Bericht über sprachliche und
volkskundliche Forschungen im Hunzatal
V o n H E R M A N N B E R G E R
Im Rahmen der unter Leitung von J.
SCHNEIDER(München) vom
20. 5.bis 5. 9. 1959 durchgeführten Deutschen KarakorumExpedition 1959, an der acht Personen beteiligt waren und deren Hauptanliegen die Fortsetzung von Arbeiten war, die von einem ähnlichen Unternehmen bereits 1954 begonnen worden waren
1, erhielt ich durch die Unterstützung der Deutschen Forschungs
gemeinschaft die Möglichkeit, weitere Beiträge zur Kenntnis der sprachlichen und volkskundlichen Verhältnisse des Hunzatals zu erarbeiten. Arbeitsge
biet der Expedition waren die zwei islamischen Staaten Hunza und Nager zu beiden Seiten des HunzaFlusses, der etwa 50 km nördlich vom NangaParbat
Massiv in den Indus mündet. Sie haben sich bei der Gründung Pakistans freiwillig dem neuen Staat unterstellt und sind heute bequem mit dem Flug
zeug von Rawalpindi aus zu erreichen, waren aber bis zur Einrichtung des Flugverkehrs nach Gilgit durch die hohen schneebedeckten Berge so abge
schlossen, daß ihre Kultur unvergleichlich altertümliche Züge erhalten konnte.
Die Sprachen des Tals sind das indoarische Shina in der Westhälfte, das in z. T. stärker abweichenden Dialekten auch noch in der gesamten Gilgit Agency, am Indusknie bis Chilas und im Südosten bis an die Grenze von Kaschmir gesprochen wird, und das bislang isolierte, vom Berichterstatter mit dem Baskischen verglichene Burusaski
2, von denen bereits
BAILEY 3und
LORIMER 4Beschreibungen geliefert haben. Über das Volkstum gibt es bisher nur ältere,
1V g l . K . H . P A F F E N , W . PILLEWIZER, H . - J . SCHNEIDER, F o r s c h u n g e n i m H u n z a -
Karakorum. Erdkunde 10. 1956, pp. 1-33.
2 Mittelmeerische Kulturpflanzennamen aus dem Burusaski. MSS 9, pp. 1-33 ; Die
Burusaski-Lehnwörter in der Zigeunersprache. Indo-Iranian Journal 3. 1959, pp. 17-43.
3 T. GRAHAME BAILEY, Grammar of the Shina (Sinä) Language consisting of a
füll grammar, with texts and vocabularies of the main or Gilgiti dialect and briefer grammars (with vocabularies and texts) of the Kohistani, Guresi and Drasi dialects.
London 1924.
4 D. L. R. LORIMER, The Burushaski Language, Vol. I : Introduction and Grammar,
Vol. II : Texts and Translations, Vol. III : Vocabularies and Index. Oslo 1935 (I und II) - 1938 (III).
Anthropos 5 5. i960 43
658 H E R M A N N B E R G E R Anthropos~55. 1960
unvollständige Quellen ; Materialien aus Hunza, die G. BUDDRUSS
1955 auf der von J.
FRIEDRICHgeleiteten Deutschen HindukuschExpedition gesammelt hat, sind noch nicht veröffentlicht
5. Ich verbrachte drei Wochen in Minapin, dem letzten shinasprechenden Dorf auf der NagerSeite, je ein paar Tage in den Residenzen Hunza und Nager, zwei Tage in Mayun, einem ShinaDorf auf der HunzaSeite, sowie vier Tage in Bar, einer abgelegenen ShinaSiedlung nördlich von Chalt, und den Rest der Zeit in verschiedenen Hochlagern, wo ich bei angenehmem Klima und völliger Ruhe meine Texte durchgehen konnte.
Mein Hauptgewährsmann war dabei GHULAM, ein junger Bauer aus Hasanabad, dem ich auch alle anderen Aufzeichnungen vorlegte, bevor ich sie ins Reine schrieb ; daneben bin ich den beiden Miren und anderen Herren am Hof, besonders
SULTAN ALI,dem Headmaster der Baltit School, für wertvolle Aus
künfte verpflichtet. Die Tonbandtexte wurden von den verschiedensten Leu
ten aus allen Bevölkerungskreisen gesprochen.
