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Archiv "Christian Morgenstern (1871–1914): Ein „tuberkulöses“ Dichterleben" (21.03.2014)

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A 506 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 12

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21. März 2014

CHRISTIAN MORGENSTERN (1871–1914)

Ein „tuberkulöses“ Dichterleben

„Wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht hätte, wie würde ich dann wohl solch ein Krankenleben ertragen können.“ (1)

D

as Leben des Dichters gleicht einer Reiseroute mit Statio- nen in Nord- und Süddeutschland, der Schweiz, Österreich, Ungarn, Italien und Norwegen. „Ich irre in diesen europäischen Ländern um- her wie ein Vogel im Treibhaus. Die Menschen glauben, weil ich von ei- nem Ort zu andern reise, lebte ich ein beneidenswertes Leben“ (2), re- sümiert der am 6. Mai 1871 in München geborene Christian Mor- genstern in einer autobiografischen Notiz. Zunächst eine Kindheit und Jugend zwischen oberbayerischen Seen, Inspirationsquelle für den Va- ter und Landschaftsmaler Carl Ernst, und den Alpen, Heilquelle zur Linderung des Lungenleidens der bereits 1881 verstorbenen Mut- ter Charlotte. Später ein Dichterle- ben zwischen ständiger Suche nach literarischen Erwerbsquellen und bestmöglichen klimatischen Le- bensbedingungen des an Tuberku- lose Erkrankten. Doch nicht nur äu- ßerlich bleibt Morgenstern Zeit sei- nes Lebens ein Wanderer, „einer, der ohne Führer, nur so nach Karten und gelegentliche Auskunft von Hirten und Wanderern ins Hochge- birge hineinsteigt“ (3).

Morgensterns Leben und sein dichterisches Schaffen wurden vor allem von seiner Krankheit und den damit einhergehenden Schaffens- krisen und Motivationsschüben be- gleitet und bestimmt. Er durchlebte

„Stunden, Tage, Wochen vollkom- mener Gesundheit [. . .] Zeiten voll herrlichsten Blühens“, daneben sol- che des „Zerfalls“ (5). Humoris- tisch-Fantastisches wechselte mit Poetisch-Grüblerischem, Heiterkeit mit Melancholie, Geselligkeit mit Einsamkeit. Sein rastloses Umher- ziehen zwischen Hotels, Pensionen, Mietwohnungen und Sanatorien be- dingte darüber hinaus die äußere Form seines Werkes: Gedichte, Ge-

schichten, Essays, Szenen, Epi- gramme, Sprüche und Aphorismen, aber auch seine Arbeitsweise: nicht gezielt im Hinblick auf den Rah- men einer künftigen Sammlung, sondern zwischen „all dem Luft- schnappen, Luftbaden etc.“ (6).

Höhenluft, Seeklima und Liegekur

Während eines Gastsemesters im Rahmen seines Nationalökonomie- studiums 1893 in München fiel ihn erstmals „das Leidenserbe der Mut- ter“ an und zwang ihn zu einem Kuraufenthalt im schlesischen Bad Reinerz und anschließender

„strengster Zimmerhaft“ in Breslau.

In der Zeit seiner „Gefangen- schaft“, umgeben von den „schöns- ten Geistern deutscher Nation“ – Goethe, Schiller, Herder, Heine –, unternahm er vermehrte Anstren- gungen, sich dem „wirklichen

und einzigen Lebensberufe, dem Schriftstellerberufe, mit ungeteilter Kraft zuzuwenden“ (7). In diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft mit den Schriften und dem Men- schenbild Friedrich Nietzsches, un- ter dessen Einfluss Morgensterns Leben und dichterisches Schaffen der folgenden Jahre standen. Ihm widmete er auch seinen einzigen vollendeten Zyklus humoristisch- fantastischer Dichtungen In Phan- ta’s Schloss.

