharloth, in der untersucht wird, wie sich das me- tasprachliche Wissen eines Individuums oder einer sozialen Gruppe historisch herausbildet. Mit diesem Thema greift der Autor die bisher in der internationalen Linguistik unzureichend erforschte Frage nach Genese und Traditionen von Sprachbewusstseinsinhalten einer Sprechergemein- schaft auf und bietet mittels kulturanthropologisch fokussierter Analysen einen Einblick in die mentalitären Gewohnheiten in Deutschland im 18.

Jahrhundert.

Die Studie beschäftigt sich mit der Rekonstruktion des Denkens über Sprache in der „Adelung-Zeit“, deren zeitliche Grenzen einerseits vom Todesjahr des Leipziger Poetologen und Sprachkundlers Johann Chris- toph Gottsched 1766 und andererseits dem Erscheinungsjahr von Johann Christoph Adelungs letztem bedeutenden Werk „Über den deutschen Styl“ 1785 markiert sind. Sprachhistorisch wird diese Periode mit der ein- heitlichen Kodifizierung einer schriftsprachlichen Norm des Neuhoch- deutschen identifiziert, begleitet durch Reflexionen über die Sprachnor- mierung und darüber, was Hochdeutsch sei. Entsprechend erfolgt die thematische Fokussierung der Studie auf die Debatte um die Norm der neuhochdeutschen Schriftsprache und ihre gesellschaftlichen und kultur- geschichtlichen Bedingungen.

Die für die Untersuchung notwendige Verknüpfung mehrerer For- schungskonzepte und -methoden entwirft der Autor im ersten Kapitel

„Sprachbewusstsein und Mentalitätsgeschichte“. Das theoretische Fun- dament stecken die Theorien der Wissenssoziologie und des kulturellen Gedächtnisses ab, die sich bei der Erklärung der Genese des metasprach- lichen Wissens als fruchtbar erweisen.

Das Konzept der Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann beruht auf der Annahme, dass das Wissen auf der Basis eines

ZRS, Band 1, Heft 1

© Walter de Gruyter 2009 DOI 10.15/zrs.2009.021

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Kernbereichs alltagsweltlicher unhinterfragter Überzeugungen (Mentalitä- ten) entsteht. Diese Mentalitäten – verstanden als Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wollens und Sollens in einer Gruppe – prägen das soziokulturelle Handeln und setzen zugleich die Grenzen für die Entfal- tung des individuellen und gesellschaftlichen, darunter auch des sprachli- chen Wissens. Aus dem typischen Handeln der Mitglieder einer Gesell- schaft werden somit Bewusstseinsinhalte rekonstruierbar. Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses geht von der Grundannahme aus, dass Erinne- rung ein soziales Phänomen ist, das in Ritualen und in der Pflege kanoni- scher Texte konstruiert wird und Schemata zur Wissensorganisation und Bewertung kultureller Entitäten bereitstellt.

Die Verknüpfung der wissens- und gedächtnistheoretischen Ansätze schafft einen produktiven Rahmen für die Rekonstruktion jenes mentalitä- ren Kernbereichs, der erklären soll, warum das Sprachbewusstsein – defi- niert als „die Gesamtheit des metasprachlichen Wissens eines Individuums oder (hypostasierend) einer Gruppe“ (S. 19) – zu einer bestimmten Zeit innerhalb einer bestimmten Gruppe eine bestimmte Ausprägung erhält.

Das Denken über Sprache wird dabei als ein soziales Konstrukt gesehen, das sich nicht aus den Qualitäten der Sprache ergibt, sondern mit dem Denken über andere kulturelle Phänomene eng verbunden ist.