B u r u s a s k i . Neue Aufschlüsse über diese Sprache, der von vornherein mein Hauptinteresse bei dem Unternehmen galt, gewann ich sowohl durch direktes Abfragen als auch durch Texte, die ich mit meinem Tonbandgerät aufnahm und zum größten Teil an Ort und Stelle transkribieren und mit er
klärenden Anmerkungen versehen konnte. Bei den Texten verfuhr ich so, daß ich jeden, der Lust hatte, in den Apparat sprechen ließ, und die anschließen
de Umschrift und Übersetzung mit dem besonders geeigneten, oben genannten Gewährsmann besorgte. Dadurch war es möglich, die ganze Breite der Über
lieferung zu erfassen, ohne sich von der Intelligenz und rhetorischen Begabung des Einzelsprechers abhängig zu machen. Bei der Thematik der Texte (es sind etwa 50) habe ich mich ganz auf Feen und Geistergeschichten konzentriert.
Auf diese Weise gewann ich nicht nur eine große Menge authentischen Materials über den Volksglauben der Gegend (vgl. den Abschnitt „Volkskunde"),
sondern die Auswahl erwies sich auch für die sprachliche Seite als besonders fruchtbar. Der Sprecher ist besonders bei selbsterlebten Geschichten stets mit Leib und Seele bei der Sache, er verwendet eine natürliche, literarisch unbelastete Sprache und gebraucht seltene Spezialwörter, um die erlebten Er
scheinungen zu beschreiben
6; auch spielen die Texte (z. B. im Gegensatz zum Märchen) stets in dem ureigensten Milieu der Sprache. Bei der sprachlichen Analyse zeigt sich, daß vor allem die Lautlehre in LORIMERS Grammatik ganz neu geschrieben werden muß. Im Konsonantismus hat
LORIMERim allgemeinen gut beobachtet, aber im Vokalismus sind ihm bedeutende Unterschiede ent
gangen. Er unterscheidet nur Längen und Kürzen, wobei in vielen Wörtern die Schreibung selbst in dem stark normalisierten Wörterbuch so häufig wechselt, daß jeder Unbefangene darin freie Vertauschbarkeit vermuten muß. An Ort und Stelle zeigte sich aber, daß
LORIMERnicht nur fälschlich die Länge in
5 D r . G. BUDDRUSS b r i e f l i c h .
6 So gebrauchte ein Geisterseher aus Nager, um die von ihm wahrgenommenen
phutüe jotiso (cf. p. 661) zu beschreiben, in einem Absatz gleich drei Varianten eines neuen W o r t e s : pholöt „stark behaart", pholopholöt „mit wirr flatterndem H a a r umherlaufend
(von kleineren Wesen)", phalaphalät dasselbe (von größeren Wesen).
B e r i c h t ü b e r sprachliche u n d v o l k s k u n d l i c h e F o r s c h u n g e n im H u n z a t a l 659
vielen W ö r t e r n schreibt, deren Vokal kurz ist, sondern auch in den wirklichen Längen Unterschiede übersehen h a t ; es gibt nämlich drei verschiedene Arten von Längen, 1) mit B e t o n u n g der ersten More, z. B. in bdan „sie sind" 7,
häale „im H a u s " 2), mit B e t o n u n g der zweiten More, z. B. in hoölalas „Schmet
terling", iik „sein N a m e " 3), mit Tiefton der ersten More, z. B. in göor „Wasser
fall" (gegen göor „dir"), keer „Rivale". Diese f ü r die historische E r f o r s c h u n g der Sprache bedeutsame Unterscheidung ist f ü r europäische Ohren sehr schwer herauszuhören, aber nach zweimaligem Durchgehen des W ö r t e r b u c h e s glaube ich ziemlich zuverlässiges Material gewonnen zu haben. Besondere A u f m e r k samkeit schenkte ich auch dem distinktiven Akzent, den LORIMER oft unrich
tig, meist aber gar nicht bezeichnet h a t , der aber in der beschreibenden u n d historischen Lautlehre eine bedeutende Rolle spielt. Ich weise bei der Gelegen
heit darauf hin, daß der N a m e der Sprache Burusaski lautet, nicht *Burusdski, wie m a n bei uns a u f g r u n d der akzentlosen Schreibung LORIMERS nach deut
schem L a u t g e f ü h l zu betonen pflegt. Schließlich weiche ich auch in der Schrei
b u n g der zahlreichen F r e m d w ö r t e r aus dem U r d u stark von LORIMER ab.
