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Die Arbeitslosen von Marienthal: Eine Besprechung

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Patrick Heiser

Die Arbeitslosen von Marienthal

Eine Besprechung

Beitrag

Fakultät für

Kultur- und

Sozialwissen-

schaften

(2)

Die Arbeitslosen von Marienthal

Eine Besprechung von Dr. Patrick Heiser FernUniversität in Hagen

patrick.heiser@fernuni-hagen.de März 2018

Diese Besprechung ist erschienen in der Reihe „Lieblingsbücher der Lehrenden“

hrsg. vom Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen

https://www.fernuni-hagen.de/soziologie/lehre/lieblingsbuecher.shtml Es gibt nicht viele Bücher, die ich selbst schon mehrfach mit Freude gelesen habe, die ich schon einige Male an Kolleginnen und Kollegen verschenkt habe und mit denen sich auch meine Studierenden offenbar vergleichsweise gern auseinandersetzen.

Erst recht gibt es nicht viele wissenschaftliche Bücher, die in acht Sprachen übersetzt und sogar verfilmt worden sind. All dies trifft auf die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ zu, die von Paul F. Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel erstmals im Jahr 1933 publiziert und 1988 von Karin Brandauer unter dem Titel

„Einstweilen wird es Mittag“ verfilmt wurde – wie Sie gleich se- hen werden, das Zitat eines Studienteilnehmers.

Worum es geht

Es geht um Marienthal, ein österreichischer Industrieort unweit von Wien, der bis zum Ende der 1920er Jahre von der Textilin- dustrie gelebt hatte. Infolge der Weltwirtschaftskrise mussten zwischen 1929 und 1930 jedoch alle entsprechenden Fabriken Marienthals nach und nach geschlossen werden – nahezu die gesamte Bevölkerung wurde innerhalb kürzester Zeit arbeitslos.

Diese Verdichtung einer Krise weckte das Interesse Lazarsfelds, seinerzeit Leiter der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle an der Universität Wien. Ihm bot sich in Marienthal so etwas wie

eine Laborsituation, in der die Folgen von Arbeitslosigkeit an einem Ort überschaubarer Größe in all ihren Facetten untersucht werden konnten – eine ausgesprochen seltene und durchaus vielversprechende Aus- gangslage für empirische Forscherinnen und Forscher. Über die Zielsetzung ihrer Studie schreiben Jahoda und Zeisel im Vorwort zur ersten Auflage:

„Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war, mit den Mitteln moderner Erhebungsmethoden ein Bild von der psychologischen Situation eines arbeitslosen Ortes zu geben. Es waren uns von Anfang an zwei Aufgaben wichtig. Die inhaltliche: zum Problem der Arbeitslosigkeit Material beizutragen – und die methodische: zu versuchen, einen sozialpsychologischen Tatbestand umfassend, objektiv darzustellen.“ (Jahoda et al. 2014 [1933]: 9)

Foto: Patrick Heiser

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2 Das Interesse der Forscher/innen war mithin auf den von Arbeitslosigkeit geprägten Sozialraum gerichtet, den sie – wie es im Untertitel ihrer Studie heißt – in Form eines „Soziogramms“ zu beschreiben und deuten versuchten. Im Zentrum ihrer Untersuchung stand also nicht der bzw. die einzelne Arbeitslose, sodass wir es weniger mit einer subjektbezogenen psychologischen als mit einer genuin sozialwissenschaftlichen Studie zu tun haben. Zu deren Durchführung hielten sich Jahoda und Zeisel mit Unterstützung eines 17-köpfigen Teams unter der Leitung Lazarsfelds von November 1931 bis Mai 1932 in Marienthal auf. Hier beeindruck- ten sie insbesondere drei Beobachtungen:

• Obwohl die Arbeitslosen von Marienthal über mehr Zeit verfügten, nutzten sie immer seltener die öffentliche Bibliothek, lasen weniger Zeitungen und besuchten immer seltener den Turn-, Gesangs- oder Theaterverein.