Die Zusammensetzung des Quellenkorpus trägt der Tatsache Rech- nung, dass Sprachnormen im 18. Jahrhundert in einem weiten Feld ver- handelt wurden. Das Korpus umfasst hauptsächlich aus der Adelung-Zeit stammende sprachkundliche, literarische und populär-publizistische Texte mit sprachbewusstseinsgeschichtlichen Inhalten: Grammatiken, Sprach- lehrwerke, Darstellungen der allgemeinen und der deutschen Sprachge- schichte, sprachkundliche Zeitschriften und Ausarbeitungen zur allgemei- nen Stellung des Deutschen, Rezensionen sprachkundlicher Werke, kulturgeschichtliche Darstellungen, literaturtheoretische Abhandlungen, Ästhetiken, Rhetoriken sowie literarische Werke, die explizit oder implizit das Wesen der Sprache und ihre Norm thematisieren etc. Anders als in früheren einschlägigen Arbeiten, die sich meist auf die häufig zitierten Klassiker der Sprachkunde wie Gottsched, Adelung oder (seltener) Hey- natz stützen, werden von Scharloth bekannte Autoren wie Klopstock, Nicolai und J. M. R. Lenz, aber auch weitgehend unbekannte und bis heu- te nur wenig rezipierte Publizisten und Sprachkundler wie Nast, Fulda, Hartmann, Dinkler, Hemmer, Braun, Deust, Miller oder Wezel in die Analyse einbezogen. Bei der Auswertung des Untersuchungskorpus orien- tiert sich der Autor an folgenden inhaltlichen Leitfragen: (a) Welche deut- sche Varietät sollte den Status der Leitvarietät haben? (b) Sollte das Hoch- deutsche die Sprache einer Provinz oder eine Synthese aus dem Besten

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aller Dialekte werden? und (c) Welches soll das leitende Prinzip bei der Normierung sein?

Neben dem ‚sprachbewusstseinsgeschichtlichen‘ arbeitet Scharloth auch mit einem ‚mentalitätsgeschichtlichen‘ Korpus, das der Erforschung des metasprachlichen Interdiskurses, kultureller Stereotype, der verbreite- ten Kollektivsymbole und somit der Beschreibung der Mentalität dient.

Dieses Korpus umfasst drei Arten von Texten: (1) kulturhistorische und literarische Schriften mit der Funktion fundierender Erinnerung, in denen das Bild der germanischen Zeit, des Mittelalters und des sogenannten

„gotischen Zeitalters“ entworfen wird; (2) Quellen, die sich mit dem lite- rarischen Kanon im weitesten Sinne beschäftigen (z. B. Kretschmanns Übersetzung der „Germania“ von Tacitus; Herders „Shakespeare“-Essay u. a.; Zeitschriften und Rezensionsorgane wie „Deutsche Chronik“, „All- gemeine deutsche Bibliothek“ usw.); (3) satirische Texte verschiedener Gattungen (Dramen, Romane, Gedichte, physiognomische Texte u. a.), aus denen sich typische Verhaltensmuster der untersuchten Epoche er- schließen lassen. Ferner berücksichtigt Scharloth auch „nichtsprachliche Überreste“ in Form zeitgenössischer Druckgraphiken satirischen Inhalts.

Dieses Korpus dient dann der Analyse des Wortgebrauchs, Argumentati- ons- und Begründungsschemata, diskurssemantischer Grundfiguren, der Topoi, Metaphern, Vergleiche etc. (S. 86f.).

Im Kapitel 2 geht Scharloth zur empirischen Analyse über. Er befasst sich zunächst mit der komplexen mentalitären Verschränkung von Spra- che, Denken und Kultur im 18. Jahrhundert und zeigt dabei, dass Sprache zu einem wesentlichen Faktor der kulturellen Entwicklung, der Lebens- und Denkweise eines Volkes stilisiert wurde. Da im letzten Drittel des 18.

Jahrhunderts der Begriff „Cultur“ – anders als heute – einen Prozess der Erkenntniszunahme und der Sittenverfeinerung meinte (S. 131), verlieh dies der Diskussion um die Sprachnorm eine besondere Prägung. Die Kultivierung der deutschen Sprache war kein Selbstzweck, mit ihr inten- dierte man einen positiven kulturellen Wandel und die „sittliche Verfeine- rung“ der Sprecher.