E r bringt sie mit wenigen A u s n a h m e n in der u n v e r ä n d e r t e n U r d u F o r m , was wohl mit der W a h l der Gewährsleute u n d der A u f n a h m e m e t h o d e z u s a m m e n hängt. I n Wirklichkeit herrscht aber weitgehende L a u t s u b s t i t u t i o n nach festen Regeln, von denen ich als wichtigste n u r den ständigen E r s a t z von / durch ph (fthdal „ O m e n " < u r d u fäl, phalaand „ N N " < u r d u fuläna) u n d die auch im I n l a u t beibehaltene V e r h ä r t u n g von Medien im Auslaut nennen will (Hasanäbäd > Asanabdat, lok. Asanabdat-ulo). — I n der G r a m m a t i k war vor allem die Aufdeckung eines funktionellen Unterschieds zwischen langen u n d kurzen P r ä t e r i t a l f o r m e n interessant (etimi „er m a c h t e " gegen eti), wo LORIMER bei dem zweiten keine eigene F u n k t i o n feststellen konnte. E s zeigt sich, d a ß etimi (usw.) die eigentliche, wirklich eingetretene H a n d l u n g bezeichnet, eti (usw.) dagegen eine, die beinahe s t a t t g e f u n d e n h ä t t e , wenn nicht etwas da
zwischengetreten wäre, oder s t a t t f i n d e n wird, wenn m a n nicht h i n d e r n d ein
greift ; außerdem verwendet m a n sie in zweifelnden F r a g e n (seni-a? „hat er es wirklich gesagt ?" gegen senimi-a? „hat er es gesagt ?"). Die Scheidung er
klärt einen wichtigen P u n k t der burusaskibaskischen Verbalmorphologie : der T y p etimi < *i-ata-m [-i (mit analogisch a n g e f ü g t e m -i) entspricht dem T y p u s eman „geben" < *i-ama-m, der baskischen, ursprünglich mit dem P r ä t e r i t u m identischen whaltigen G r u n d f o r m des Verbums, w ä h r e n d eti < *i-at-i zu dem baskischen T y p u s ikusi „sehen" < *i-kus-i gehört. Die Unterscheidung ist im Baskischen lexikalisch geworden, aber durch eine eingehende U n t e r suchung der ursprünglichen Wurzelbedeutungen wird sicher der Anschluß ans Burusaski zu gewinnen u n d die alte funktionelle Unterscheidung zu ermitteln sein. Neben dieser wichtigen Einzelheit k o n n t e ich noch zahlreiche kleinere Verbesserungen erarbeiten, von denen sich ganz allgemein sagen läßt, daß sie das morphonologische System des Bur.Verbums b e d e u t e n d durch
sichtiger machen als dies bei der rein phonetischen, alle phonologisch irrele
7 Die Schreibung m i t D o p p e l v o k a l e m p f i e h l t sich, d a auch, s y n c h r o n i s c h gesehen, zwischen die beiden Moren noch h ä u f i g eine M o r p h e m g r e n z e fällt.
