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Symbol – Struktur – Kultur

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Academic year: 2022

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L E G U N G D E R S 0 Z I AL- U N D K U L T U R W I S-

SENSCHAFTEN NACH ERNST CASSIRER,

CLAUDE LEVI-STRAUSS UND PIERRE BOURDIEU

(2)

Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften nach

Ernst Cassirer, Claude Levi-Strauss und Pierre Bourdieu

Harald Katzmair I Ganter Hefler

EINLEITUNG ... : ... :. 1 Harald Katzmair

SOZIOLOGIE UND SOZIO-LOGIK SYMBOLISCHER FORMEN Die erkenntnistheoretischen Modelle von Ernst Cassirer,

Claude Levi-Strauss und Pierre Bourdieu ... 2 John Michael Krois .

ZUR DARSTELLUNG VON SYMBOLISCHEN UND SOZIALEN STRUKTUREN ... 8 Klaus Hamberger

DIE BEDEUTUNG DES RAUMPROBLEMS FÜR DIE SOZIAL- UND KULTURWISSENSCHAFTEN

Der Raum als Erkenntnisbedingung ... : ... : ... 14 Steve G. ·Lofts

CASSIRERS MORPHOLOGIE: STRUKTURBEDEUTUNG UND

BEDEUTUNGSSTRUKTUR IN DEN KULTURWISSENSCHAFTEN ... 20 Michael Opitz ·

MATERIELLE KULTUR UND TRANSFORMATIONSBEGRIFF

Zur Morphologie der Schamanentrommel ... 27 DIE AUTOREN ... : ... IV

ISSN: 0020 - 2320

MITTEILUNGEN DES INSTI"fUTS FÜR WISSENSCHAFT UND KUNST 54. JAHRGANG 1999, NR. 2-3, öS 150,-

Linie des Blattes: Verständigung der Öffentlichkeit über die Arbeit des Instituts für Wissenschaft und Kunst sowie Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Arbeiten, die damit in Zusammenhang stehen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Autorinnen wieder und müssen nicht mit der redaktionellen Auffassung übereinstimmen.

Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Institut für Wissenschaft und Kunst. Redaktion und Layout: Dr. Helga Kaschl. Lektorat: lngrid Tomaszkiewicz, Dr. Eva Waniek-Arnold. Alle: 1090 Wien, Berggasse 17/1, Telefon I Fax:

(1) 317 43 42. Homepage: http://sever.phl.univie.ac.atl-iwk . Druck: Glanz & HofbauerGes.m.b.H., 1200 Wien, Treustraße 5, Telefon: (1) 330 73 67.

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EINLEITUNG

Es freut uns sehr, mit der vorliegenden Doppelnummer der Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst die Ergebnisse des vom 28. zum 29. Mai veranstalteten Work- shops Symbol - Struktur - Kultur: Zur erkenntnistheoreti- schen Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften nach Ernst Cassirer, Claude Levi-Strauss und Pierre Bour- dieu vorlegen zu können.

Drei Fragestellungen skizzieren das thematische Feld, das der Konzeption des Workshops zu Grunde lag: Erstens sollte überprüft werden, ob die Verbindung zwischen Er- kenntnistheorie und Erfahrungswissenschaften zufällig er- folgt oder ob es zwischen diesen eine notwendige Bezie- hung gibt. Wenn eine notwendige Beziehung angenommen werden muss, dann stellt sich die Frage, welche Auswir- kungen dies auf beide Arbeitsgebiete hat. Zweitens sollte diskutiert werden, welchen unterschiedlichen Stellenwert die epistemologischen Modelle von Ernst Gassirer, Glaude Levi-Strauss und Pierre Bourdieu für die Lösung erkennt- nistheoretischer Grundfragen im Bereich der Sozial- und Kulturwissenschaften haben. Darüber hinaus sollten Ge- meinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei Auto- ren mit dem Ziel heraus gearbeitet werden, Lösungsvor- schläge für konkrete methodelogische Problemstellungen, wie sie etwa im Zusammenhang mit Begriffen wie "Struk- tur", "Transformation" oder "symbolische Form" entstehen, zu erarbeiten.

Ganz in diesem Sinne stellt der Beitrag von Harald Katzmair den Versuch dar, die Gesamtfragestellung des Workshops zu umreißen. Der Artikel Soziologie und Sozio- Logik symbolischer Formen skizziert die unterschiedlichen -zum Teil im schroffen Gegensatz zueinander stehenden - epistemologischen Positionen der drei Autoren. Gleichzeitig wird die allgemeine praktische Bedeutung von erkenntnis- kritischen Fragestellungen für den sozial- und kulturwissen- schaftlichen Forschungsprozess betont. John Krois arbeitet in seinem Text über die Darstellung von symbolischen und sozialen Strukturen wesentliche Aspekte des Verhältnisses zwischen Pierre Bourdieu und Ernst Gassirer heraus und verweist damit unter anderem auf die ideengeschichtliche Bedeutung des Denkens von Ernst Gassirer für die zeitge- nössische Soziologie. Besonders bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf Gassirers Arbeiten zur Platonischen Renaissance in England. Steve Lofts Auseinandersetzung mit dem Problem der Strukturbe- deutung und Bedeutungsstruktur in den Kulturwissen- schaften weist den Zusammenhang zwischen Gassirers Konzeption der "symbolischen Formen" und dem modernen Strukturalismus Saussurscher, Levi-Strausscher und La-

HARALD KATZMAIR I GÜNTER HEFLER

canscher Prägung auf. Damit erinnert er unter anderem an die selten herausgestrichenen gemeinsamen epistemologi- schen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Strukturalis- mus und der Gassirersehen Philosophie der symbolischen Formen. Klaus Hamberger stellt am Beispiel der Bedeutung des Raumproblems in den Sozial- und Kulturwissenschaf- ten dar, zu welchen grundlegenden Fragestellungen man gelangt, wenn das Gassirersehe Programm einer Philoso- phie der symbolischen Formen hinsichtlich seiner Kantiani- schen Grundprogrammatik ernst genommen wird. Zur Klä- rung des Sozialen als Form sui generis wird die Frage des sozialen Raums dabei zum epistemologischen Schlüssel- problem schlechthin, wobei der Autor - wie zuvor schon Steve Lofts - interessante Beziehungen zwischen erkennt- niskritischen Fragestellungen und der Tradition des franzö- sischen Strukturalismus (Benveniste, Levi-Strauss) heraus- streicht. Zuletzt wird in der Arbeit von Michael Oppitz über die Morphologie der Schamanentrommel die empirische Relevanz des Transformationsbegriffs von Levi-Strauss vorgestellt. Dabei zeigt sich unter anderem, dass die Über- tragung des Transformationsbegriffs auf materielle Güter zu einer vollkommen neuen Beurteilung der morphologischen Merkmale im Zusammenhang mit deren geographischer Verteilung führt. Damit wird die zentrale Bedeutung des Konzepts der Transformation für die strukturalistische Mo- dellierung morphologisch-symbolischer Strukturen an einem zugleich auch - wie die von Michael Oppitz eigenhändig gefertigten Feldskizzen belegen - ästhetisch sehr anspre- chenden Beispiel vorgeführt.

Wir glauben, dass die hier vorliegenden Beiträge zwei wesentliche Nachweise erbracht haben: zum einen, daß es sich lohnt, den Verbindungen und Differenzen zwischen den im Untertitel der Veranstaltung genannten Autoren nachzugehen, weil sich am Beispiel deren konkurrierender epistemologischer Modelle ein unmittelbarer Zugang zu er- kenntnistheoretischen Grundfragen, wie sie für das ge- samte Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften von Be- deutung sind, erschließen lässt. Zum anderen, daß die Ar- beit an Begriffen wie "symbolische Form", "Struktur" oder

"Transformation" gerade dann fruchtbar zu werden ver- spricht, wenn sie im Rahmen empirischer Forschungen ge- leistet oder der Bezug zur empirischen Forschungen zu- mindest intendiert wird.

Wir hoffen, dass die hier vorliegenden Texte die Weiter- arbeit in den skizzierten Arbeitsfeldern stimulieren werden.

