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Archiv "Helicobacter: Auf zwei Beinen heilt man besser" (27.08.2001)

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D

ie Art und Weise, wie Schulmedi- ziner die Forschungsergebnisse der helicobacter-assoziierten Ul- kuskrankheit gegen die Befunde psy- chosomatischer Forschung zum Krank- heitsbild des Stressulkus instrumentali- sieren, führt zu der Frage, welche Fol- gen dieses rein naturwissenschaftliche Denken für einen praktisch tätigen All- gemeinarzt und seine Patienten hat.

Das naturwissenschaftliche Denken führt zu einem in sich geschlossenen Krankheitskonzept, das nicht auf Evi- denz, das heißt verstehender Einsicht in ein Krankheitsbild, sondern auf dem analytisch gewonnenen Beweis von Fakten beruht. Aufbauend auf der Be- weisbarkeit der zellulären, bakteriolo- gischen und physiologischen Fakten, lässt sich, um beim Beispiel der helico- bacter-assoziierten Krankheitsentitäten zu bleiben, ein abgeschlossenes Thera- piekonzept entwickeln, das sich seiner- seits wieder in allen einzelnen bioche- mischen Stoffwechselprozessen nach- vollziehen lässt. (1) Dieses naturwissen- schaftliche Denken ist so universal, dass es sich auf alle übrigen Krankheitsen- titäten problemlos übertragen lässt. Die soziale Befindlichkeit und die psychi- sche Verfassung des Patienten haben darin ebenso wenig behandlungsrele- vante Bedeutung wie die Bilderwelten der subjektiven Anatomie des Patien- ten. (2)

Im Gegensatz zur Schulmedizin stellt sich die Situation für den Allgemeinme- diziner ganz anders dar. Er hat es nicht mit dem abstrakten Konstrukt einer Krankheitsentität, sondern mit der konkret gegebenen Singularität des je- weiligen Patienten in seiner aktuellen biopsychosozialen Verfassung zu tun.

Bei dem Gegenüber handelt es sich nicht um die helicobacter-besiedelte Anhäufung von Haupt-, Beleg- und Be-

cherzellen et cetera einschließlich um- gebenden Mesenchyms, sondern um je- manden mit einer Störmeldung, die sich etwa anhört wie: Da stimmt etwas nicht und tut weh.

Codierte Störsignale produzieren al- le biologischen Systeme auf zellulärer, physiologischer und sprachlicher Ebe- ne; es sind Mitteilungen darüber, dass und in welcher Art und Weise die Syste- me – gleichgültig ob als Zelle, Organis- mus oder Gesellschaft – an die Grenzen ihrer Ressourcen gelangt sind. (3)

Wenn es sich bei dem Krankheits- bild, etwa den Oberbauchbeschwerden, das in Gestalt des Patienten gegenüber- tritt, um eine codierte Metapher über Art und Ausmaß der gestörten psycho- sozialen Auseinandersetzung handelt, sollte therapeutisches Denken und Handeln in erster Linie darin bestehen, die Metapher des Krankheitsbildes zu decodieren, um dem Patienten die Möglichkeit zu geben, Lösungsstrategi- en für seine Situation zu finden. Dieser Komplex soll am Beispiel von zwei Pa- tienten, die seit dem Erscheinen des Aufsatzes von Leiß die Praxis durchlau- fen haben, und einem weiteren typi- schen Fall verdeutlicht werden.

30. April 2001: Eine 23-jährige Pati- entin klagt über Schmerzen im Ober- bauch. Die Intensität der Beschwerden sind Anlass für eine Röntgenuntersu- chung, bei der eine erosive Fundusga- stritis nachgewiesen wird. Auf die ge- zielte Frage, ob sie sich zeitgleich mit ihren Beschwerden in ihren Entfal- tungsmöglichkeiten blockiert oder sa- botiert gefühlt habe, reagiert sie zu- nächst überrascht und berichtet dann mit zunehmender Bewegung, dass ihr Lebensgefährte ihr Bemühen nach Selbstständigkeit und finanzieller Un- abhängigkeit aktuell zu hintertreiben versucht.

10. Mai 2001: Bei einem 60-jährigen Patienten mit Teerstühlen wird eine Gastroskopie veranlasst und bei helico- bacter-negativem Befund ein aktives Ulcus ventriculi an typischer Lokalisati- on nachgewiesen. Auf die Frage, womit er aktuell nicht fertig wird, nennt der Fernfahrer den Namen seines Junior- chefs, der in Kürze die Firma überneh- men wird, der ihn und seine Kollegen über die gesetzlichen Grenzen hinaus fordert und mit dem ein Gespräch über sein kriminelles Verhalten nicht mög- lich ist.