Der eigentlichen Sprachnormendebatte und ihrer argumentativen Strukturierung ist das Kapitel 3 gewidmet. Ausschlaggebend für die De- batte erwies sich die Frage nach den Prinzipien der Sprachnormierung und danach, was als Hochdeutsch grundsätzlich anzusehen sei. Wie Scharloth deutlich zeigt, waren für die Formierung des Normendiskurses zwei Kon- fliktlinien von entscheidender Bedeutung. Die erste betraf das Grundprin- zip für die Festlegung von Sprachnormen, nämlich ob hierbei der Sprach- gebrauch mit seinen Konventionen (anomalistisches Argument) oder der

„Sprach-Schatz“ und seine Regelhaftigkeit (analogistisches Argument) leitend sein sollten. Die zweite Konfliktlinie ergab sich aus dem Disput

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um die Leitvarietät für den Ausbau und die Normierung des Deutschen, nämlich ob das Ostmitteldeutsche oder das als einheitlich imaginierte Oberdeutsche diese Funktion übernehmen sollte. Mit dieser Frage hing eng die Diskussion zusammen, ob Hochdeutsch überhaupt aus einer ein- zigen deutschen Varietät hervorgehen oder vielmehr als ein Hybrid aus dem Besten aller Dialekte entstehen soll (S. 176f.).

Anders als frühere Arbeiten zur Frage „Was ist Hochdeutsch?“ sieht Scharloth den in den frühen 1780er Jahren ausgetragenen Streit zwischen Adelung einerseits und Biester, Wieland und Rüdiger andererseits als eher marginal an und fokussiert seine Aufmerksamkeit auf den Konflikt zwi- schen dem Leipziger Sprachkundler Adelung und seinen Anhängern („dominanter Diskurs“) und den schwäbischen Sprachkundlern Fulda, Nast und Hartmann („Gegendiskurse“).

Den dominanten Diskurs gliedert Scharloth in zwei auf den ersten Blick grundsätzlich verschiedene Positionen. Die erste beruhte auf der Überzeugung, bei der Formulierung der Sprachnorm sei der Dialekt der kultiviertesten Provinz zu favorisieren. Der Vorrang wurde dem Ober- sächsischen (Meißnischen) mit seiner vorbildlichen Aussprache einge- räumt (so z. B. Gottsched, Braun, Hemmer, Dinkler oder Adelung), da Obersachsen im 18. Jahrhundert als Zentrum der Wissenschaft und Kunst angesehen wurde. Zugleich war Hochdeutsch für die Vertreter des domi- nanten Diskurses identisch mit der Sprache der oberen sozialen Klassen.

Die zweite Position erklärte, Hochdeutsch sollte ein hybrides Konstrukt sein, in dem sich alle Mundarten Deutschlands wiederfinden (vgl. etwa Faber, Miller, Wezel, Wieland, Biester, Rüdiger). Die Regeln des Hoch- deutschen wären demnach aus den Werken der besten Schriftsteller abzu- leiten und nach deren Vorbild auszubauen. Diese letztere These findet im dominanten Diskurs im Laufe der Zeit immer mehr Anhänger. Hinsicht- lich der Methode bei der Findung sprachlicher Normen herrschte ein Konsens darüber, dies solle das Prinzip des durch Analogismus gemilder- ten Anomalismus sein. Nur dort, wo der Sprachgebrauch uneinheitlich sei, müsse das Prinzip der Analogie entscheiden.

Die Vertreter der Gegendiskurse sahen für die Sprachnormierung fol- genden Weg vor: Man solle den gesamten Sprachschatz des Deutschen, also alle historischen und gegenwärtigen Varietäten nutzen, um aus ihrem Vergleich die Sprachregeln zu abstrahieren. Die „Sprachrichtigkeit“ war das zentrale Argument der Gegendiskurse; jede Veränderung der Sprache, die ihren inneren Regeln nicht gemäß sei, könne sich negativ auf ihre Fä- higkeit zur Wirklichkeitsabbildung auswirken. Mit der Entscheidung für den Analogismus hing die Ablehnung des Meißnischen als Leitvarietät zusammen, denn dieses galt als ein gegen die Gesetze der Richtigkeit und