Harald Katzmair I Günter Hefler

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HARALD KATZMAIR

SOZIOLOGIE UND SOZIO-LOGIK SYMBOLISCHER FORMEN

Die erkenntnistheoretischen Modelle von

Ernst Cassirer, Claude Levi-Strauss und Pierre Bourdieu

1. PERMUTATIONEN

Die Bedeutung von Begriffen wie "Sozio-Logik", "symboli- sche Form" oder "erkenntnistheoretisches Modell" zu be- stimmen, ohne das gesamte System von Begriffen und Aussagen zu kennen, in denen diese Begriffe "eingebettet"

sind, ist unmöglich. Diese triviale Aussage, der das lingui- stische Modell zugrunde liegt, dass die Bedeutung eines Signifikanten ein Effekt seiner singulären Position im diffe- rentiellen System aller anderen Signifikanten ist, schließt jedoch einen für die Sozialwissenschaften nicht unwesentli- chen Grundsatz mit ein: Wenn für sich alleine ein Signifi- kant nichts bedeutet, so ist für sich genommen ein "Einzel- nes" niemals symbolisch.1 Es existiert keine symbolische Autonomie des Einzelnen. Gleich wie in der Menge der na- türlichen Zahlen die Bedeutung jeder einzelnen Zahl die Existenz der gesamten (unendlichen) Anzahlreihe voraus- setzt, setzt das Einzelne in der Bedeutung als "Einzelnes" - um symbolische Relevanz zu erlangen - eine kollektive Ordnung voraus. Analog dazu kann man Levi-Strauss pa- raphrasierend sagen, dass die Bedeutung eines Textes (ei- ner Aussage, eines Begriffs, eines Signifikanten etc.) ver- stehen, nichts anderes heißt, als ihn in der "Kollektivität"

seiner Kontexte zu permutieren)

Was wäre im Falle der hier von Interesse seienden Au- torensignifikanten "Levi-Strauss", "Cassirer", "Bourdieu" zu einem solchen Kontext zu rechnen? Zunächst bietet sich die Gesamtheit der Varianten an, die ein Autor selbst von einem Begriff oder einer Aussage produziert hat, aber auch die Gesamtheit der Begriffe und Aussagen anderer Auto- ren, auf die ein Text antwortet bzw. an die ein Text eine Botschaft richtet, in dem er sich vom anderen unterschei- det. Das Universum eines Textes ist demnach niemals die substantielle Entität des Begriffs, des Textes oder des Na- mens des Autors selbst - man weiß nicht erst seit Saussure, dass das Zeichen keine positiv-materielle Entität besitzt -, son- dern dass es gleich dem Phonem ein Bündel differentieller Elemente3. Wollen wir die Bedeutung der Zeichen "Levi- Strauss", "Cassirer", "Bourdieu", "Erkenntnistheorie", "Sozio- Logik", "Soziologie" konkretisieren, müssen wir demnach ein Modell konstruieren, dass uns Unterschiede, deren es ja unzählig gibt, zu bezeichnenden Merkmalen umorganisiert.

Von sich aus hat kein bloßer Unterschied - und sei er noch so "fein" - eine symbolische Relevanz. Erst innerhalb eines sozio-logischen Oppositionssystems bekommt ein bloßer

"Unterschied" den symbolischen Wert eines gesellschaftlich relevanten Merkmals.

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Damit ist aber auch implizit gesagt, dass die unter- schiedliche Bestimmung der Begriffe (etwa innerhalb oder zwischen den Texten von Cassirer, Bourdieu und Levi- Strauss) demnach rein hypothetisch als Varianten ein und derselben Funktion (ein und derselben Aussage) interpre- tiert werden könnten und die einzelnen Begriffsbestimmun- gen und Aussagen als Transformationen ein und derselben invarianten Aussage angesehen werden könnten. Umge- kehrt kann es sein, dass inhaltlich dieselben Aussagen völ- lig unterschiedlichen Aussagefunktionen zugerechnet wer- den, d. h. die Bedeutung zweier identischer Signifikanten sich unterscheidet, weil die Funktion, deren Variablen sie sind, selber variiert und nicht derselben Gruppe von Varia- tionen angehört. Die Bedeutung der Begriffe "Symbol",

"Struktur", "Kultur" kann demnach weder aus dem Sachregi- ster der Autoren noch aus der chronologischen Reihe der einzelnen Begriffsdefinitionen abgeleitet werden. Letztlich erweisen sich die Begriffe darin, wie in einem Text damit gearbeitet wird und welchen strategischen Wert sie im For- schungsprozess haben, welche Funktion sie erfüllen, wel- che Fragen damit aufgeworfen, welche Probleme beant- wortet werden können.

2. EMPIRISCHE FORSCHUNG VERSUS ERKENNTNISTHEORIE?

Das besondere Spannungsverhältnis, das sich in dieser Begriffsarbeit zwischen der Philosophie und den Erfah- rungswissenschaften auftut, zeigt sich nicht zuletzt an den drei Autoren, von denen ausgehend einige prinzipielle er- kenntnistheoretische Grundprobleme der Soziologie und Sozio-Logik symbolischer Formen und Systeme aufgezeigt werden können: auf der einen Seite der neukantianische Philosoph Ernst Cassirer, der eine erkenntniskritische Grundlegung der Kulturwissenschaften intendierte, selbst aber keine erfahrungswissenschaftliehen Forschungen be- trieb; auf der anderen Seite Claude Levi-Strauss und Pierre Bourdieu, der eine Sozialanthropologe und Ethnologe, der andere zunächst mit ethnologischen Forschungen beschäf- tigt, dann aber als Soziologe vor allem mit der französi- schen Gesellschaft konfrontiert. Beide haben selbst aktiv Feldforschung betrieben und haben wohl von hier her jenes an vielen Stellen ihrer Arbeiten geäußerte Misstrauen ge- genüber gewissen Formen der Katheder-Philosophie ent- wickelt; ein Misstrauen, das typisch ist für jene erfahrungs- wissenschaftlichen Praktikerlnnen, die wissen, mit welcher

HARALD KATZMAIR

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peinlichen Treue gegenüber der Realität die Freiheit zu be- zahlen ist, Erfahrungstatsachen durch Modelle zu ersetzen4 und denen deshalb auch der sorglose Überflug ihrer eige- nen Disziplin seitens mancher Philosophinnen geradezu verdächtig erscheinen muss.

Dass nun gerade die empirische Forschung aber eine reiche Quelle erkenntnistheoretischer Fragestellungen sein kann, dass gerade das fragile Verhältnis zwischen der Ex- aktheit der soziographischen Beobachtung und Aufzeich- nung und der soziologischen Verallgemeinerung der Daten zum Ausgangspunkt prinzipieller erkenntnistheoretischer Fragen werden kann, dafür sind Lewi-Strauss und Bourdieu sehr gute Beispiele. Umgekehrt ist das Beispiel Ernst Cas- sirer die beste Widerlegung des Vorurteils, dass Philoso- phinnen gegenüber den positiven Wissenschaften sich ek- lektizistisch verhalten oder sich überhaupt ex Cathedra als die besseren Erfahrungswissenschafterinnen wähnen. Cas- sirer ist bester Repräsentant jener sich mit erkenntnistheo- retischen Fragen beschäftigenden Strömungen der Philo- sophie, die nicht die positiven Wissenschaften ex Cathedra zu korrigieren, zu verbessern oder zu belehren versuchen, sondern am Faktum der Wissenschaften orientiert sind, wie es übrigens auch Kant selbst war, dem es in der Kritik der reinen Vernunft um die erkenntniskritische Grundlegung der Newtonsehen Physik und Eulerschen Mathematik gegan- gen ist und nicht um die Grundlegung einer imaginären, synkretistisch aus allen Bereichen der Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts zusammengestellten Wissenschaft.

Dass Fragen der Erkenntnistheorie selbst im Zuge der empirischen Feldarbeit, im Rahmen der Erhebung von Da- ten, im Zuge der technischen und methodischen Probleme des Feldzugangs, der Codierung oder Auswertung von Daten, ja gerade im Zusammenhang mit den zahlreichen Zweifeln und Unsicherheiten, die jeden empirischen For- schungsprozess begleiten, dass gerade hierbei ein er- kenntnistheoretisches Moment auffindbar sein soll, ist alles andere als selbstverständlich, da in den Sozialwissen- schaften diese Probleme gemeinhin als spezielle Metho- denprobleme diskutiert werden und ihnen in der Regel nicht die Dignität von erkenntnistheoretischen Grundlagenpro- . blemen beigemessen wird. Indes spielt die Frage nach dem

Gegenstand, wie er zu konstruieren und modellieren ist, welche Regeln und Gesetze die Gegenstandskonstitution selbst leiten, besonders in den Sozialwissenschaften eine bedeutende Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil das "Gegen- über" als "Ding" und "Vorstellung" modelliert werden kann, d. h. der andere "gegenüber" ist selbst mit einem Bewusst- sein ausgestattet, konstruiert selbst Modelle mit denen er empirische Strukturen interpretiert.5 Damit kann der/die So- zialwissenschafter/in Modelle konstruieren, deren System- charakter von diesem "Gegenüber" entweder nicht wahrge- nommen oder sogar bestritten wird, was in den Sozialwis- senschaften unter dem Titel "Subjektivismus versus Objek- tivismus" zu zahlreichen Diskussionen über das Verhältnis zwischen (mathematischem) Modell und dem "subjektiven

HARALD KATZMAIR

Sinn" der Handelnden geführt hat.