Dritter Fall: Ein 49-jähriger Aushilfs- koch holt ein Rezept für seine Frau ab und erwähnt beiläufig eine Gastrosko- pie wegen eines Ulcus ventriculi am Vortag. Angesprochen auf ein aktuelles Ereignis, berichtet er, von seinem Ar- beitgeber um seinen verdienten Lohn betrogen worden zu sein. Noch am sel- ben Tag führt er ein stark emotional ver- laufendes Gespräch mit seinem Arbeit- geber. Bei der Kontrollgastroskopie nach einer Woche ist das Ulcus kom- plett abgeheilt, ohne dass er den verord- neten Protonenpumpenhemmer einge- nommen hat.

Die Beispiele zeigen, dass allge- meinärztliches Handeln mehr ist als die Analyse einer Krankheitsentität mit seiner zellulären und physiologischen Kausalität. Um ein Krankheitsbild voll- ständig zu decodieren, bedarf es – wie in den angeführten Fällen – als zweiter wissenschaftlicher Methode der Her- stellung einer hermeneutischen Empa- thie, an deren Ende die für den Einzel- fall gültige Einsicht in die semantische Kausalität steht. Wie in Analogie mit der Quantenphysik ist bei der Ausein- andersetzung mit einer Singularität zu erwarten, dass die empathische Objekt- Subjekt-Beziehung einen Einstellungs- wandel herbeiführt, der aus sich heraus T H E M E N D E R Z E I T

A

A2166 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 34–35½½½½27. August 2001

Helicobacter

Auf zwei Beinen heilt man besser

Mit den von Ottmar Leiß in dem Aufsatz „Helicobacterisierung

psychosomatischer Konzepte?“ (Deutsches Ärzteblatt, Heft 14/2001)

angesprochenen Problemen befasst sich der folgende Beitrag.

(2)

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 34–35½½½½27. August 2001 AA2167

V

on einem der bekanntesten deut- schen Diabetologen stammt der Satz „Der Diabetiker ist bedingt gesund“. Er legte in der Kieler Univer- sitätsklinik einen Gemüsegarten an, in dem seine stationären Patienten um- graben, säen und jäten mussten. Die pathophysiologischen Unterschiede zwischen Diabetestyp 1 und 2 waren damals noch nicht bekannt. Aber der Professor wusste aus klinischer Erfah- rung, dass körperliche Arbeit den Blut- zuckerspiegel senkt. Auch heute gilt noch, dass richtige Ernährung, Normal- gewicht und Bewegung die statisti- sche Mehrzahl aller Diabetiker auch ohne Therapie praktisch zu Gesunden macht. Immer wieder wurden Risiko- zuschläge für

fettleibige Dia- betiker disku- tiert.

Diabetes mellitus ist ei- ne von sieben Volkskrank-

heiten mit überwiegend chronischem Verlauf, die Gegenstand der Reformen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden sollen. Viel Ärger gab es durch den 1994 eingeführten Risiko- strukturausgleich (RSA). Kassen mit hohen Risiken durch Alter, Geschlecht, Zahl der Mitversicherten und gerin- gen Beitragseinnahmen erhalten Aus- gleichszahlungen. Die individuellen Beiträge, ursprünglich zur Steigerung des Wettbewerbs vorgesehen, verur- sachten große Wanderungsbewegun- gen. Durch die freie Kassenwahl wan- derten junge und gesunde Mitglieder zu billigen Betriebskrankenkassen ab.

Unter den 1,2 Millionen Wechslerinnen und Wechslern im Jahr 2000 waren nur rund 800 chronisch Kranke.

Der Gedanke einer effektiveren Therapie leuchtet zunächst ein, aber er ist „von des Gedankens Blässe angekräuselt“ (Hamlet). Medizinisch werden solche Programme beim heu- tigen Stand der Kommunikations- technik meist überschätzt, ökono- misch sind sie kontraproduktiv. Denn jeder Patient ist anders und bräuchte

seinen eigenen Leibarzt. Auf das Indi- viduum einzugehen ist die eigentliche ärztliche Kunst. Biofirmen blühen, weil sie sich darauf spezialisiert haben, an Computermodellen zu testen, war- um gerade dieses Medikament von je- nem Patienten nicht vertragen wird.

Diese komplizierten, durch eine gute Arzt-Patienten-Beziehung entschei- dend unterlegten Prozesse durch das Bundesversicherungsamt zertifizieren zu lassen, ist keine gute Lösung.