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der Reinheit verstoßender Sprach-„Mischling“. Für das Sprachnormie- rungskonzept der Gegendiskurse wurden die oberdeutschen Dialekte bevorzugt. Diese hätten ihre ursprüngliche Reinheit, Richtigkeit und Unvermischtheit bewahrt, sie seien „archaisch“ und „unabgeschliffen“

geblieben (vgl. etwa Fulda und Nast). Zudem hätte sich in der Sprache der niederen Schichten, besonders in den Basisdialekten ein ursprüngliches Deutsch erhalten, das bei der Normenformulierung herangezogen werden solle (so Hartmann, Fulda oder Lenz).

Insgesamt macht Scharloth in seiner Arbeit deutlich, dass im unter- suchten Zeitraum die Sprachnormierung ein aufklärerisches Projekt dar- stellte. Man beabsichtigte die Schaffung eines in ganz Deutschland allge- mein verständlichen Idioms, einer Sprache der Künste und Wissenschaften, die der Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter der Bevölkerung dienen könnte. Mit der Normierung des Deutschen wurde die Sprachverbesserung angestrebt, und darin stimmten die domi- nanten und die Gegendiskurse überein. Ebenso übereinstimmend war die Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen der Sprache, dem Den- ken und der kulturellen Entwicklung der Sprachgemeinschaft. Eine elabo- rierte Sprache galt als Abbild einer differenzierten und hoch entwickelten Kultur, eine „raue“ Sprache hingegen als Zeichen für die kulturelle Ein- falt.

Nach der ausführlichen Darlegung der einzelnen Positionen im Sprachnormierungsdiskurs geht Scharloth in Kapitel 4 zu der Frage über, auf welchen mentalitären Dispositionen die aufgezeigten Meinungen fuß- ten. Im Einzelnen geht es hier um folgende zwei Fragen: (1) Welche men- talitätsgeschichtlichen Wurzeln hatte die These vom Vorrang des Meißni- schen im dominanten Diskurs bzw. seine Ablehnung in den Gegendiskursen? Und (2): Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Bewertung der Kultur eines Landes und der Bewertung seiner Sprache?

Für ihre Beantwortung untersucht der Autor die Einschätzung der kultu- rellen Entwicklung ausgewählter deutschsprachiger Länder, und zwar Sachsens, Brandenburgs (einschließlich Berlins) sowie Bayerns, Schwabens und – ergänzend – der Schweiz; die Auswahl der erwähnten Regionen hängt mit den diskursiven Konfliktlinien zusammen.

Die Auswertung der Quellentexte brachte das Ergebnis, dass die Ein- schätzung der Kultiviertheit deutscher Provinzen zweigeteilt war. Wäh- rend Sachsen und Brandenburg im dominanten Diskurs als die fortschritt- lichsten und kultiviertesten Länder galten, wurden die süddeutschen Provinzen als einfach und unaufgeklärt eingeschätzt. Meißen wurde als Deutschlands „Attika“ hoch gepriesen, Schwaben hatte hingegen den Titel eines deutschen „Böotiens“. Da Sprache und Kultur als interdepen- dente Größen interpretiert wurden, schlug sich die vermeintlich kulturelle

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Rückständigkeit Schwabens auch in der diskursiven Geringschätzung seiner Sprache nieder.

In den Gegendiskursen wurde die Kultiviertheit Sachsens zwar einge- räumt, gleichzeitig aber negativ gedeutet. Meißen wurde als „dekadent“

bezeichnet und wegen der Nachahmung französischer Sitten kritisiert;

alles aus Frankreich Stammende erhielt die Attribute schwach, weichlich oder kränklich, während die deutschen Sitten und Qualitäten als stark, fest, groß und gesund bewertet wurden. Neben dieser Argumentations- achse, die Scharloth als „weiblich“ vs. „männlich“ definiert, setzte sich in den Gegendiskursen noch ein weiteres Bewertungsmuster durch, nämlich

„natürlich“ vs. „künstlich“. Während das Deutsche als der Natur gemäß galt, wurde das Französische und damit das von ihm beeinflusste Sächsi- sche als gezwungen und widernatürlich abgewertet.