Fragen der Kommunikation zwischen Subjekt und Ob- jekt, Fragen des Sinns und Gebrauchs von Modellen, Fra- gen der Legitimität der mathematischen Manipulation von Modellen etc. verlieren hier schnell den Charakter der "bloß"

methodologischen Auseinandersetzung und driften in den Bereich erkenntnistheoretischer Grundfragen ab: Was sind in den Sozial- und Kulturwissenschaften die Erkenntnisbe- dingungen von Gegenständen empirischer Erfahrung? Wel- che logischen Erkenntnisarten von sozialwissenschaftliehen Gegenständen gibt es? Eine oder mehrere? Welche Er- kenntnismittel sind dabei a priori vor aller Erfahrung, welche sind empirisch? Wie ist der Gegenstand sozialer Erfahrung möglich, wie ist er "gegeben"? Das sind erkenntnistheoreti- sche Fragen, die dem/der Erfahrungswissenschafter/in dann begegnen, wenn er/sie innehält und die erkennt- nistheoretischen Fundamente seines/ihres eigenen Tuns versucht zu bestimmen. Doch warum sollte sich der/die Er- fahrungswissenschafter/in mit erkenntnistheoretischen Fra- gen auseinandersetzen, warum die eigenen Fundamente befragen und festigen, warum die eigenen Fundamente, wie Cassirer den Mathematiker David Hilbert zitiert,6 "tie- ferlegen" wollen? Sind diese Fundamente nicht letztlich be- liebig, historisch bedingt, ohnedies vom Zufall der Kultur und von der Arbitrarität der eigenen, persönlichen Erfah- rung abhängig?

Kant hat auf prinzipielle Weise gezeigt, dass ohne einer kritischen Analyse unserer Erkenntnisart von Gegenstän- den man dasjenige, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, nicht von dem auseinanderhalten kann, was nur durch empirische Erfahrung samt deren arbiträren, histori- schen Bedingungen gegeben sein kann.? Ohne erkenntnis- kritischer Bestimmung der eigenen Grundlagen setzen sich die Erfahrungswissenschaften der Gefahr aus, dass Ver- standesbegriffe zu selbständigen Wirklichkeiten werden, Funktionen des Denkens in empirische Objekte, die Bedin- gungen des Denkens in substantielle Dinge verwandelt werden. Das, was eine Funktion des Denkens ist, droht als dinglicher Bestand im Empirischen gesucht zu werden oder mit Cassirer formuliert: logisch-korrelative Momente des Er- kenntnisprozesses drohen in ein dinglich-gegensätzliches

"Sein" umgewandelt und in die Dinge projiziert zu werden - kurzum, ohne erkenntniskritischer Absicherung des T er- rains passiert es im Zuge der empirischen Arbeit notge- drungen, dass man die eigenen Erkenntnismittel fetischi- siert, etwas als empirische Erfahrung interpretiert, was aber Sache der menschlichen Vernunft und damit apriorische Bedingung ist, d. h. Bedingung dafür ist, dass empirische Erfahrung überhaupt möglich wird.

Tatsächlich ist man erstaunt, wie wenig erforscht dieses Terrain für die Sozial- und Kulturwissenschaften ist und wie wenig man darüber weiß. Was ist der Anteil an a priori- schen (und aposteriorischen) Funktionen in den Sozialwis- senschaften, wann immer wir von Geschlechtern, sozialen Räumen, sozialer Zeit, Akteuren, Werten, Normen, Tausch-

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Vorgängen, Gesetzen, Interessen, Klassen etc. sprechen?

Welche dieser Begriffe sind in der empirischen Erfahrung begründet und welche sind hier für die empirische Erfah- rung als sozialwissenschaftliche Kategorien konstitutiv?

Und vor allem: Was unterscheidet die soziale von der natu- ralen Erfahrung, nicht hinsichtlich ihrer Gegenstände, son- dern hinsichtlich unserer Erkenntnisart dieser Gegenstän- de?

3. DIE DURKHEIM-MAUSS TRADITION

Die Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Grundfragen ist nun Levi-Strauss und Bourdieu alleine schon durch die Durkheim-Mausssche-Tradition, in der sie (unter anderem) stehen, gleichsam aufgegeben. Tatsäch- lich ist für die Auseinandersetzung mit erkenntnistheoreti- schen Grundlagenproblemen der Sozialwissenschaften aus wissenschaftshistorischer Perspektive die Interpretation der Kantschen Erkenntniskritik von Durkheim-Mauss nicht nur für Bourdieu und Levi-Strauss, sondern auch für das Ver- ständnis des Kategorienproblems in Großteilen der Sozio- logie maßgebend gewesen.

Vor allem Bourdieu erweist sich in seiner erkennt- nistheoretischen Einschätzung von Kant als konsequenter Verfechter der Durkheimschen Position. Ein wesentlicher Teil des Programms einer .. Soziologie der symbolischen Formen" wurde tatsächlich erstmals 1901 im berühmten Aufsatz von Mauss/Durkheim .. über einige primitive Formen von Klassifikation"a formuliert und später, in der nicht weni- ger berühmten Einleitung zu den .. Elementaren Formen des religiösen Lebens"9 von Durkheim, wiederholt. Auch Mauss war in seinen eigenen Aufsätzen immer wieder bemüht, das Kategorienproblem soziologisch zu lösen, weshalb ihm auch die Ethnologie mehr ein Mittel zur Dechiffrierung all- gemeiner Formen der Erkenntnis denn eine Quelle von Spezialkenntnissen war. Und wenn Levi-Strauss in der Ou- vertüre zum .. Rohen und Gekochten" es sogar als .,letztes Ziel der Anthropologie" bezeichnet, .,zu einer besseren Kenntnis des objektivierten Denkens und seiner Mechanis- men beizutragen"1o, so zeigt sich hier eine Verschränkung von Anthropologie und Erkenntnistheorie, die ganz im Durkheim-Maussschen-Programm aufgehoben ist.

Es ist aber auch die unterschiedliche Akzentuierung dieses Programms, die Bourdieu und Levi-Strauss hinsicht- lich ihrer erkenntnistheoretischen Positionen unterscheidet.

Während Bourdieu die Durkheimsche Linie ausgehend vom morphologischen Bau und den .,affektiven Werten" des So- zialen etwa in seinem Terminus des .,Feldes" oder der .,In- korporation" objektiver sozialer Strukturen neu interpretiert und auch ganz im Sinne von Durkheim/Mauss empirische Klassifikationsordnungen mit der Genese logischer Denk- kategorien in Verbindung bringt,11 geht Levi-Strauss einen anderen Weg, der wie er selber mehrfach betont, ebenfalls bei Durkheim/Mauss seinen Ausgang nimmt: Sein Interesse 4

gilt der Verankerung der sozialen Phänomene in einer for- malen Sozio-Logik.12 Man könnte plakativ sagen, dass es ihm nicht wie Bourdieu um die Soziologie der symbolischen Formen, sondern um die Sozio-Logik der symbolischen Sy- steme geht. Was für den einen Produkt der Dialektik zwi- schen sozialer Morphologie (den Gesetzen des ..Feldes") und dem praktischen Sinn des Subjekts ist, ist für den an- deren Produkt des unbewussten Denkens, das im Zuge der Modellanalyse in den gegenüber Transformationen invari- anten Strukturen zutage tritt. Sind für den einen Klassifikati- onsordnungen Formen der Sichtung von Weit, denen ein parteiliches Interesse korrespondiert, so ist für den anderen eine Klassifikationsordnung eine reine Denkform, in der Form und Inhalt sowie Syntax und Lexikon voneinander un- abhängig sind.