Nicht mehr rationelle Verwaltung, Besonnenheit bei den Satzungs-, Wahl- und Fremdleistungen sollen maßge- bend sein, sondern allzu leicht manipu- lierbare Begriffe wie die „Chronizität der Krankheiten“. In einer über- alterten Ge- sellschaft ist Polymorbidi- tät fast die Regel. Wenn mehr Chro- nizität mehr Geld bedeu- tet, wird sich bald eine wundersame Verschiebung der Krankheitscharak- teristika ergeben (ähnlich dem Zeit- korridor bei Bestimmung der Pflege- stufen I und II in der Pflegeversiche- rung). Der ortsfremde Medizinische Dienst der Krankenkassen wird in die Richtung eines erhöhten Minutenauf- wandes gedrängt.

Die Gesundheitspolitiker gehen mangels eigener praktischer Erfah- rung von der falschen Vorstellung aus, dass eine Objektivierung geldrelevan- ter Tatbestände ohne finanzielle Ei- genmotivation des Versicherten mög- lich ist. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt setzt die falsche Ge- sundheitspolitik von Norbert Blüm fort. Beide berücksichtigen ungenü- gend Motivationen und Wechselhaf- tigkeit im Krankheitsgeschehen. Der Patient wird zu sehr bürokratisch ver- waltet. Er wird getrieben, anstatt selbst zu treiben. Das hat er bei seinen hohen Beiträgen nicht verdient. Die GKV gleicht heute einem Autofahrer, der mit angezogener Bremse Vollgas gibt. Dr. med. Karl-Heinz Weber

KOMMENTAR

Disease Management

Falscher Ansatz

schon heilsam sein kann, wenn das Krankheitsbild richtig decodiert wurde.

(4) Die Decodierung besteht in den an- geführten wie in allen weiteren darauf- hin explorierten Fällen darin, dass die Patienten sich von einem übermächtig empfundenen Gegenüber in ihren Ent- faltungsmöglichkeiten blockiert oder sabotiert fühlen.

Psychosomatische Medizin ist nicht ein Fach im Schatten der vielen Fachge- biete heutiger Schulmedizin, sondern das übergeordnete Lehrgebäude ganz- heitlicher Medizin. Die von Blaser und anderen Vertretern moderner Schulme- dizin betriebene Reduktion medizini- scher Forschung auf den naturwissen- schaftlichen Aspekt sieht auf eine nur etwa 150-jährige Geschichte zurück.

Diese Zeitspanne umfasst die überwälti- gende Anhäufung naturwissenschaftli- cher Erkenntnisse bis hin zur Entschlüs- selung des menschlichen Genoms. Aus der Einseitigkeit dieser reduktionisti- schen Betrachtungsweise resultieren aber auch die Forschungsdefizite, wenn es um die Decodierung des psychosozia- len Anteils des vom Patienten herange- tragenen Krankheitsbildes geht. Es wird die Aufgabe künftiger Forschung sein, über Krankheitsentitäten der naturwis- senschaftlichen Medizin hinaus die Schlüssel zu den psychosozialen Krank- heitsbildern zu finden. (5)

Psychosomatische Medizin besitzt ihre Gültigkeit unabhängig davon, ob es sich um Krankheitsentitäten wie funktionelle Oberbauchbeschwerden oder um ein helicobacter-assoziiertes Ulkus handelt. In der Praxis sind ganz- heitliche Konzepte, welche die aktuelle biopsychosoziale Situation mit umfas- sen, tragfähiger als eine reduktionisti- sche – nur naturwissenschaftlich ausge- richtete – Sichtweise.

Walter F. Benoit, Barbara Benoit

Literatur

1. Adam O, Dörfler H, Forth W : Ulzera im oberen Ma- gen-Darm-Trakt. Dt Ärztebl 2001; 98: A 840–844 [Heft 13].

2. Johnen R: Sich gesund fühlen im Jahr 2000. In: Schüf- fel W (Hrsg.). Berlin, Heidelberg: Springer 1986.

3. Hüther G: Der Traum vom stressfreien Leben. Spek- trum der Wissenschaft Dossier 3/1999: Stress 6–11.

4. Schmahl FW, von Weizsäcker CF: Moderne Physik und Grundfragen der Medizin. Dt Ärztebl 2000; 97:

A 165–167 [Heft 4].

5. Benoit B, Benoit WF: Krankheitsbilder. 2. Aufl, Frank- furt: RG Fischer 2001.

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