Eine besonders intensive Schaffensphase

Die Arbeit hieran begann er im fol- genden Kursommer, den der Drei- undzwanzigjährige im Harz ver- brachte. Von der Kurverwaltung in Bad Grund veranstaltete „drei soge- nannte(r) Dilettanten-Abende“ ga- ben ihm außerdem Gelegenheit,

„mit dem Vortrag einer Anzahl mei- ner Gedichte zu debütir(en)“ (8).

Im Anschluss an diesen Aufenthalt fühlte er sich „kräftig zu fröhlichem Schaffen“ (9) und unternahm den für die Literaturgeschichte so fol- genreichen Ausflug zum Galgen- berg, wo er mit seinen Freunden den künstlerischen Verein der Gal- genbrüder gründete. Die Sammlung der von Morgenstern getexteten und von dem Dramaturgen Julius Hirschfeld vertonten grotesken Galgenlieder wurde 1905 unter dem gleichnamigen Titel publiziert.

Trotz der Erkenntnis, dass es in ihm nachgewirkt habe, „daß meine Mutter das Gebirg so über alles lieb gehabt hat“ (10), entschloss sich Morgenstern im folgenden Winter zu einem Aufenthalt an der Nord- see. Dem Trubel auf Westerland entflohen, reifte in ihm im abgele- genen Kurhaus Kampen der Plan eines poetischen Pendants zu Beet- hovens 9. Symphonie. Dieses mit großem Anspruch begonnene Pro-

Foto: picture alliance

Ein kurzes Dich- terleben mit lan- gen Sanatoriums- aufenthalten in den Bergen und an der Küste für Christian Morgenstern

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21. März 2014 jekt – „die Symphonie enthalte al-

les, was ich empfinde, das Ewig- Überzeitliche, wie das Zeitliche, im Augenblick Bedingte [. . .]“ (11) – blieb unvollendet, denn „ich kann zur Zeit nichts Dichterisches produ- zieren“ (12).

Abgeschlossen wurden hingegen im folgenden Sommer bei einem Aufenthalt in Tirol die thematisch und stilistisch vielseitigen Arbeiten (Polemisches und Sentimentales, Natur- und Großstadtimpressionen, Kunstbetrachtungen und Gesell- schaftskritik, Tageseindrücke und -stimmungen) der späteren Ge- dichtsammlungen Auf vielen Wegen (1897) und Ich und die Welt (1898).

Zur Verbesserung seiner Sprach- kenntnisse bereiste Morgenstern Norwegen, wo er neben Hendrik Ibsen auch den Musiker Edvard Grieg kennenlernte. Der Bandtitel Sommer, unter dem 1900 die dort entstandenen Liebes- und Naturge- dichte veröffentlicht wurden, war ebenfalls Programm. Selige Leich- tigkeit kennzeichnete ihren Stil, die Genauigkeit der in ihnen beschrie- benen Naturbilder zeugte von dem Erbe seines Vaters und beider Groß- väter. „Ich bin Maler bis in den letz- ten Blutstropfen hinein. – Und das will heraus ins Reich des Wortes, [. . .]“ (13). Morgenstern betrachte- te die Zeit seines eineinhalbjährigen Aufenthaltes als „ein Intermezzo wie ein Stück blauer Himmel“ (14), als einen „besonders lichten Fleck in meinem Leben“ (15).

Nach einem Arztbesuch in Ber- gen fand dies ein rapides Ende durch einen „dunkle(n) Tropfe(n), der mir heute in den Becher fiel, [. . .]“ (16). Zehn Monate zurück in Berlin erkrankte der Dichter erneut.

Nach einem Zwischenaufenthalt in einem Sanatorium in Schlachtensee machte er eine „Liege-(Luft)Kur“

bei dem Lungenspezialisten Hofrat Dr. Turban in Davos. Entgegen aller

Zauberberg-Euphorie ist sein „Zu- stand (…) nur zu oft trübe; denn wie soll das alles weitergehen, mit diesem Leben und mit der Kunst“

(17). Auch 1902 blieb er in der Schweiz, am Vierwaldstätter See und im Gebirgskurort Arosa.