Diesem Durkheim, der die Ausbildung einer formal- logischen Wissenschaft als Grundlage der Soziologie for- dert,13 steht jener Durkheim gegenüber, der die Logik mit Hilfe der Soziologie in der gesellschaftlichen Morphologie und letztlich im Gefühlsleben, d. h. im affektiven Moment der Anziehung und Abstoßung zwischen den Subjekten, zu begründen sucht.14 Was die Interpretation von Durk- heim/Mauss anbelangt, scheiden sich hier die Wege zwi- schen Bourdieu und Levi~Strauss: Was bei Levi-Strauss den logischen Gesetzen des .. Unbewussten", des .. objekti- ven Denkens", des .. menschlichen Geistes" - alles Meta- phern bei Levi-Strauss für die logische Regelhaftigkeit des symbolischen Universums- zugerechnet wird, ist bei Bour- dieu im morphologischen Bau der Gesellschaft und in der virtuosen Natur des Akteurs angelegt. Beide Positionen fin- den wir bei Durkheim und Mauss, die unterschiedliche Ak- zentuierung im Programm von Bourdieu und Levi-Strauss hat indes weitreichende Konsequenzen: Bourdieu verwarf den Levi-Straussschen Modellbegriff15 und damit implizit das Herz der strukturalen Erneuerung, den Begriff der Transformation, ohne dessen Berücksichtigung jeder Ver- such der logischen wie empirischen Bestimmung von so- zialen .. Strukturen" im Sinne Levi-Strauss' unmöglich ist.16

Die erkenntnistheoretische Tragweite dieser Verwerfung ist weitreichend und prinzipiell. Ist für Levi-Strauss die Ord- nung der Transformationen der Schlüssel zur Bestimmung invarianter gesellschaftlicher Relationen, so ist damit ein- hergehend unter anderem die Loslösung der Formen von konkreten Inhalten mitgedacht Dies sieht man sehr gut am Beispiel der von Levi-Strauss durchgeführten Beurteilung totemistischer Benennungs- und Klassifikationsordnun- gen.17 Umgekehrt ist für Bourdieu eine Klassifikationsord- nung Ausdruck für eine spezifische morphologische Struk- tur (z. B. der Arbeits-, Geschlechterteilung), d. h. Form und Inhalt stehen in einem substantiellen Zusammenhang. Die Form des .. Interesses" (als Inbegriff der Position des Ak- teurs im morphologischen Bau des Sozialen, den Bourdieu unter dem Begriff des ..Feldes" theoretisch neu bestimmt hat) ist nicht unabhängig davon, in welcher Ordnung sich das Interesse ausdrückt. Damit sind grundlegende Unter-

HARALD KATZMAIR

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schiede in der erfahrungswissenschaftliehen Methodologie verbunden. Für Levi-Strauss sind die differentiellen Merk- male auf der Ebene des Modefls1B situiert, für Bourdieu auf der Ebene der sozialen Morphologie. Sind Oppositionssy- steme, die aus Unterschieden zuallererst symbolisch (und deshalb auch gesellschaftlich) bedeutsame Merkmale ma- chen, einmal Produkte einer abstrakten Denkform, so sind sie das andere Mal historische Produkte der objektiven ge- sellschaftlichen Teilung des Sozialen z. B. nach Ge- schlechts-, Bildungs- oder Altersklassen.

Was einmal Strukturen des menschlichen Geistes sind, ist das andere Mal Produkt der Geschichte. Was einmal Form der Übersetzung und des Austausches ist, ist das an- dere mal Form der Auseinandersetzung und der Unterbre- chung des Austausches. Heißt für den einen, "sich von an- deren unterscheiden", primär mit dem anderen zu kommu- nizieren, Botschaften auszutauschen und weiterzugeben, so ist für den anderen "Sich-Unterscheiden" der Versuch, Distinktionsprofite zu akkumulieren und letztlich zu mono- polisieren. Richtet sich der Blick einmal vor allem auf Struktur und Ordnung exogamer Praktiken, so sind das an- dere Mal die Struktur und Ordnung endagamer Strategien im hauptsächlichen Blickfeld. Ob diese gravierenden Unter- schiede prinzipiell mit dem Gegenstand zu tun haben, d. h.

dass Levi-Strauss als Ethnologe v. a. außereuropäische Gesellschafen im Blick hat und Bourdieu neben der Kaby- lischen vor allem die französische Sozietät untersucht hat, wäre zu diskutieren. Ich glaube allerdings, dass die Unter- schiede prinzipiellerer Natur sind und nicht vom empiri- schen Untersuchungsgegenstand abhängen und auch nicht allein damit erklärbar sind, was Levi-Strauss in dem Inter- view anlässlich seines 80sten Lebensjahres insinuiert, dass Bourdieu die bewussten und vorbewussten, er hingegen die unbewussten Strukturen im Blick hätte.19

4. ERKENNTNISKRITIK UND SOZIO-LOGIK

Wie kommt nun im Verhältnis zwischen Bourdieu und Levi- Strauss Ernst Cassirer ins Spiel? Cassirer ist gewiss nicht nur auf Grund des bibliographisch implizit und explizit nachweisbaren Einflusses auf Levi-Strauss und Bourdieu hier von Bedeutung. Das Verhältnis der drei Autoren ist in der Wissenschaftsgeschichte ein Kapitel für sich. Dass Cassirer in Frankreich bereits seit den 1920er Jahren auch in Anthropologenkreisen rezipiert wurde, zeigt nicht nur die Rezension des ersten Bandes der Philosophie der symboli- schen Formen von Marcel Mauss. Unabhängig von dieser in ihren Details noch unerforschten Rezeptionsgeschichte ist die Bedeutung von Cassirer für die Sozial- und Kultur- wissenschaften über seinen rein genealogischen Einfluss auf andere Autorinnen hinaus von grundsätzlicherer Art:

Cassirer war neben Max Adler2o der erste Autor, der eine in der Kantischen Tradition stehende erkenntniskritische Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften in An-

HARALD KATZMAIR

griff genommen hat und den - wie er selbst explizit unter- strichen hat21 -Beginn eines Forschungsprogramms initiiert hat, eines Programms, an dessen Durchführung, Fortset- zung und Verbesserung zu arbeiten ist. Bis zu Cassirer be- schäftigten sich die Erkenntniskritiker (einschließlich seiner Kollegen der Marburger Schule, sieht man von den uner- giebigen Ansätzen von Hermann Cohen in der "Logik der reinen Erkenntnis"22 ab) fast ausschließlich mit den Natur- wissenschaften. Damit gewinnen seine Arbeiten über das mythische Denken und die Sprache vor allem eine Bedeu- tung als Programm, das über die konkrete Einzeldurchfüh- rung hinausreicht.

Gleichzeitig ist Cassirer als Vertreter der Marburger Tradition des Neukantianismus auch ein Repräsentant einer anderen Interpretation von Kant, einer anderen Interpretati- on als die soziologisch-historische Perspektivierung von Durkheim, Mauss oder Bourdieu. Damit bietet sich nicht nur eine Rückkehr zu den Primärquellen von Kant an, sondern darüber hinaus auch eine exaktere Bestimmung von Urtei- len wie etwa dem Riceurschen Urteil, dass Levi-Strauss ei- nen "Kantianismus ohne transzendentales Subjekt" vertre- ten würde - ein Urteil, dem Levi-Strauss übrigens Zustim- mung gezollt ha(.23 Gleichzeitig kann hier auch der Unter- schied zwischen einem transzendentalen und einem histo- risierten A priori im wissenschaftshistorischen Kontext be- stimmt werden, schließlich situiert sich sowohl Durk- heim/Mauss als auch Bourdieu (trotz aller polemischen Einwände gegen die Kritik der Urteilskraft24) noch immer im Umfeld von Kants Rhetorik (transzendentale versus gesell- schaftliche "Bedingung der Möglichkeit"). Sowohl Levi- Strauss als auch Bourdieu sind demnach in einem be- stimmten Verhältnis zu Kant situiert, die Unterschiede die- ses Verhältnisses gilt es herauszuarbeiten und Cassirer ist hierfür ein geeignetes Kontrastmittel.

Gleichzeitig macht die Bestimmung dieses Unterschie- des auch den Nutzen der erkenntniskritischen Grundlagen- arbeit für die Erfahrungswissenschaften sichtbar, sofern es um die Identifikation und Auslotung von Scheindebatten geht. Gerade am Beispiel der Bourdieuschen Kritik an dem Modellbegriff25 von Levi-Strauss kann man gut zeigen, wie die oben angesprochene Verdinglichung von Denkfunktio- nen in den erfahrungswissenschaftliehen Epistemologien dazu führt, Gesetze als Gegenstände der Erkenntnis zu be- greifen, anstaU sie als Mittel, womit Erkenntnis allenthalber erst möglich ist, zu sehen. Eine erkenntniskritische Wen- dung, im Sinne der berühmten kopernikanischen Drehung der Erkenntnistheorie, von der Kant sprach,26 würde der ganzen Diskussion, ob die strukturalen Heiratsmodelle nun präskriptive oder präferentielle Funktionen repräsentieren oder gar nur "objektivistische Illusionen" sind,27 eine voll- kommen andere Wendung geben. Gesetze, gleich ob der Natur oder des Sozialen, haben aus erkenntniskritischer Perspektive kein metaphysisches Sein, das über den Köp- fen hinweg das Bewusstsein und Handeln der Menschen regiert. Gesetze und Regeln sind vielmehr Mittel, mit denen

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erkannt wird, und nicht etwas, das erkannt wird.