• Obwohl die Arbeitslosen unter ihrer ökonomischen Situation litten, sank ihr politisches Engage- ment. Sie besuchten immer seltener politische Versammlungen und beendeten ihre Mitgliedschaf- ten in politischen Parteien.

• Die Arbeitslosen unternahmen außerdem weniger Versuche, in anderen Orten Arbeit zu finden, als diejenigen Bewohner/innen Marienthals, die noch Arbeit hatten.

Die Forscher/innen charakterisierten Marienthal daher als „müde Gemeinschaft“, die von Apathie, geringe- rem gesellschaftlichen Engagement und erhöhtem Misstrauen gegenüber den Mitmenschen geprägt war.

Die Haltung der Marienthaler/innen beschrieben sie in Form der folgenden Typologie:

• Die Resignierten (48 Prozent)

„Das gleichmütig erwartungslose Dahinleben, die Einstellung: man kann ja doch nichts gegen die Arbeitslosigkeit machen, dabei eine relativ ruhige Stimmung, sogar immer wieder auftauchende heitere Augenblicksfreude, verbunden mit dem Verzicht auf eine Zukunft, die nicht einmal mehr in der Phantasie als Plan eine Rolle spielt, schien uns am besten gekennzeichnet durch das Wort ‚Re- signation‘.“ (ebd.: 70)

• Die Ungebrochenen (16 Prozent)

„Ihre Haushaltungsführung ist ebenso geordnet wie die der Resignierten, aber ihre Bedürfnisse sind weniger reduziert, ihr Horizont ist weiter, ihre Energie größer.“ (ebd.: 71)

• Die Verzweifelten (11 Prozent)

„Diese Menschen sind völlig verzweifelt, und nach dieser Grundstimmung erhielt die Verhaltens- gruppe ihren Namen. Wie die Ungebrochenen und Resignierten halten auch sie in ihrem Haushalt noch Ordnung, pflegen auch sie ihre Kinder.“ (ebd.: 71)

• Die Apathischen (25 Prozent)

„Mit apathischer Indolenz läßt man den Dingen ihren Lauf, ohne den Versuch zu machen, etwas vor dem Verfall zu retten. […] Das Hauptkriterium für diese Haltung ist das energielose, tatenlose Zusehen. Wohnung und Kinder sind unsauber und ungepflegt, die Stimmung ist nicht verzweifelt, sondern indolent.“ (ebd.: 71f.)

Die Haltung der Arbeitslosen von Marienthal schien abhängig zu sein von ihrer ökonomischen Situation. So verfügen die Ungebrochenen über durchschnittlich 34 Schilling pro Monat und Haushalt, die Resignierten über 30, die Verzweifelten über 25 Schilling und die Apathischen über lediglich 19 Schilling. Da seinerzeit in Österreich noch keine wohlfahrtsstaatliche Absicherung existierte, die das Existenzminimum dauerhaft gesichert hätte, kann die Typologie nicht nur als ein statisches Nebeneinander distinkter Haltungen gelesen werden, sondern auch als Stadien eines psychischen Abgleitens, an dessen Ende Verzweiflung und Apathie stehen.

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Die „müde Gemeinschaft“ spiegelt sich beispielsweise in der von den Forscher/innen gemessenen Gehge- schwindigkeiten der Marienthaler Bevölkerung. Sie stellten fest, dass Männer deutlich langsamer gingen als Frauen und auf der gerade einmal 100 Meter langen Hauptstraße deutlich häufiger stehen blieben – die meisten ganze drei Mal. Auf diese Beobachtung stützen die Forscher/innen ihre These vom „doppelten Zeiterleben“ für Frauen und Männer:

„Doppelt verläuft die Zeit in Marienthal, anders den Frauen und anders den Männern. Für die letz- teren hat die Stundeneinteilung längst ihren Sinn verloren. Aufstehen – Mittagessen – Schlafenge- hen sind die Orientierungspunkte, die übriggeblieben sind.“ (ebd.: 84)

