Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 274. Juli 2008 A1491
P O L I T I K
stellt klar, dass sie zum Kern der Sa- che trotz mangelnder Detailkennt- nisse vorgestoßen sind: „Ein Führ- hund muss verlässlich sein.“ Dann soll Rolf Schwanitz, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, kundtun, was man ändern könnte.
Schwanitz meiert den Antragstel- ler nach allen Regeln der adminis- trativen Kunst ab. Erstens seien quantitative Fragen „nicht unerheb- lich“, wenn es um die Regelung ei- nes Berufsbilds ginge. Soll heißen:
Wegen so ein paar Blindenführhund- ausbildern gehen wir doch nicht ran ans SGB V. Zweitens gehe es doch um sehr geringe Fallzahlen im Ver- gleich zu vielen Heil- und Hilfsmit- teln, nicht wahr? Drittens seien im BMG gar keine Beschwerden von Blinden bekannt, fügt von Schwa- nitz an. Und dann zitiert er aus all den schönen Qualitätsvorgaben zu Heil- und Hilfsmitteln und erinnert an die Prüfpflicht der Kassen. Im Klartext: Da machen wir gar nichts.
Plötzlich ist einem die Heiterkeit abhandengekommen. Schon klar, dass nicht wegen jedes einzelnen Blinden oder Lahmen ein Gesetzes- paket aufgeschnürt werden kann.
Aber im großzügigen Saal des Bun- destags lässt sich gerade nachvoll- ziehen, wie kleinlich man manche kranken oder behinderten Men- schen durch die Maschen der schö- nen Gesetze und Verordnungen fal- len lässt, die doch stets von guter Versorgung, Qualität und Wirksam- keit künden.
Deutlich wird das auch, als eine Mutter von ihrer schwerstbehinder- ten achtjährigen Tochter erzählt.
Das Kind braucht nicht irgendwel- che Hilfsmittel, sondern sehr genau angepasste. Ihr hilft kein kostengüns- tiger Lieferant weit weg, sondern der um die Ecke, der ein bisschen Fantasie mitbringt und sich in das Mädchen einfühlen kann.
„Sie sagen, rechtlich ist alles ge- regelt“, hat Ausschussmitglied Mar- lene Rupprecht (SPD) den langen Vortrag von Staatssekretär Schwa- nitz zusammengefasst. Sicher, recht- lich ist im Gesundheitswesen fast alles perfekt geregelt. Aber nach den individuellen Bedürfnissen von Kranken – immer weniger. I Sabine Rieser
D
er Grund für die Aufregung mehrerer Hilfsmittelherstel- ler, Vertreter von Sanitätshäusern und Homecare-Unternehmen sowie Selbsthilfevereinigungen ist nicht neu: Vom 1. Januar 2009 an, so steht es im GKV-Wettbewerbsstärkungs- gesetz (GKV-WSG), soll die Ver- sorgung mit medizinischen Hilfs- mitteln wie Bandagen, Rollstühlen, Prothesen oder Produkten zur In- kontinenz ausschließlich durch Ver- einbarungen zwischen Krankenkas- sen und festen Vertragspartnern or- ganisiert werden. Diese Regelung, findet Klaus Grunau vom Vorstand des Bundesverbandes Medizintech- nologie (BVmed), sei schlichtweg„Murks“. Und da das Bewusstsein der Bevölkerung für diesen
„Murks“ mehr als ein Jahr nach In- krafttreten der letzten Gesundheits- reform kaum noch vorhanden sei, habe man nun das Aktionsbündnis
„meine Wahl“ gegründet, erklärte Grunau Mitte Juni in Berlin.
Neue Ansprechpartner, neue Fehlerquellen
In Deutschland sind nach Angaben des Bündnisses rund sechs Millio- nen Menschen auf Hilfsmittel ange- wiesen. Bei welchem Sanitätshaus oder Homecare-Unternehmen diese Patienten ihre Hilfsmittel beziehen, stand ihnen bislang frei. So entstan- den gewachsene Kundenbindungen zum Anbieter um die Ecke. Bei den im GKV-WSG geregelten Aus- schreibungen nach § 127, Absatz 1 SGB V können Krankenkassen sich für den Anbieter von Hilfsmitteln entscheiden, der das Ausschrei- bungsverfahren gewonnen hat. Hat ein Sanitätshaus eines Stomapatien- ten keinen Vertrag mit der Kranken- kasse des Betroffenen, kann es den Patienten nicht mehr versorgen.
Oder der Patient wechselt seine
Krankenkasse beziehungsweise zahlt hinzu. „Damit werden gewachsene Versorgungsstrukturen zerstört“, är- gert sich Grunau.
Nicht nur das. Dr. Martin Danner beobachtet zudem eine verstärkte Orientierung der Krankenkassen am Preis – nicht an der Qualität der Hilfsmittel. „Viele der bereits durchgeführten Ausschreibungen weisen eklatante Mängel bei der qualitativen Leistungsbeschreibung auf“, so der Leiter des Referats Ge- sundheitspolitik und Selbsthilfeför- derung der Bundesarbeitsgemein- schaft Selbsthilfe (BAGS). Dies ha- be sich beispielsweise bei einer Ausschreibung der AOK Hessen zur Versorgung mit Antidekubitus-Sys- temen gezeigt. „Qualitätskriterien, die zuvor mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen vereinbart und als Standards in das Hilfsmittelver- zeichnis aufgenommen wurden, wurden ignoriert“, sagt Danner. Bis- lang haben nach Angaben des Bünd- nisses mehr als 20 gesetzliche Kran- kenkassen Ausschreibungen initi- iert. Bis Ende 2009 gilt eine Über- gangsfrist, in der die Hilfsmittelver- sorgung wie bisher erfolgen darf.
Auch aus Anbietersicht birgt die neue Rechtslage Probleme. Michael Heil leitet seit 15 Jahren einen Re- hafachhandel, er hat mit vielen Pati- enten täglich Kontakt. „Wenn der Kontrahierungszwang fällt, werden langjährige Beziehungen zwischen Arzt, Therapeut, Techniker und Ver- sorger aufgegeben und für jedes Hilfsmittel ein anderer Lieferant, ein anderer Ansprechpartner, eine immer wieder neue Fehlerquelle initiiert“, so Heil. Das führe zu unnötigen Kosten und Neuanam-
nesen. I
Martina Merten
HILFSMITTEL
Qualität wird ignoriert
Von 2009 an steht es Versicherten nicht mehr frei, Hilfsmittel am Ort ihrer Wahl zu beziehen. Das Aktions- bündnis „meine Wahl“ will das nicht hinnehmen.
Infos: www.buendnis-meine-wahl.de