Ich glaube, dass die Konfrontation des erkenntniskriti- schen Programms von Cassirer mit LElVi-Strauss' und Bour- dieus Anthropologie und Soziologie daher einen sehr guten Arbeitskontext darstellt. Denn der Vergleich macht gerade die Positivität der einzelnen erkenntnistheoretischen Posi- tionen erst sichtbar. Während man sich zum einen mit Hilfe der (Neu-)Kantischen Erkenntniskritik erhoffen kann, mehr Licht in das Dunkel der "Kategorien des Geistes", von de- nen Mauss und Levi-Strauss sprechen,28 werfen zu können, kann umgekehrt das Verhältnis des Begriffs der Transfor- mation in den Analysen von Levi-Strauss gut mit dem Be- griff der "symbolischen Prägnanz" und des "Wechsels"29 von Cassirer kontrastiert werden. Denn besonders an diesem Beispiel kann man sehen, welche prinzipiellen Unterschiede zwischen einer Logik symbolischer Formen und einer So- zio-Logik symbolischer Systeme festzuhalten sind.

So unterscheidet sich Cassirers Konzept des Wechsels im Brechungsindex, mit dem eine Umprägung der symboli- schen Materie einhergeht,30 grundlegend von dem Trans- formationsmodell Levi-Strauss'. Während die Umprägun- gen von einer symbolischen Form zur nächsten bei Cassi- rer mit einem Aufstieg im Objektivitätsgehalt des Erkennt- nissystems einhergeht (d. h. die Wissenschaft kann eine vergleichsweise höhere "Objektivität" für sich beanspruchen als z. B. der Mythos), sind die "Wechsel" zwischen symboli- schen Systemen bei Levi-Strauss analog zu automorphen Transformationen jederzeit umkehrbar und ein unidirektio- naler Stufenbau zwischen symbolischen Systemen a priori nicht denkbar. Was für den einen Umprägung einer symbo- lischen Materie ist, indem von einer symbolischen Form zur anderen symbolischen Form das Begriffsystem als Visierli- nie der Erkenntnis wechselt, ist für den anderen reiner Formwechsel im Universum des je bereits Geformten, wo- bei es bei Levi-Strauss die Regel des Wechsels ist, die in- variant bleibt und nicht ein ßinfacher phänomenaler T atbe- stand"31 des Präsenten.

5. AUSBLICK

Die Konfrontation der erkenntnistheoretischen Modelle von Cassirer, Levi-Strauss und Bourdieu eröffnet einen frucht- baren Raum für die Herausarbeitung der prinzipiellen Un- terschiede zwischen einer Soziologie der Symbolischen Formen und einer Sozio-Logik symbolischer Systeme.

Gleichzeitig wird allerdings auf beinahe drängende Art und Weise sichtbar, wie unerforscht viele erkenntnistheoretische Grundfragen gerade im Bereich der Sozialwissenschaften sind. Die Lösung der in diesem Text aufgeworfenen Pro- blem- und Fragestellungen wird einen interdisziplinären Diskurs zwischen Sozialwissenschafterlnnen, Mathematike- rinnen und Philosophinnen voraussetzen, einen Diskurs, der - wie jede andere fächerübergreifende Kommunikation - nur dann erfolgreich sein kann, wenn er die Riten der

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symbolischen Selbstbehauptung im Feld des Akademi- schen überwinden kann und dem Denken ein kollektives Milieu bereitet, dass "wild" genug ist, sich nicht als autono- me Quelle, sondern als Ergebnis und Produkt des Aus- tauschs zu verstehen, als persona im buchstäblichen Sinn - als Maske des Diskurses des Anderen.

ANMERKUNGEN:

1 Vgl. Levi-Strauss 1974, S. 13: "Es gehört zur Natur der Gesell- schaft, dass sie sich in ihren Gebräuchen und in ihren Institutio- nen symbolisch ausdrückt, während die normalen individuellen Verhaltensweisen im Gegensatz dazu niemals durch sich selbst symbolisch sind: sie sind nur Elemente, aus welchen ein symbo- lisches System, das nur kollektiv sein kann, sich bildet."

2 Vgl. Levi-Strauss 1975, S. 157: "Doch in Wahrheit heißt den Sinn eines Textes verstehen, ihn in allen seinen Kontexten permutie- ren."

3 Levi-Strauss 1975, S. 158 4 Levi-Strauss 1975, S. 35

5 Vgl. Levi-Strauss 1974, S. 22 ff.; Bourdieu 1982, S. 729 6 Cassirer 1956, S. 230: "Der Bau der Wissenschaften- das müs-

sen wir jetzt deutlicher erkennen - schreitet nicht in der Weise fort, dass er sich auf einem festen, ein für alle Mal gesicherten Fundament erhebt, um dann immer höher zu steigen. Jeder Auf- stieg zur Höhe verlangt vielmehr von uns auch die entgegenge- setzte Leistung und die entgegengesetzte Blickrichtung. Mitten im Aufbau und Ausbau müssen wir auf das Fundament zurück- blicken- müssen wir uns um jene , Tieferlegung der Fundamente' bemühen, die Hilber! einmal als das eigentliche Ziel aller theore- tischen Wissenschaft bezeichnet hat."

7 Vgl. z. B. Kant, Kritik der reinen Vernunft: 8296, B297: "Wenn wir also durch diese kritische Untersuchung nichts mehreres lernen, als was wir im bloß empirischen Gebrauche des Verstandes auch ohne so subtile Nachforschung von selbst wohl würden ausgeübt haben, so scheint es, sei der Vortheil, den man aus ihr zieht, den Aufwand und die Zurüstung nicht werth. Nun kann man zwar hierauf antworten: daß kein Vorwitz der Erweiterung unserer Erkenntniß nachtheiliger sei als der, so den Nutzen je- derzeit zum voraus //B297// wissen will, ehe man sich auf Nach- forschungen einläßt, und ehe man noch sich den mindesten Be- griff von diesem Nutzen machen könnte, wenn derselbe auch vor Augen gestellt würde. Allein es giebt doch einen Vortheil, der auch dem schwierigsten und unlustigsten Lehrlinge solcher transseendentalen Nachforschung begreiflich und zugleich an- gelegen gemacht werden kann, nämlich dieser: daß der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand, der über die Quellen seiner eigenen Erkenntniß nicht nachsinnt, zwar sehr gut fortkommen, eines aber gar nicht leisten könne, nämlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen und zu wis- sen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag; denn dazu werden eben die tiefen Untersuchungen erfor- dert, die wir angestellt haben. Kann er aber nicht unterscheiden, ob gewisse Fragen in seinem Horizonte liegen, oder nicht, so ist er niemals seiner Ansprüche und seines Besitzes sicher, son- dern darf sich nur auf vielfältige beschämende Zurechtweisungen Rechnung machen, wenn er die Grenzen seines Gebiets (wie es unvermeidlich ist) unaufhörlich überschreitet und sich in Wahn und Blendwerke verirrt."

8 Durkheim/Mauss 1987 9 Durkheim 1981 10 Levi-Strauss 1971,

s.

28

11 Vgl. z. B. Bourdieu 1982, S. 730: .. Die von den sozialen Akteuren im praktischen Erkennen der sozialen Welt eingesetzten kogniti-

HARALD KATZMAIR

(9)

ven Strukturen sind inkorporierte soziale Strukturen. Wer sich in dieser Weit >vernünftig< verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfügen, damit über Klassifikationsschemata (oder, wenn man will, über >Kiassifikationsformen<, >mentale Strukturen<, > symbolische Formen< - alles Begriffe, die unter Absehung der jeweils spezifischen Konnotationen mehr oder we- niger wechselseitig austauschbar sind), mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungs- schemata, die aus der objektiven Trennung von >Klassen< her- vorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jen- seits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten (H. v.

mir). Resultat der lnkorporierung der Grundstrukturen einer Ge- sellschaft und allen Mitgliedern derselben gemeinsam, ermögli- chen diese Teilungs- und Gliederungsprinzipien den Aufbau einer gemeinsamen sinnhaften Weit, einer Weit des sensus commu- nis. Alle Akteure einer Gesellschaft verfügen in der Tat über ei- nen gemeinsamen Stamm von grundlegenden Wahrnehmungs- mustern, deren primäre Objektivierungsebene in allgemein ver- wendeten Gegensatzpaaren von Adjektiven vorliegt, mit denen Menschen wie Dinge der verschiedenen Bereiche der Praxis klassifiziert und qualifiziert werden."