Nach vorübergehender gesunder Periode, die er in Berlin verbrachte, holte ihn 1905 die Krankheit wieder ein. Im Sanatoriumssommer auf Föhr und Sanatoriumswinter in Bir- kenwerder überarbeitete er aus dem Mittelhochdeutschen Gedichte von Walther von der Vogelweide, las Meister Eckart und Jakob Böhme.

Die während seines achtmonatigen Nordseeaufenthaltes entstandenen Werke, die später Eingang fanden in seine Sammlungen Einkehr (1910) und Ich und Du (1911), so-

wie vor allem das Tagebuch eines Mystikers (posthum 1918) zeugen von seiner durch diese Lektüre an- geregten und fortdauernden Be- schäftigung mit der Mystik und der hieraus resultierenden neuen reli- giösen Weltanschauung. Sein mys- tisches Empfinden wurde verstärkt, als er sich – gleichzeitig beseelt von einem schwermütigen Einsiedel- wunsch und euphorischem Raum-

schwindelgefühl – einige Monate in Meran und in der Schweiz vollkom- men zurückzog.

Wir fanden einen Pfad ist nicht nur der Titel seiner 1914 posthum erschienenen Gedichtsammlung, sondern steht symbolisch für die letzten Lebensjahre des Wanderers.

„Ich hatte mich im Hochgebirge verstiegen, [. . .]. Da traf ich dich, in ärgster Not: den Anderen!“ (18), dichtete Morgenstern im Rückblick auf die zwei wichtigsten Begeg- nungen in seinem Leben, mit denen eine letzte Phase der „[. . .] immer wieder auferstehende(n) Lebens- kraft“ (19) eingeleitet wurde. „Der andere war Sie“ – Margareta Gose- bruch –, „die mein Leben fortan teilte“ und ihn begleitete auf dem

„Weg theosophisch-anthroposophi- scher Erkenntnisse“ (20). Nach Nietzsche, Eckardt und Böhme, schloss er sich 1909 einem neuen

„Menschheitsführer“ (21) an, dem Philosophen und Esoteriker Rudolf Steiner. Morgenstern studierte phi- losophische Schriften, unternahm Reisen zu Vorträgen und Kongres- sen, wurde Mitglied der Theoso- phischen Gesellschaft. 1911 er- krankte Morgenstern erneut schwer. Nach weiteren Sanatori- umsaufenthalten in Arosa, Davos und Bozen starb er am 31. März 1914 in Meran (22).

Sandra Krämer Sandra.Kraemer@studium.uni-hamburg.de

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit1214 1892 begann Christian Morgenstern ein Studium

der Nationalökonomie in Breslau, gründete mit Kommilitonen die patriotische Zeitschrift „Deut- scher Geist“ und verfasste erste humoristisch-sa- tirische Aufsätze und Gedichte. Zwei Jahre später wechselte der Student nicht nur die Universität, sondern auch das Fach, von Breslau nach Berlin, statt Wirtschaft nun Kunstgeschichte und Archäo- logie. Doch auch hier ist das Studium nur Neben- sache, denn: „Mich hält die Poesie, die Kunst, der Drang nach Wahrheit zu sehr im Bann“ (4). Er wurde Mitglied im Klub der „Täglichen Rundschau“, schrieb für das Feuilleton verschiedener Zeit- schriften („Magazin für Literatur“, „Bremer litera-

rische Blätter“, „Vossische Zeitung“, „Hannover- scher Kurier“ und andere), übersetzte Werke von Henrik Ibsen, Knut Hamsun, Bjørnstjerne Bjørnson und August Strindberg und gab erste Gedicht- sammlungen heraus. 1902 brach der ehemalige Kunstgeschichtsstudent und inzwischen etablierte freie Schriftsteller zu einer einjährigen Bildungs- reise durch Italien auf. Zurückgekehrt nach Berlin arbeitete er als Dramaturg beim Theaterverlag Felix Bloch Erben, als Lektor bei Bruno Cassirer und leitete die Redaktion der neugegründeten Halbmonatsschrift „Das Theater“. Neben seinen Brotberufen widmete er sich vordergründig der eigenen Dichtung.