660 HERMANN BERGER Anthropos 55. 1960
v a n t e n Varianten berücksichtigenden Schreibung LORIMERS der Fall war. — Überraschend war f ü r mich, wieviel v o m W o r t s c h a t z bisher noch u n b e k a n n t gewesen war. Ich h a b e über 150 neue, echte alte BurusaskiWörter gefunden, u n d da bis zuletzt fast jeder neue T e x t ein oder zwei weitere brachte, ist ziem
lich sicher, d a ß d a m i t i m m e r noch n u r ein Teil des noch nicht Aufgezeichneten e r f a ß t i s t ; das gilt vor allem von dem bisher n u r aus kurzen Notizen b e k a n n t e n NageriBurusaski, das mit der Sprache von H u n z a zwar im Lautlichen u n d G r a m m a t i s c h e n fast identisch ist, aber im W o r t s c h a t z zahlreiche Sonderzüge aufweist. Ich f a n d weitgehend Spezialausdrücke, die der direkten Befragung n u r schwer zugänglich sind, wie süjokum „koscher (vom Fleisch der Tiere, die den Feen wohlgefällig sind)", mac „Gottesurteil mit Hilfe einer glühenden Axt, die der Beschuldigte auf der H a n d tragen m u ß " , yudeeni „ R ü h r e n der P a l a s t t r o m m e l durch Geisterhand, wenn in der königlichen Familie ein beson
deres Ereignis v o r g e h t " usw., daneben aber auch ganz konkrete Dinge wie bacdn „Gelenk", Iday „Gurke", -sdaski „eigen, zugeteilt" usw. Unerschöpflich scheint namentlich der Vorrat an schallnachahmenden u n d expressiven, meist reduplizierenden Bildungen zu sein, vgl. sirsdr sirsdr man* „rascheln", cascds et- „mit W i d e r s t a n d , Geräusch herausziehen", bau oder bdubau man- „mit Ge
räusch niederfallen", kiikadr man- „herumspazieren", usw. Groß ist auch der R e i c h t u m an P f l a n z e n n a m e n ; von den Wildpflanzen, die unser Botaniker F. LOBBICHLER sammelte u n d in D e u t s c h l a n d einschlägigen I n s t i t u t e n zur B e s t i m m u n g übergeben wird, k o n n t e n 180 mit dem eigenen N a m e n , viele auch in ihrer medizinischen Verwendung b e s t i m m t werden.
S h i n a . Meine Arbeit am Shina war weniger erfolgreich. Ich ließ mir im Dialekt von Minapin, der sich von dem als besonders rein u n d ausgebildet geschätzten GilgitDialekt k a u m viel m e h r als durch den stärkeren Einfluß seitens des Burusaski unterscheidet, 23 Märchen u n d ein p a a r andere, kleinere T e x t e diktieren, f a n d aber d a n n nicht m e h r die Zeit, sie mit der wünschens
werten Gründlichkeit durchzugehen, auch m u ß t e ich nachträglich feststellen, d a ß ich vorschnell eine vereinfachte Schreibung eingeführt h a t t e . Ich h a t t e d u r c h das Burusaski in L e h n w ö r t e r n eingeschleppte konsonantische Unter
scheidungen übersehen, sowie den Unterschied zwischen da u n d ad, der aus der Gegenüberstellung von toömo „eigen" mit domo „roh", soöno „golden"
mit döono „Bulle" usw. zutage t r i t t u n d auch v o n BAILEY in seiner Shina
G r a m m a t i k nicht e r k a n n t worden ist. I m m e r h i n d ü r f t e auch die bloße deutsche Ü b e r s e t z u n g der Geschichten, die solchen der GRiMMschen S a m m l u n g oft erstaunlich n a h e stehen, mit einer kurzen Einleitung über L a n d u n d Leute der Märchenforschung willkommen sein. Auch an die Analyse einiger inhalt
lich interessanter Texte, die ich in den M u n d a r t e n von Bar u n d Mayun auf B a n d g e n o m m e n habe, k a n n erst nach einer Revision der ShinaPhonologie gegangen werden. Übrigens scheint auch der W o r t s c h a t z von BAILEY nicht ganz erfaßt worden zu sein. Ich erinnere mich z. B. an muji „Maus" in Minapin u n d yäc „Art Geist (bur. phut)", rupeelo „silbern" in Bar.