12 Vgl. Levi-Strauss 1973, s. 93 ff.

13 Vgl. Durkheim 1984, S. 95 ff.

14 Vgl. DurkheimiMauss 1987, S. 253 ff. Bourdieu 1982, S. 740:

,.Der Logozentrismus und Intellektualismus der Intellektuellen, in Verbindung mit der der Wissenschaft inhärenten Voreingenom- menheit für die psyche, Seele, Seelenleben, Bewußtsein, Vor- stellungen, einmal ganz abgesehen vom bürgerlichen Anspruch auf den Status einer >Person<, haben die Einsicht verhindert, daß wir Menschen, laut Leibniz, >in Dreiviertel unserer Handlun- gen Automaten sind<, und daß die, wie es so schön heißt,

>letzten Werte< nichts weiter sind als erste und ursprüngliche Dispositionen des Körpers, Geschmacks- und Ekelempfindun- gen, in denen die vitalsten Interessen einer Gruppe ihren Nieder- schlag finden, jene, für die man, wenn es sein muß, seinen eige- nen Leib wie den der anderen einsetzt. Der Unterscheidungssinn, discretio, der scheidet, was geschieden werden, und vereint, was vereint werden muß, der alle ungehörigen Verbindnungen und Vereinigungen wider die Natur, d. h. wider das gemeinsame Ord- nungssystem, wider die diakrisis als Fundament der individuellen wie kollektiven Identität, verbannt, provoziert zuinnerst einen töd- lichen Horror, einen absoluten Ekel und metaphysischen Zorn gegen alles, was im Platonischen Zwitterbereich angesiedelt ist, was über das Verstehen, nämlich das inkorporierte Klassifikati- onsystem hinausgeht und dadurch, daß es die Grundfeste der Körper gewordenen sozialen Ordnung und zumal die gesell- schaftlich ausgebildeten Grundlagen der sexuellen Arbeitsteilung und Teilung der sexuellen Arbeit in Frage stellt, sich als Heraus- forderung des sensus communis, als skandalon an der geistigen Ordnung vergreift."

15 Vgl. Bourdieu 1976, S. 146 ff., 160 ff.; Bourdieu 1987, S. 71 ff.

16 Levi-StraussiEribon 1989, S. 165: .. Nun ist allerdings der Begriff der Transformation mit der strukturalen Analyse aufs engste ver- knüpft, ja, sämtliche Irrtümer, alle missbräuchlichen Verwendun- gen, die es mit oder an dem Begriff der Struktur gegeben hat, rühren daher, nicht begriffen zu haben, dass es unmöglich ist, die Struktur getrennt vom Begriff der Transformation vorzustellen."

17 Vgl. Levi-Strauss 1973, S. 92 ff.

18 Levi-Strauss 1967, S. 301ff., Levi-Strauss 1975, S. 87 ff.; Oppitz 1975,

s.

33ff.

HARALD KATZMAIR

19 Levi-StraussiEribon 1989, S. 151 20 Vgl. Adler 1936

21 Vgl. Cassirer 1956, S. 229

22 Cohen 1914; Cohen versucht, an den verschiedensten Stellen des Werks analog zu den Naturwissenschaften sozialwissen- schaftliche Kategorien (,.Individuum", "Gesetz" etc.) zu isolieren, allerdings ist das sozialwissenschaftliche Referenzmodell eine Mixtur aus staats- und rechtswissenschaftliehen Theorien ohne jeden systematischen Anspruch. Eine erkenntniskritische Grundlegung ist damit auch nicht für die damals bereits beste- henden sozialwissenschaftliehen Modelle geleistet und auch nicht programmatisch intendiert, es handelt sich eher um er- kenntniskritische Apercus von geringer Tragweite.

23 Vgl. Levi-Strauss 1971, S. 25; vgl. Levi-StraussiEribon 1989, S.

158 wo Levi-Strauss seinem Interviewpartner Eribon antwortet:

,.Sie befragen mich über die Einflüsse, die auf mich eingewirkt haben; im Grunde bin ich ein ganz gewöhnlicher Kantianer .... "

24 Vgl. Bourdieu 1982, S. 756 ff.

25 Bourdieu 1976, S. 146 ff., S. 160 ff.; Bourdieu 1987, S. 71 ff.

26 Kant, Kritik der reinen Vernunft, BXVI, XVII

27 Vgl. Levi-Strauss 1981, S. 25 ff; Bourdieu 1976, S. 146 ff., S.

160 ff.; Bourdieu 1987, S. 71 ff.

28 Vgl. Mauss 1975, S. 173, Levi-Strauss 1974, S. 25 29 Vgl. Cassirer 1954, S. 222 ff.

30 Cassirer 1954, S. 222 f.

31 Cassirer 1956, S. 211

LITERATUR:

Adler, Max: Das Rätsel der Gesellschaft, Wien 1936 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, FrankfurUM. 1982 Ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis, FrankfurUM. 1976 Ders.: Sozialer Sinn, FrankfurUM.1987

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Band 3, Darmstadt 1954

Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956 Cohen, Hermann: Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1914

Durkheim, Emil: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, FrankfurUM. 1981

Ders.: Die Regeln der soziologischen Methode, FrankfurUM. 1984 Durkheim, Emil I Mauss, Marcel: Über einige primitive Formen von

Klassifikation, in: Durkheim, Emil: Schriften zur Soziologie der Er- kenntnis, FrankfurUM. 1987

Kant, lmmanuel: Kritik der reinen Vernunft, FrankfurUM. 1968 Levi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, FrankfurUM. 1973 Ders.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, FrankfurUM.

1981

Ders.: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Mauss, Marcel:

Soziologie und Anthropologie 1, München 1974

Ders.: Mythologica I, Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt 1971 Ders.: Strukturale Anthropologie I, FrankfurUM. 1967

Ders.: Strukturale Anthropologie II, FrankfurUM. 1975

Levi-Strauss, Claude I Eribon, Didier: Das Nahe und das Ferne, FrankfurUM. 1989

Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie 2, München 1975 Oppitz, Michael: Notwendige Beziehungen - Abriss der strukturalen

Anthropologie, FrankfurUM. 1975

7

(10)

JOHN MICHAEL KROIS

ZUR DARSTELLUNG VON SYMBOLISCHEN UND SOZIALEN STRUKTUREN

1. BOURDIEU UND CASSIRER

Hinter meinem Titel steckt der einfache Versuch, die theo- retischen Ansätze von Pierre Bourdieu und Ernst Cassirer mit einander zu vergleichen. Der Grund für einen solchen Vergleich liegt darin, daß die beiden Autoren weitgehend dieselben methodischen Ansätze teilen und in ihren kon- kreten Ergebnissen vielfach übereinstimmen. Für Bourdieu und Cassirer sind es die symbolischen Strukturen, die die sozialen entscheidend bestimmen, nicht umgekehrt. Bour- dieus Formel ist: "die sozialen Strukturen von heute sind die symbolischen Strukturen von gestern".1 Wo es viele Über- einstimmungen gibt, sind die Differenzen besonders auf- schlußreich. Um diese geht es mir, da sie auf kulturtheoreti- sche Grundeinsteilungen aufmerksam machen, gerade in bezug auf den Prozeß der Symbolisierung.

Eine vollständige Darstellung von Bourdieus' und Cassi- rers' Theorien ist hier unmöglich. So müßte ich z. B. mit ei- ner Klärung ihrer Beziehungen zum Strukturalismus begin- nen. Bourdieu hat sich immer wieder von dem an der Lin- guisitik orientierten Strukturalismus distanziert, der ahistori- sche "Tiefenstrukturen" im Symbolprozeß sucht, wie bei Chomsky oder Levi-Strauss. Insoweit ist seine Auffassung mit Cassirers vergleichbar. Bei Bourdieu und Cassirer steht am Anfang die Tat, und auch wenn für sie Handlungen im- mer Zeichensetzung sind, ist es gerade die Energie und nicht das Ergon, die Vorrang hat. Bei einem solchen pau- schalen Hinweis muß es hier bleiben, denn Cassirers Ver- hältnis zum Strukturalismus ist bis heute nicht zufrieden- stellend ausgearbeitet. Die Bedeutung von Felix Kleins Er- langer Programm für Cassirers "Strukturalismus" zu zeigen, gehört noch immer zu den wichtigsten unerledigten Aufga- ben der Cassirer-Forschung. Das Erlanger Programm sollte die Einheit der Geometrie wiederherstellen nach der Ausar- beitung von Nicht-Euklidischen Geometrien. Statt diese zu einer einzigen Geometrie zu machen, was unmöglich ist, sollte sie zeigen, daß der Gegenstand der Geometrie (Raum) keine absolute, sondern nur eine relative Bedeu- tung hat. Die neuerliche Publikation

von

Kari-Norbert lhmig über "Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des ,Erlanger Programms"' geht auf das eigentli- che Thema nur in einem Kapitel ein (IV.), das aber wichtige Anregungen enthält, weil gezeigt wird, daß "Substanzbegriff und Funktionsbegriff" hauptsächlich auf Cassirers frühe Re- flektionen zu Klein basiert.