Neben den Argumentationsmustern analysiert Scharloth auch soziale Kategorisierungen, in denen mentalitäre Gegensätze der Sprachnormen- debatte kulminierten, wie etwa in der Kategorie des „Deutschfranzosen“.

In dieser lächerlichen Figur eines oberflächlichen Schwätzers und Weich- lings, der französische Moden und Verhaltensweisen nachmacht und des- sen Sprachgebrauch mit französischen Wendungen durchsetzt ist, verdich- teten sich die Topoi der Kulturkritik an Frankreich. Verbunden mit dem

„Deutschfranzosen“ ist die Metapher der „Schmetterlingswelt“ mit ihrer durch Witz und Esprit geprägten Kommunikationskultur, in der es wenig auf den Inhalt des Gesprächs, sondern vielmehr auf die Selbstinszenierung der Gesprächspartner ankam. Die Vertreter der Gegendiskurse verwende- ten diese Topoi, um die Kritik am anomalistisch-elitären Sprachnormen- konzept zu begründen. Dies zeigt, dass die Kritik am Sprachnormenkon- zept des dominanten Diskurses wesentlich kultur- und sittenkritisch motiviert war.

Dem verweichlichten Sachsen wurde in den Gegendiskursen das Ide- albild der süddeutschen Provinzen gegenübergestellt, in denen man die Sprache noch in ihrer ursprünglichen Reinheit vorzufinden glaubte. Eine wesentliche Komponente der Sprachnormierungskonzepte der Gegendis- kurse war die Besinnung auf die alten deutschen Sitten, von der man sich einen Beitrag zur sittlichen Erneuerung Deutschlands versprach. Wie Scharloth detailliert in Kapitel 5 zeigt, zielten die Vertreter der Gegendis- kurse darauf ab, die germanische Vorzeit und das Mittelalter als Epochen der deutschen Geschichte zu konstruieren, in denen sich das „wahre, ge- sunde, unvermischte und unverdorbene Urdeutsche“ (S. 478) wieder fin- det, und entsprechend als erstrebenswertes Vorbild der kulturellen Ent- wicklung für die Gegenwart und Zukunft. Es war vor allem die Bardendichtung, die im besonderen Maße das diskursive Bild des Germa- nentums prägte (etwa Gerstenberg, Kretschmann, Klopstock) und es mit

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solchen Eigenschaften wie körperliche Stärke, raue aber unverdorbene Sitten, kriegerisches Wesen, Treue, Ehrlichkeit, Tapferkeit und Freiheits- liebe identifizierte (S. 437ff.). Daneben wurde auch das Mittelalter als Vorbild hinsichtlich der gesellschaftlichen Werte stilisiert. Goethe stellte beispielsweise in seiner Abhandlung „Von deutscher Baukunst“ das starke und raue Gotische dem Verfeinerten, Kranken und Verzärtelten des 18.

Jahrhunderts gegenüber. Die Vertreter der Gegendiskurse forderten, zu den seelischen und sprachlichen Qualitäten der Vorfahren zurückzufin- den, weg von dem „Stand der Weichlichkeit“. Reinheit und Richtigkeit erklärte man zu obersten Prinzipien der Sprachnormierung und die älteren Sprachstufen des Deutschen zum Maßstab.