V o l k s k u n d e . Die K u l t u r des H u n z a t a l s ist gekennzeichnet durch einen detailliert ausgebildeten Glauben an Feen u n d andere Geister, der mit dem
Bericht über sprachliche und volkskundliche Forschungen im H u n z a t a l 6 6 1
Islam eine durchaus harmonische Verbindung eingegangen ist ; lediglich der K u l t der böyo, kleiner, als wollhaarig beschriebener Tiere, denen m a n f r ü h e r an Berghöhlen zu opfern pflegte, gilt als verwerfliches H e i d e n t u m u n d wird nie ohne Zeichen der Verachtung u n t e r gleichzeitigen Beteuerungen der jetzigen Rechtgläubigkeit erwähnt. Die Feen (pari oder baräai) sind schöne J u n g f r a u e n mit blauen Kleidern u n d blonden H a a r e n , die „genau wie E n g l ä n d e r i n n e n "
aussehen, aber die Fersen vorne u n d die Zehen nach hinten gerichtet h a b e n u n d auf den Gipfeln der schneebedeckten Siebentausender wohnen. Sie können von eigens dazu ausersehenen, bitdn g e n a n n t e n Beschwörern herbeigeholt u n d zu Weissagungen über die Z u k u n f t veranlaßt werden. Die bitdn verfallen in ihren Tänzen, bei denen sie Wacholderrauch einatmen u n d Ziegenblut trinken, in echte Trance, und, ganz im Gegensatz zum b e n a c h b a r t e n Dardistan, wo K. JETTMAR n u r noch kümmerliche Reste der alten Tradition vorfand, ist in H u n z a u n d Nager das bitdn-Wesen noch in voller B l ü t e ; d a v o n zeugt nicht n u r die Tatsache, d a ß auch jetzt noch laufend junge Männer dazu berufen werden, sondern auch die zahlreichen Bezüge des Feenglaubens zum täglichen Leben. I n Baltit konnte ich sogar eine ganze Seance eines bitdn mit seinen Gesängen auf B a n d nehmen. Neben den bitdn h a t auch heute noch fast jeder J ä g e r „seine" Feen, mit denen er vor der J a g d in Verbindung treten m u ß . Eine weitere Art der Beziehung ist der hölum gan, der „äußere W e g " : jeder männliche Erwachsene k a n n von einer Fee als Bruder, Sohn oder Geliebter adoptiert werden u n d genießt d a d u r c h von ihr eine der drei Arten menschlicher Liebe. Das soll besonders häufig in Chaprot sein, einem kleinen ShinaDorf nördlich von Chalt, das auch seit alters die meisten u n d besten bitdn stellt.
Nächst den Feen sind es vor allem die bilds, die u n m i t t e l b a r ins menschliche Leben eingreifen. Das sind häßlich gestaltete menschenfressende D ä m o n e n weiber, die an jeglichem Todesfall im Tal schuld sind, auch wenn es scheinbar
„ganz mit rechten Dingen zugeht". In ihren Diensten steht der phanis (oder jarmds), ein Mann, der nach einmaligem Berufungserlebnis den jeweiligen T o d e s k a n d i d a t e n im T r a u m in F o r m einer Ziege gleichen Alters u n d Ge
schlechts Schächten m u ß ; sein Gegenspieler ist der pasüu, der die Szene auch w a h r n i m m t u n d den Betroffenen warnen kann, d a ß er sich durch ein Opfer freikauft. Die übrigen Naturgeister werden ohne besondere P r a k t i k e n s p o n t a n von besonders begabten Leuten wahrgenommen, von denen M u h a m m a d Shafa aus Nager zur Zeit der b e r ü h m t e s t e zu sein scheint. Ich h a b e in allen Dörfern systematisch die bitdn u n d sonstigen Geisterseher aufgesucht u n d d a d u r c h von allen Arten ausführliche Beschreibungen erhalten : außer von den Feen u n d bilds auch noch von den danlathds (bösartige Weiber mit f u n k e n s p r ü h e n den Augen, langen Zähnen u n d Brüsten), hirbilas („Mannfo'/as", Polyphem, der auch in Tiergestalt a u f t r i t t u n d den Menschen zum K a m p f herausfordert), phut (Gnom, stark b e h a a r t , gilt als reich), phutüe jötiso („Kinder der phut", klein, sehen wie Wasserschläuche aus), hargin (Riesenschlange mit goldener Mähne), qadn jakün („brüllender Esel", Geist in Eselsgestalt), mee'lgus, nageri maydlgus (Frau, die auf der Sternschnuppe reitet). — W a s die historische Pro