Während Levi-Strauss meinte, die Geschichte eigne sich für die Suche nach nicht-geschichtlichen Strukturen, interessiert sich Cassirer für die Ordnung der Veränderun- gen und die relativen lnvarianzen von Gliedern eines funk-

8

tionalen Zusammenhangs, "die sich im Vergleich zu ande- ren als unabhängige Momente erweisen" (SF 119). Bour- dieus Kritik am Anfang

von

"Sozialer Sinn" an Levi-Strauss' Strukturalismus als "Verdinglichung

von

Abstraktionen" (SS 71) geht

von

anthropologischen, nicht formalen Überlegun- gen aus, doch diese stehen in tieferer Übereinstimmung mit Cassirer.

Bourdieu macht wiederholt und explizit auf seine Anbin- dung an Cassirer aufmerksam. Er beschreibt seinen theo- retischen Ausgangspunkt oft in bezug auf Cassirers "Sub- stanzbegriff und Funktionsbegriff".2 Bourdieu sagt, er gehe

von

Relationen (z. B. relative Sozialstellungen) aus, nicht

von

Substanzen (reale Gruppen

von

Mitgliedern, deren An- zahl und Stärke man sucht). Das Grundthema der Sozial- wissenschaft für Bourdieu sind die Distinktionen, die Unter- scheidungen zwischen Menschen, und diese sind - in je- dem Feld (produktiven, politischen) der Untersuchung - symbolisch, denn alles, was zu Überzeugung, Kredit und Mißkredit, Wahrnehmung und Wertung, Erkennen und An- erkennen gehört, ist eine Frage der symbolischen Macht:

Name, Ruf, Autorität. Bourdieu übernimmt die Bezeichnung

"Feld" (champs) aus Kurt Lewins sozialwissenschaftlicher Feldtheorie. Lewin seinerseits hat seine Charakterisierun- gen des sozialen Raums mit topologischen Begriffen wie Region, Grenze oder Weg ebenfalls als eine Erweiterung

von

Ideen in Cassirers "Substanzbegriff und Funktionsbe- griff' verstanden (Lewin war ein Hörer Cassirers).3 Wie Le- win will auch Bourdieu

von

relationalen und nicht

von

gene- rischen Begriffen ausgehen, für Bourdieu sind Klassifikatio- nen nicht Reflektionen sozialer Realitäten, sondern primär Symbol- bzw. Sinnphänomene. Bourdieus eigensie Ideen setzen daher explizit Cassirers Idee der "Symbolischen Formen" als Grundlagen der Klassifikation und Distinktion fort.4

Das besondere an Bourdieus Soziologie besteht darin, daß er soziale Wirklichkeiten konsequent auf symbolische Formen zurückführt. Gesellschaftliche "Klassen" sind für ihn keine Handlungsinstanzen; sie haben symbolische Exi- stenz: in Aussprache, Kleidung, Manieren. Sozialstellung ist eine Frage

von

Symbolen: wer etwas tun oder sagen "darf"

-"Alle Züge, die Soziologen dem sozialen Stand zuschrei- ben," so sagt er, "gehören zur symbolischen Ordnung" (SsF 59). Die entscheidenden Machtfragen betreffen Symbole:

wie das Urteil lautet, wer das Sagen hat, was im Buche steht, wer befehlen oder reden darf.

Schon in "Die Begriffsform im mythischen Denken"

( 1922) kritisiert Cassirer soziologische Versuche, gesell- schaftliche Klassen- und Lebensformen als Erklärung für symbolische Einteilungen (Klassifikationen) zu nehmen. Die

JOHN MICHAEL KROIS

(11)

Vielfalt der Einteilungsformen, selbst in primitiven Gesell- schaften, ist zu divers, um durch soziale Struktur erklärt zu werden bzw. muß dieses Prinzip ad absurdum überstrapa- zieren (etwa bei der astrologischen Deutung der Sterne).

Außerdem finden sich manchmal die gleichen typischen Einteilungsformen in ganz verschiedenen Gesellschaften, die sozial nicht in eine Linie gestellt werden können. Das eigentliche "fundamentum divisionis" liegt nicht in den Din- gen oder der Gesellschaftsform, Klassen und Differenzen erscheinen als etwas anderes, "je nachdem sie durch ver- schiedene geistige Medien erblickt" (S. 60) werden.

Zu diesen systematischen Übereinstimmungen zwi- schen Bourdieu und Cassirer kommen methodelogische hinzu, die zum Teil auch zu ähnlichen Schwierigkeiten füh- ren. Bourdieu und Cassirer diskutieren ihre theoretischen Termini nie unabhängig von dem Kontext ihres Gebrauchs (RA 194f.; cf. PV 14), was auch ein Grund für die schlep- pende Rezeption Cassirers sein dürfte. Dies ist keine zufäl- lige Parallelität. Cassirer versuchte, die Ergebnisse der Ein- zelwissenschaften in die Ausarbeitung seiner Philosophie einzubeziehen. Sogenannte "reine Philosophie" hat er im- mer wieder abgelehnt; er riet Studenten ab, "nur Philoso- phie" zu studieren.5 Selten spielt in der Philosophie die Re- flektion auf empirische Forschung und die Geschichte der Philosophie eine derart systematische Rolle wie bei Cassi- rer. Bourdieu steht Cassirer nirgends näher, als wenn er sagt, "daß man nur anhand von theoretisch konstruierten empirischen Fällen richtig denken kann" (RA 198).

Bourdieu selbst rechnet seine Arbeit zur Philosophie - Philosophie, wie er sie versteht (FU 780). Er wirft der pro- fessionellen Philosophie ihr Selbstverständnis vor. Dies ist

"gegen jede Form des Denkens definiert, das sich explizit oder unmittelbar auf die ,niederen' Realitäten der sozialen Welt richtet" (RA 191). Dieses Selbstverständnis der Philo- sophie betrachtet statistische Erhebungen und selbst

"simple historiographische Dokumentenanalyse" als "positi- vistisch", was zur Weigerung führt, sich auf die Kontingenz des Historischen überhaupt einzulassen.

Cassirer dagegen erzählte z. B., daß die Lehre vom nicht-Euklidischen Raum, die Lotze und andere Idealisten einfach abzutun versuchten, in seinen Augen eine derart gravierende Bedeutung für den Kantianismus gehabt habe, daß dies ihn zum Philosophieren erst richtig anregte. (Mit diesem Interesse an den Wissenschaften stand er dem Wiener Kreis nah.)

Bourdieus Kritik an der Philosophie gipfelt in der These, daß Philosophie eine allgemeine Ästhetisierung praktiziere, besonders im heutigen Frankreich, wo die Ästhetisierung in einem vorher nie erreichten Grad betrieben wird (er zieht daher deutsch- und englischsprachige Philosophen vor).

"So war die ,Heidegger-Affäre' für mich der Anlaß zu zei- gen, daß der philosophische Ästhetizismus in einem sozia- len Aristokratenturn wurzelt, das selbst auf der Verachtung der Sozialwissenschaften beruht, die nicht gerade dazu an- getan ist, eine realistische Sicht der sozialen Welt zu för-

JOHN MICHAEL KROIS

dern und, auch ohne unbedingt zu so ungeheuerlichen ,Verirrungen" wie Heideggers großer Dummheit zu führen, ernstzunehmende lmplikationen für das geistige und indi- rekt auch das politische Leben hat" (RA 190).

Statt eines weiteren Vergleiches der Parallelen zu un- ternehmen, will ich hier die Unterschiede zwischen Bour- dieus und Cassirers Anschauungen aufzeigen und beson- ders den Punkt suchen, an dem ihre Differenzen am klar- sten zutage treten können.

2. MACHT UND SELBSTBEFREIUNG

"Das Urteil des Gerichts ist nichts anderes als ein Symbol, und es besitzt keine andere Art von Wirkung als jene, welche zu einem gewissen Grade zu jedem genuinen Symbol gehört."

Charles Sanders Peirce6

Bourdieu und Cassirer dachten in ganz anderen sozialen Räumen. in der Nachkriegsphilosophie in Europa, zumal in Frankreich, war das Problem der Macht keine bloß akade- mische Frage von Nietzscherezeption. Wie bei Foucault oder Barthes dreht sich Bourdieus Denken um "Macht".

Cassirer hat die Philosophie der symbolischen Formen in der Weimarer Republik ausgearbeitet, in einer Zeit, in der er auf die Kultur vertrauen zu können meinte; in seinen späte- ren Werken sah er die Dinge kritischer. Bourdieu kritisiert aber nicht Cassirers Theorien, sondern seinen Stil, den er akademisch und neokantisch-rationalistisch nennt (LSP 150).