Ein weiteres Erhebungsinstrument der Marienthal-Studie bildeten sogenannte Zeitverwendungsbögen. In Form eines Formulars wurden die Teilnehmenden gebeten, stundenweise anzugeben, was sie zu einer be- stimmten Tageszeit getan hatten. Aus einem dieser Zeitverwendungsbögen stammt der oben genannte Filmtitel „Einstweilen wird es Mittag“. Ein arbeitsloser Mann nämlich wusste seine Tätigkeit während 10.00 und 11.00 Uhr nicht anders zu beschreiben, als mit eben jenen Worten. Werfen wir einen Blick auf seinen recht deprimierend wirkenden Zeitverwendungsbogen:

• 06.00-07.00 Uhr: Stehe ich auf

• 07.00-08.00 Uhr: Wecke ich die Buben, da sie in die Schule gehen müssen

• 08.00-09.00 Uhr: Wenn sie fort sind, gehe ich in den Schuppen, bringe Holz und Wasser herauf

• 09.00-10.00 Uhr: Wenn ich hinaufkomme, fragt mich meine Frau, was sie kochen soll; um dieser Frage zu entgehen, gehe ich in die Au

• 10.00-11.00 Uhr: Einstweilen wird es Mittag

• 11.00-12.00 Uhr: (leer)

• 12.00-13.00 Uhr: 1 Uhr wird gegessen, da die Kinder aus der Schule kommen

Frauen hingegen waren trotz ihrer Arbeitslosigkeit nach wie vor mit der Führung des Haushalts und der Versorgung ihrer Kinder beschäftigt – was ihnen mehr Halt und Orientierung bot:

„So ist der Tag für die Frauen von Arbeit erfüllt: Sie kochen und scheuern, sie flicken und versorgen die Kinder, sie rechnen und überlegen und haben nur wenig Muße neben ihrer Hausarbeit, die in dieser Zeit eingeschränkter Unterhaltsmittel doppelt schwierig ist.“ (ebd.: 90)

Was mich fasziniert

Das kleine Büchlein „Die Arbeitslosen von Marienthal“ fasziniert mich aus drei Gründen: wegen seiner Ent- stehungsgeschichte, wegen der Rolle Jahodas als weibliche Forscherin und wegen seiner kreativen Pionier- arbeit.

Als die Studie im Juni 1933 erstmals im Leipziger Hirzel-Verlag erschien, hatten die Nationalsozialisten in Deutschland bereits die Macht übernommen. Da sowohl Lazarsfeld als auch Jahoda und Zeisel jüdische Wurzeln hatten, musste ihre Studie zunächst ohne die Nennung ihrer Namen publiziert werden. Auch dieses für die Forscher/innen sicherlich schmerzliche Vorgehen konnte jedoch nicht verhindern, dass der Vertrieb der ersten Auflage alsbald verboten und die bereits produzierten Exemplare vernichtet wurden. Erst in den nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Auflagen der Marienthal-Studie werden Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel namentlich genannt.

Bemerkenswert ist auch die Rolle Jahodas, die sich als eine der ersten Frauen überhaupt einen Namen als Feldforscherin und sozialwissenschaftliche Autorin machen konnte. Als Aktivistin der Revolutionären Sozia- listen wurde sie 1936 in Wien verhaftet. Aufgrund internationaler Interventionen kam sie zwar nach

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4 neunmonatiger Haft frei, musste Österreich jedoch umgehend verlassen. Zunächst emigrierte sie nach Groß- britannien, ging aber 1945 nach New York, wo sie bis 1958 an der New School for Social Research Sozial- psychologie lehrte und mit den ebenfalls geflohenen Mitgliedern des Frankfurter Instituts für Sozialfor- schung zusammenarbeitete. Im Jahr 1962 wurde Jahoda auf den Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der University of Sussex in Großbritannien berufen, wo sie bis zu ihrer Emeritierung tätig war und im Jahr 2001 verstarb. Aus ihrer Feder stammt der Großteil der Marienthal-Studie – Lazarsfeld hingegen steuerte zu spä- teren Auflagen ein in methodologischer Hinsicht lesenswertes Vorwort bei und Zeisel ein ausführliches Nachwort. Aber nicht nur aufgrund der zentralen Rolle Jahodas ist die – um einen seinerzeit noch nicht bekannten Begriff zu bemühen – Gendergerechtigkeit der Studie bemerkenswert: Zehn weibliche Forsche- rinnen und Hilfskräfte standen sieben männlichen gegenüber. Darüber hinaus wurden männliche und weib- liche Studienteilnehmer/innen in der Studie stringent gleichberechtigt zitiert. Und schließlich beinhaltet die Studie, wie Sie bereits gesehen haben, einen expliziten Vergleich der Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Männer bzw. Frauen.