blematik des Feen u n d bitan-Wesens anbelangt, so scheint jetzt schon klar zu sein, daß es von den vorwiegend ziegenzüchtenden ShinaSprechern entwickelt
6 6 2 H E R M A N N B E R G E R Authropos 55. 11)60
wurde, die h e u t e noch die besseren bitän stellen sollen, u n d in der Ackerbau k u l t u r der Buruso eine U n t e r w a n d e r u n g darstellt. Darauf deutet vor allem die Erscheinung, d a ß auch die burusaskisprechenden bitän ihre Weissagungen stets auf shina singen, auch wenn sie im W a c h z u s t a n d kein W o r t von dieser Sprache verstehen (ich h a b e mich selbst von dem P h ä n o m e n überzeugen kön
nen), u n d die H e r k u n f t einiger hiergehöriger Termini des Burusaski aus dem Shina, vor allem von tJwmal „Wacholderrauch", jetzt auch thöman im Nageri
Burusaski, zu MinapinShina düuman „ R a u c h " , vgl. sanskrit dhümana. — I n t e r e s s a n t war die E n t d e c k u n g , d a ß es im ganzen H u n z a t a l bei der älteren Generation noch zahlreiche vorislamische P e r s o n e n n a m e n gibt. Ich konnte über 100 d a v o n aufzeichnen. Manche sind ohne weiteres aus dem Burusaski oder Shina d e u t b a r , z. B. Buydlsin „Erdbebenlöwe" (sh. buydl, a u c h i m B u r . ) , Datüsin „Herbstlöwe" (bur. datü), Gurgdfl „Herbstweizen" (bur.) u. a., aber die Mehrzahl ist etymologisch undurchsichtig u n d m a c h t einen sehr fremdarti
gen E i n d r u c k , z. B. Bords, Deep, Musdr (Mosör), Burzü usw. Derselben Schicht gehören ganz offensichtlich auch die zahlreichen nicht etvmologisierbaren Orts u n d F l u r n a m e n an, die ich namentlich auf der NagerSeite des Tals aufzeichnen k o n n t e : Thöol, Dons, Hunüno, Hoftür usw. Manche sind von Per
s o n e n n a m e n abgeleitet, z. B. Borösal (< *Borös-sal) zu Bords (s. oben), Hölsal zu Höh (mit Kosenameno), Sukundosal zu Sukunöo, wobei das Vorherrschen gerundeter Vokale auffällt, sowie das in den heimischen Sprachen als Appelativ nicht b e k a n n t e Suffix -sal (vgl. aber sanskrit sälä „ H ü t t e , H a u s " , seinerseits schwerlich arischen Ursprungs). Vergleiche mit den vorarischen Relikten im indischen u n d iranischen Sprachgebiet d ü r f t e n diese N a m e n als Nachhall eines h e u t e erloschenen dritten Volkstums erweisen.
M u s i k . H e r r Professor MARIUS SCHNEIDER h a t t e mich vor der Abreise gebeten, auch einige Proben der dortigen Musik aufzunehmen. Das Musikleben ist im H u n z a t a l reich entwickelt, aber in E u r o p a gänzlich u n b e k a n n t ; d a ß sich die musikalischen F o r m e n deutlich von den b e n a c h b a r t e n indopakistanischen u n d persischen unterscheiden, k a n n aber selbst dem musikethnologischen Laien nicht entgehen. Vokal u n d I n s t r u m e n t a l m u s i k scheinen streng gesondert zu sein. Lieder h a b e ich vor allem aus dem shinasprechenden Teil der Bevölke
rung, da mir bei H u n z a S ä n g e r n unglücklicherweise fast i m m e r das T o n b a n d gerät versagte. D a s Stilprinzip der I n s t r u m e n t a l m u s i k ist der hariip, d. i.
eine kürzere Melodie, die ad i n f i n i t u m wiederholt werden k a n n u n d ursprüng
lich stets einem festen rituellen oder öffentlichen Anlaß zugeordnet war.