Bourdieus und Cassirers Ansichten gehen auseinander gerade im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Macht. Bei Bour- dieu ist Macht die entscheidende Kategorie in seiner Kul- turbetrachtung, während das scheinbar Zentrale, das Sym- bolische, seine Zentralität dadurch gewinnt, daß Bourdieu das Symbolische als die entscheidende Form der Macht darstellt. Keine Macht ist so stark wie symbolische Macht, denn alle praktizierte Macht in menschlichen Gesellschaften hängt von der symbolischen Ordnung ab. "Politik ist der Ort schlechthin symbolischen Wirkens" (SR 39).

Cassirer schreibt in der Tat einen "klassischen" Stil, aber er spricht nicht die Sprache des Rationalismus: "Ver- nunft" gehört nicht zu seinen Begriffen; diese sei für ihn

"vage und unbestimmt" und nur dann sinnvoll, wenn man ihr die "differentia specifica" hinzufügt (PE 6). Aus animal ratio- nale wird animal symbolicum, statt Vernunft ist die T eilnah- me an symbolischen Formen das Entscheidende am Men- schen. Anima! symbolicum ist und bleibt "a mythical animal"

und Mythos ist keine historische Wirklichkeit, sondern "a permanent element in human culture"J Jedoch ist das Symbolische - und nicht die Macht - das Zentrum von Cassirers Kulturbetrachtungsweise. Deshalb kann er Kultur den Prozeß der menschlichen Selbstbefreiung nennen.

Diese Behauptung basiert auf keiner inhaltlichen Anthropo- logie, weder auf einem Rousseauschen Vertrauen in eine allgemeine bonte naturelle der Menschen noch auf einer

9

(12)

Verehrung für die "höchsten Exemplare" wie bei Nietzsche.S ln seinen letzten Schriften spricht er am deutlichsten seine Ansicht aus: das Symbol gewährt die Mittel für eine mögli- che Befreiung von Angst, Unterdrückung und Unwissenheit, gleichwohl analysiert er ebenfalls im Spätwerk auch noch ganz andere Möglichkeiten. Albert Speer meinte in den SpandauerT agebüchern, Cassirer habe in "The Myth of the State", wo er die Theorie der technischen lnstrumentalisie- rung des mythischen Denkens ausarbeitet, das Einmalige und Neue im dritten Reich richtig erkannt: die neu gefunde- ne Möglichkeit der Auslöschung selbstverantwortlicher Per- sönlichkeiten, die Ausschaltung des rationalen Wider- stands.9 Die Öffentlichkeit einer schriftlichen Gesellschaft, auch Radio und Film, können bedient werden, um mythi- sche Formeln zu verbreiten und so zur wirkungsvollsten al- ler Herrschaftsmittel werden, denn so werden Menschen von innen durch ihre eigenen Phantasien und Emotionen gelenkt und nicht bloß von außen gesteuert.

Bourdieus und Cassirers Theorien sind vereinbar, ja übereinstimmend, was die Macht des Symbolischen betrifft.

Seide vermeiden eine Verherrlichung oder mysteriöse Her- vorhebung von Macht. Wogegen Foucaults Schriften trotz ihrer empirischen historischen Orientierung wie Offenba- rungen einer höheren, allumfassenden Macht wirken, mit Foucault in der Rolle ihres Deuters. Bourdieu und Cassirer kennen so eine denkerische Überheblichkeit nicht. Cassirer lobt die Vertragstheorie des Naturrechts, weil sie unmyste- riös ist: "nothing is less mysterious than a contract", sagt er.

Bourdieus politische Lesart von Heidegger soll in jeder Hin- sicht zur Ernüchterung in der Heidegger-lnterpretation füh- ren.

Doch auch wenn Bourdieu und Cassirer in ihren eige- nen Darstellungsweisen bewußt sachlich vorgehen, sehen sie dennoch andere Möglichkeiten, sich von Macht zu be- freien.

Jede Wissenschaft ist auf symbolische Darstellung an- gewiesen, ganz gleichgültig, welche Methoden sie verfolgt.

Sprache befähigt uns, die Weit festzuhalten und zu klassifi- zieren. Es ist bezeichnend, daß Cassirer in seinem Essai

"Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt" sagt, Sprache erschließt "erst eigentlich" die "soziale Weit" (SAG 140) (vor der dinglichen Weit), und daß er dabei den Auf- bau von sozialen "Klassen" unerwähnt läßt. ln Cassirers Schriften finden wir überall die Rede von "Kultur" oder von ganzen Kulturen, aber von "Sozialklassen" kaum ein Wort.

Aber Cassirer vergleicht die Sprachgemeinschaften: "Der Fremdsprachige erscheint als der Fremde schlechthin: als der ,Barbar', dem gegenüber keine innere menschlich- sittliche Bindung besteht. Auch der Mensch der höheren geistigen Kultur wird sofort zum ,Barbar', sobald er sich in- nerhalb der Gemeinschaft, in der er steht, nicht mehr sprachlich verständlich machen kann" (SAG 143). Selbst wenn Cassirer soziologische Prozesse beschreibt, spricht er als Symboltheoretiker.

Bourdieus bekanntester Gedanke, der des "symboli-

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sehen Kapitals", deutet auf eine tiefer gehende Divergenz.

Der Gedanke, daß Symbole "Kapital" darstellen, ist nicht bloß metaphorisch, denn dies meint nicht nur die Vorfüh- rung von Kultur, ähnlich wie Veblens conspicious consump- tion, sondern die Aneignung von Bildung mit dem Einsatz des "Wertvollsten und Rarsten" aller Zahlungsmittel: der ei- genen Lebenszeit. Bildung kann man nur "durch die anhal- tende Investition von Zeit und nicht rasch oder auf fremde Rechnung" (FU 440) erwerben. Selbst wenn Bourdieu sym- bolische Prozesse beschreibt, spricht er als Soziologe.

Doch wenn Bourdieu symbolische Prozesse (wie z. B.

Sprechen) mit Begriffen aus der Ökonomie (Preis, Markt, Profit, etc.) analysiert, um einen genaueren Blick für sym- bolische Machtprozesse zu schaffen und zu schärfen, ist das kein ökonomischer Reduktionismus. Insofern hat er die Philosophie der Symbolischen Formen um eine Dimension erweitert.

Der Unterschied zwischen Bourdieu und Cassirer liegt in ihren Auffassungen von dem, was Cassirer die "kritische Kräfte" der Kultur nannte - ästhetische, ethische und intel- lektuelle. Wir finden ihn in Cassirers Behauptung, Kultur ist der Prozeß der menschlichen "Selbstbefreiung". Cassirer begründet diese Behauptung mit seiner Symboltheorie, aber eine pauschale Formel dafür gibt er nicht, denn dieser Befreiungsprozeß sieht in jeder symbolischen Form anders aus. ln Bourdieus Soziologie der symbolischen Formen muß eine solche Behauptung unrealistisch sein, denn eine Befreiung aus Machtverhältnissen ist nur sehr bedingt, wenn überhaupt möglich. Cassirers Behauptung läuft Ge- fahr, das politische Feld ganz zu verlassen und in den Idea- lismus zurückzufallen. Man könnte Cassirers Symbolphilo- sophie als apolitisch bezeichnen, und so wäre die Grenze zu Bourdieus Auffassungen gezogen.

Aber Cassirer sieht in Symbolismus keine zeitlose tran- szendentale Instanz (wie Apels transzendentale Semiotik).

"Die Geschichte der Menschheit lehrt, welche Mühe es ko- stet und welcher geistig-sittlichen Anstrengung es bedarf, den Gedanken einer übersprachlichen Gemeinschaft zu erfassen, - einer humanitas, die nicht durch den Gebrauch einer bestimmten Sondersprache zusammengehalten und konstituiert wird" (SAG 143). Für Cassirer dient der Sym- bolprozeß zunächst der Bildung von Gruppenidentität und Zugehörigkeit, indem symbolische Praktiken (Ritualen) und Lebensformen in Erzählungen tradiert werden. Diese sym- bolischen Organisationen unterscheiden dann die eine Ge- meinschaft von der anderen.1o Cassirer war der Ansicht, daß Machiavelli das Grundproblem des modernen politi- schen Lebens zuerst erkannte: das in der Scholastik aus- formulierte Weltbild der hierarchisch geordneten Weit habe er an der entscheidenden Stelle angegriffen. Er zerstörte den Grundstein dieser Tradition - das hierarchische Sy- stem.11 Die Hierarchie der Gesellschaft hat für Machiavelli keine metaphysische Legitimation mehr. Soziale Prozesse können nur noch in Freiheit und ohne Vorbild organisiert werden. So wird das politische Leben zu einem Kampf von

JOHN MICHAEL KROIS

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