Das Sprachnormenkonzept der Gegendiskurse rief Kritik im domi- nanten Diskurs hervor. Zum einen wandten sich seine Vertreter gegen den archaisierenden Sprachgebrauch schwäbischer Autoren, gegen Vulga- rismen und Archaismen, die die Texte unlesbar machten (so Nicolai oder Adelung), oder etwa den „Häklinstil“ (Vokalausfall), der nach Meinung der Vertreter des dominanten Diskurses (vgl. Wezel) gegen das Prinzip des Wohlklanges verstieß. Zum anderen richtete sich die Kritik gegen die Stilisierung der Vergangenheit zu einer für die Gegenwart vorbildlichen Epoche und gegen ihre Propagierung als Muster wahrer deutscher Sitt- lichkeit (vgl. etwa Hünlin, Meister u. a.). Die germanische und die mittel- alterliche Zeit wurden als vom Fortschritt überwundene Stufen der Kultur betrachtet (so z. B. der Schweizer Publizist und Popularphilosoph Isaak Iselin), als ungesitteter „Stand der Wildheit“. Entsprechend wertete man die älteren Sprachstufen des Deutschen als defizitär, grob, barbarisch, pöbelhaft ab. Adelung lehnte z. B. die in den Gegendiskursen propagierte

„Natürlichkeit“ als „Wildheit“ und „Barberey“ ab. Das gegenwärtige Hochdeutsch galt den Vertretern des dominanten Diskurses als richtiger und wohlklingender.

Während sich die Gegendiskurse bei der Formulierung ihrer Sprach- und Sittenkritik der sozialen Kategorie „Deutschfranzose“ bedienten, konstruierte der dominante Diskurs die Kategorie des „Genies“ bzw. des

„Kraftgenies“. Dieser soziale Typus lässt sich anhand diskursiver Äuße- rungen (vgl. etwa Cranz, Musäus, Hase, Wezel, Schink u. a.) durch ein festes Stereotypenrepertoire charakterisieren: Anmaßung außerordentli- cher Begabung und Fähigkeiten, Verlangen nach Anerkennung bei gleich- zeitiger Geringschätzung der Mitmenschen, Hochmut, Streit- und Origi- nalitätssucht, Verachtung der Gelehrsamkeit, Mangel an Kultiviertheit und bürgerlichen Tugenden wie Ordnung, Sittsamkeit und Ehrbarkeit. Das Kraftgenie wurde mit bestimmten sprachlichen Verhaltensweisen in Zu- sammenhang gebracht, wie z. B. der Orientierung an oberdeutschen Mundarten und an dem Sprachgebrauch der niederen gesellschaftlichen

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Schichten, der Verwendung von Vulgarismen u. ä., was der dominante Diskurs als sprachlichen Rückfall wertete und zu verhindern suchte.

An dieser Stelle wird deutlich, dass die tiefensemantische Strukturie- rung der Diskurse einen bedeutenden Unterschied aufweist. Während der dominante Diskurs grundlegend durch die semantische Achse „kultiviert“

vs. „ungebildet“ strukturiert war, wurde in Gegendiskursen hinsichtlich der kulturellen Phänomene mittels des semantischen Gegensatzpaares

„natürlich“ vs. „gekünstelt“ argumentiert. Wie Scharloth aufzeigt, lässt sich dieser Gegensatz auf zwei geschichtsphilosophische Konzepte zu- rückführen: den Fortschrittsoptimismus der Spätaufklärung mit seinem Ideal der Perfektibilität einerseits und das zirkuläre Modell vom Aufstieg und Verfall einer Kultur andererseits.

Scharloths Studie überzeugt zweifelsohne durch die Fülle und die Vielseitigkeit des ausgewerteten Materials. Die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus ist meines Erachtens dennoch problematisch, da der Grat zwischen Vielseitigkeit und Inhomogenität sehr schmal ist. Ne- ben sprachreflexiven und journalistischen Texten arbeitet der Autor mit literarischen Quellen, ohne dass die Aussagekraft der fiktionalen Quellen hinreichend reflektiert wird. Die Strukturierung des gesamten Materials in ein mentalitätsgeschichtliches und ein sprachbewusstseinsgeschichtliches Korpus mit einer weiteren Untergliederung wird zwar in dem Theorie- Kapitel ausführlich vorgestellt, sie wird jedoch in dem analytischen Teil nicht transparent. Als LeserIn weiß man stellenweise nicht genau, aus welchem (Teil-)Korpus das gerade zitierte Material stammt bzw. welches Material für die jeweilige Analyse herangezogen wurde. Die Vielseitigkeit des Korpus, die einerseits ein Vorzug der Studie ist, macht auf der ande- ren Seite eine Quantifizierung der Ergebnisse unmöglich, daher muss man sich auf Schätzungen über die Häufigkeit bzw. Dominanz bestimmter Argumentationsmuster verlassen. Die Textinterpretationen fallen hinge- gen sehr ausführlich aus; sie bringen zwar insgesamt sehr spannende Er- gebnisse, machen die Studie jedoch bisweilen etwas langatmig.