In methodischer Hinsicht leisteten Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel schließlich Pionierarbeit. Heutzutage etab- lierte Erhebungs- und Auswertungsmethoden nämlich lagen in den 1930er Jahren noch nicht vor. Die For- scher/innen mussten daher selbst kreativ werden und Methoden entwickeln, die auch heute noch wesent- liche Grundlagen für die empirische Sozialforschung bilden. Ihr Soziogramm Marienthals zeichneten sie durch eine originell anmutende Kombination verschiedenster Erhebungsmethoden. Insbesondere war ihnen daran gelegen, nicht nur quantitative Daten wie etwa Arbeitslosenstatistiken zu berücksichtigen, sondern auch das subjektive Erleben von Arbeitslosigkeit zu erfassen. Hierzu erhoben sie qualitative Daten, die bis dato noch nicht wissenschaftlich genutzt worden waren, sondern am ehesten in Form sogenannter „sozialer Reportagen“ von Zeitungen und Schriftstellern vorgelegen hatten. Diesbezüglich schreibt Lazarsfeld in sei- nem Vorwort zur Neuauflage im Jahr 1960 die bemerkenswerten Sätze:

„Es gibt so viel zu tun, dass man nicht seine Zeit mit ‚Methodenstreit‘ vergeuden soll. Eine integrale Soziologie wird mit allen empirischen und analytischen Mitteln an konkrete Probleme heranzuge- hen und dadurch eine realistische Synthese finden.“ (ebd.: 23)

Quantitative Daten wurden beispielsweise in Form der Anzahl von Bibliotheksbesuchen, Zeitungsabonne- ments und Vereinsmitgliedschaften sowie durch die Inventarisierung des Besitzes der untersuchten Haus- halte erhoben; qualitative unter anderem in Form von Interviews, Beobachtungen und Tagebuchanalysen.

Darüber hinaus organisierten die Forscher/innen eine Kleidersammlung und besuchten zunächst 100 Fami- lien, um zu erfragen, welche Kleidungsstücke am dringendsten benötigt würden. Im Anschluss an diese Besuche wurden Beobachtungs- und Gesprächsprotokolle angefertigt. Die Verteilung der gespendeten Klei- der wurde dann zur Akquise von Teilnehmer/innen für ausführliche Interviews genutzt. Dieselben Personen wurden schließlich auch bei anderen Gelegenheiten teilnehmend beobachtet – beispielsweise im Rahmen der ebenfalls von den Forscher/innen veranstalteten Tanz-, Schnittzeichen- und Erziehungsberatungskurse.

Ein derartiges methodisches Vorgehen mutet ausgesprochen kreativ und gegenstandsangemessen an. Die Marienthal-Studie bildet daher zweifellos einen der wichtigsten Meilensteine empirischer – und insbeson- dere qualitativer – Sozialforschung.

Wo Sie weiterlesen können

Engler, Steffani, Brigitte Hasenjürgen. 2002. „Ich habe die Welt nicht verändert“. Lebens-erinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Biographisches Interview mit Marie Jahoda. Weinheim: Beltz.

Heiser, Patrick. 2017. Meilensteine der qualitativen Sozialforschung. Eine Einführung entlang klassischer Studien. Wiesbaden: SpringerVS.

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Jahoda, Marie, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel. 1933/2014. Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziogra- phischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. 24. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhr- kamp.

Müller, Reinhard. 2008. Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Innsbruck: Studienverlag.

Referenzen

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