Es gibt eigene hariip f ü r die B e g r ü ß u n g des Mirs von H u n z a (verschieden nach den Orten, in denen er eintrifft), f ü r die einzelnen P h a s e n der Feenbeschwörung, f ü r die verschiedenen Teile des Polospiels (Anreiten, Anstoß, Torschuß usw.), T a n z m u s i k f ü r einzelne A m t s p e r s o n e n auf Festen, an denen der Mir seine Leute tanzen läßt, usw. Eine besondere Stellung n e h m e n die „Zwölf hariip"
in H u n z a ein, deren A u f n a h m e mir zwar vom Mir gestattet, aber von dem königlichen O b e r t r o m m l e r mit der B e g r ü n d u n g verweigert wurde, sie seien E i g e n t u m der königlichen Familie u n d d ü r f t e n n u r an „großen T a g e n " (uyüm gunc) u n t e r B e a c h t u n g eines besonderen Zeremoniells gespielt werden, weil
B e r i c h t ü b e r s p r a c h l i c h e u n d v o l k s k u n d l i c h e F o r s c h u n g e n i m H u n z a t a l 6 6 3
andernfalls dem Spieler Unheil von Seiten der Feen drohe. Ich h a b e etwa 30 harüp, auf rebab, sitar u n d surnai (einer Art Klarinette) von guten Spielern gespielt, aufgenommen. Meine A u f n a h m e n sind n u r erste Proben ; ein eigenes U n t e r n e h m e n durch einen geschulten F a c h m a n n ist dringend zu empfehlen.
A n t h r o p o l o g i s c h e M e s s u n g e n . Z u s a m m e n mit unserem Expedi
tionsarzt Dr. G.N E U R E U T H E Rm a ß ich Kopflänge, Kopfbreite, Jochbogen
breite, Gesichtslänge u n d Körperlänge u n d b e s t i m m t e H a a r u n d Augenfarbe von je 50 männlichen Erwachsenen in Baltit, Nager u n d Chalt. I n Mayun, einem shinasprechenden Dorf auf der HunzaSeite, das besonders interessant gewesen wäre, weil es einen vom übrigen Shina abweichenden Dialekt s p r i c h t8, m u ß t e n wir leider nach dem 17. Mann wegen der Bockigkeit der Bewohner abbrechen. Die Meßdaten sind bereits dem anthropologischen I n s t i t u t der Universität München übergeben worden u n d sollen dort von Fachleuten aus
gewertet werden.
Z u k u n f t s a u f g a b e n . Meine Arbeit im H u n z a t a l k o n n t e schon wegen der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit alles andere als erschöpfend sein.