STUDIUM, BROTBERUF, SCHRIFTSTELLEREI

Entgegen aller Zauberberg-Euphorie ist Morgensterns

„Zustand (. . .) nur zu oft trübe; denn wie soll das alles weitergehen, mit diesem Leben und mit der Kunst“.

T H E M E N D E R Z E I T

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LITERATURVERZEICHNIS ZU HEFT 12/2014, ZU:

CHRISTIAN MORGENSTERN (1871–1914)

Ein „tuberkulöses“ Dichterleben

„Wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht hätte, wie würde ich dann wohl solch ein Krankenleben ertragen können.“ (1)

LITERATUR

1. Autobiographische Notiz vom 14. Oktober in Meran. In: Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuchnotizen.

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Margareta Morgenstern.

München 1918; 25–7.

2. Autobiografische Notiz vermutlich Jul i 1907 entweder in Wolfenschiessen, Zürich oder Teningerbad. In: Ebd.; 30.

3. Autobiografische Notiz von 1906. In:

Ebd.; 29.

4. Brief an Emma Schertel und Charlotte Zeitler am 21. Mai 1890 aus Sorau. In:

Morgenstern M: Christian Morgenstern.

Ein Leben in Briefen. Wiesbaden 1952;

11.

5. Autobiografische Notiz vom 14. Oktober in Meran. In: Stufen; 25–7.

6. Brief an Luise Dernburg am 11. Juli 1905 von der Insel Föhr. In: Ein Leben in Brie- fen; 185.

7. Brief an Clara Ostler am 30. Oktober 1893 aus Breslau. In: Ebd.; 43–5.

8. Brief an Friedrich Kayssler 31. August 1894 aus Bad Grund. In: Ebd.; 55–6.

9. Brief an Clara Ostler am 8. Oktober 1894 aus Berlin. In: Ebd.; 56–7.

10. Brief an Clara Ostler am 23. November 1895 aus Berlin. In: Ebd.; 71–2.

11. Autobiografische Notiz von August/Sep- tember 1895 auf Föhr/Sylt. In: Stufen; 77.

12. Brief an Friedrich Kayssler am 2. Septem- ber 1895 von der Insel Sylt. In: Ein Leben in Briefen; 69–70.

13. Brief an Marie Goettling am 2. Juni 1894 aus Berlin. In: Ebd.; 53.

14. Brief an Marie Goettling am 26. August 1898 aus Nordstrand. In: Ebd.; 104–6.

15. Brief an Julius Bab am 9. Juni 1905 aus Berlin. In: Ebd.; 180–1.

16. Dunkler Tropf entstanden nach ärztlicher Diagnose in Bergen, Juli/August 1899. In:

Morgenstern C: Melancholie – Gedichte (1906). Berlin 1921; 72.

17. Brief an Efraim Frisch am 5. Februar 1901 aus Davos. In: Ein Leben in Briefen;

122–3.

18. An den Andern entstanden wahrscheinlich im August 1911 in Arosa. In: Morgenstern C: Wir fanden einen Pfad – Gedichte (1914), München 1940; 32.

19. Autobiografische Notiz vom 14. Oktober in Meran. In: Stufen, 25–7.

20. Autobiografische Notiz von 1913. In:

Ebd.; 11.

21. Brief an Alfred Guttmann am 25. Mai 1909. In: Ein Leben in Briefen; 370.

22. Bauer M: Christian Morgenstern. Leben und Werk. Vollendet von Margareta Mor- genstern unter Mitarbeit von Rudolf Mey.

München 1954. / Beheim-Schwarzbach, M: Christian Morgenstern mit Selbstzeug- nissen und Bilddokumentationen. Reinbek bei Hamburg 2000. / Böhme H: Tuberku- löse Dichter der S

1 Struktur. Ein Beitrag zur Integrationstypologie. Marburg 1932. / Kretschmer E (Hg): Christian Morgenstern.

Ein Wanderleben in Text und Bild. Wein- heim und Berlin 1989.

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