Trotz dieser Kritikpunkte hebt sich die rezensierte Arbeit in vielerlei Hinsicht positiv von den bislang erschienenen Untersuchungen zur Sprachbewusstseinsgeschichte ab: durch eine differenzierte theoretische Fundierung, durch Verwendung von Quellentexten jenseits des üblichen Kanons, vor allem aber durch den kulturanalytischen Zugang. So belegt Scharloth in seiner Studie, dass Sprachnormierung kein Prozess war, der rein auf der Analyse sprachlicher Materialien basierte. Vielmehr wird hier dargestellt, durch welche Mechanismen bestimmte Varianten und Varietä- ten auf- oder abgewertet wurden, wie das Denken über die Sprache den ideologisch-sittlichen Konzepten der gegebenen Zeit folgte, in welchem

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Ausmaß außersprachliche Bereiche der Kultur für sprachkundliche Argu- mente instrumentalisiert wurden und wie der gesamte Sprachnormendis- kurs zu einer Debatte um die sittliche Verfassung einer Nation geriet.

Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Ergebnisse von Scharloths Untersuchung mehr als nur Aussagen zur Sprachnormierung zulassen.

Der Autor nimmt eine sprachhistorische Fragestellung zum Anlass, kultu- relle Prozesse im 18. Jahrhundert aufzudecken, und macht dabei deutlich, dass die sprachliche Standardisierung einerseits zwar ein linguistisches Phänomen, andererseits aber – und in noch viel stärkerem Ausmaß – ein soziokultureller Prozess ist, in dem das Selbstverständnis einer ganzen Gesellschaft zum Ausdruck kommt.

Olivier Tache. 2006. Koordination und Subordination. Typologie der Satzarten in Sendschreiben der Zürcher Reformation zwischen 1524-1532. Göppingen:

Kümmerle. 226 S.

Rainer Hünecke Technische Universität Dresden

Institut für Germanistik D-01062 Dresden Rainer.Huenecke@tu-dresden.de

Die Studie von Olivier Tache widmet sich der historischen Syntax des Deutschen zu Beginn des 16. Jahrhunderts – einem Zeitraum, der in der Sprachgeschichtsforschung allgemein als innovationsträchtig betrachtet wird. Am Beispiel der Sendschreiben der Zürcher Reformatoren Heinrich Bullinger, Sebastian Hofmeister und Huldrych Zwingli aus den Jahren 1524 bis 1532 werden die zentralen Schwerpunkte frühneuhochdeutscher Syntaxforschung thematisiert: die Verbstellung, die Junktoren sowie se- mantische und pragmatische Aspekte der frühneuhochdeutschen Syntax.

Der Verfasser verfolgt mit seiner Zielsetzung einerseits theoretische und andererseits systematisch-empirische Absichten. Ausgehend von drei Sprachbeispielen aus dem Untersuchungskorpus wird die Problemstellung entwickelt, ob denn „im Frnhd. die traditionelle, auf syntaktischen und/oder semantischen Kriterien beruhende Unterscheidung zwischen Koordination und Subordination, d. h. zwischen Haupt- und Nebensät- zen, haltbar ist“ (S. 6). Mit dieser Problemstellung werden Fragen aufge- worfen, die zwar nicht nur für die frühneuhochdeutsche Syntax relevant sind, doch für diese bisher entweder gar nicht diskutiert oder aber still-

ZRS, Band 1, Heft 1

© Walter de Gruyter 2009 DOI 10.15/zrs.2009.022

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