Ich möchte daher f ü r den Fall, daß mir selbst eine F o r t f ü h r u n g der Arbeit nicht mehr möglich sein sollte, die P u n k t e aufzählen, die nach meinem D a f ü r halten noch einer eingehenderen Erforschung bedürfen. Auf sprachlichem Ge
biet sind es vor allem die lexikalischen u n d g r a m m a t i s c h e n Besonderheiten des Nageri Burusaski. Man wird auch hier n u r durch das A u f n e h m e n von mög
lichst vielen T e x t e n weiterkommen, u n d wenn auch jeder T e x t i m m e r n u r ein p a a r neue F o r m e n bringt, so soll m a n doch — angesichts der ungeheuren Be
deutung, die jedes BurusaskiWort f ü r die Sprachgeschichte h a b e n k a n n — die Mühe nicht scheuen. (Von einem Durchgehen des W o r t s c h a t z e s a n h a n d von
L O R I M E R SHunzaTexikon würde ich allerdings a b r a t e n , da die meisten Nageri auch die H u n z a V a r i a n t e ihrer Sprache gut kennen u n d daher der durch die N e n n u n g des H u n z a W o r t e s bedingten Suggestivfrage unterliegen könnten.) Neben neuen Feenüberlieferungen, die ohne Zweifel noch in großen Mengen bereitliegen, sollte m a n auch die Märchen heranziehen, die, wenn sie auch sichtlich f r e m d e n Ursprungs sind, doch in der Isolierung Altertümliches be
w a h r t h a b e n können. I m ShinaLexikon steht noch die durchgehende Be
zeichnung des distinktiven Akzents aus, dieB A I L E Yunterlassen h a t , sowie die erwähnte Unterscheidung von da u n d ad. Ferner wäre eine Monographie des Dialekts von Mayun u n d Hindi wichtig, der von unsern Trägern überein
s t i m m e n d als deutlich abweichend v o m GilgitiShina bezeichnet w u r d e9, von den anderen Dialekten außerhalb der Gilgit Agency, dieB A I L E Y in seiner
8 G. BUDDRUSS, d e r m i c h s c h o n v o r h e r d a r a u f a u f m e r k s a m g e m a c h t h a t t e , h a t e i n e Ü b e r l i e f e r u n g a u f g e z e i c h n e t , n a c h d e r d i e L e u t e v o n H i n d i a u s P u n i a l e i n g e w a n d e r t s e i n s o l l e n . M i r i s t b e i G e s p r ä c h e n n u r d e r L o k a t i v a u f -aro g e g e n -av i m G i l g i t i a u f g e f a l l e n .
9I n d e m b e n a c h b a r t e n H i n d i , w o m a n d e n s e l b e n D i a l e k t s p r i c h t , soll es n a c h A n g a b e n u n s e r e r T r ä g e r a u f f a l l e n d v i e l b l o n d e o d e r k a s t a n i e n b r a u n e (güuro) M e n s c h e n g e b e n , d i e in d e r f a s t d u r c h g e h e n d s c h w a r z h a a r i g e n B e v ö l k e r u n g d e s ü b r i g e n T a l s e i n e a u s g e s p r o c h e n e S e l t e n h e i t d a r s t e l l e n .
664 H E R M A N N B E R G E R Aiithropos 55.1960
G r a m m a t i k n u r a m R a n d e behandelt h a t , ganz abgesehen. Schließlich dü r f t e auch das S t u d i u m der Sprache der HunzaZigeuner, die sich bis h e u t e wunder
barerweise i n m i t t e n einer burusaski u n d shinasprechenden U m g e b u n g erhal
t e n h a t , nicht n u r interessante Aufschlüsse f ü r den Urdialekt der indisch
europäischen Zigeuner ergeben, mit denen dieser S t a m m ohne Zweifel ver
w a n d t ist, sondern auch Licht auf die Geschichte m a n c h e n BurusaskiWortes werfen. Schon die kurze Wortliste bei LORIMER 10 bietet d a f ü r zwei Beispiele.
F ü r bur. us „Schuld" h a t das D u m a k i noch die B e d e u t u n g „Gedanke" erhalten, die durch bask. uste „Meinung" bestätigt wird1 1; in d u m . birsa „ L a n d " d ü r f t e eine ältere F o r m von bur. busdi „ L a n d " stecken. D a die zeremonielle Musik in beiden Residenzen ausschließlich in den H ä n d e n der D o m liegt, wird eine Beschäftigung m i t ihren Traditionen auch von N u t z e n f ü r die Erforschung der reichen Musikkultur des Tals sein, auf deren B e d e u t u n g abschließend nochmals hingewiesen sei.
10 D. L. R . LORIMER, T h e D u m ä k i L a n g u a g e . Outlines of t h e Speech of t h e Dorna, or Bericho, of H u n z a . N i j m e g e n 1939.
11 Cf. B e r i c h t e r s t a t t e r in I n d o I r a n i a n J o u r n a l 3. 1959, p. 34.