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Keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit

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Academic year: 2022

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Schon seit einigen Jahren setzen sich Kirchen in aller Welt für Klimage- rechtigkeit ein. An dieses Engagement anknüpfend, haben Vertreterinnen und Vertreter europäischer Kirchen Mitte November 2010 dazu aufgerufen, dass die 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im süd- koreanischen Busan im Oktober 2013 Klimagerechtigkeit zum zentralen The- ma machen solle. Ergänzend gibt es im Bereich der deutschen Kirchen Überle- gungen, der nächsten ÖRK-Vollversammlung vorzuschlagen, eine Ökumeni- sche Dekade zur Verwirklichung von Klimagerechtigkeit auszurufen.

Rund 80 Delegierte von Kirchen aus 32 europäischen Ländern sowie von Kirchen aus aller Welt nahmen vom 8. bis 12. November 2010 an der Konsulta- tion „Armut, Reichtum und Ökologie in Europa“ in Budapest teil. Veranstaltet wurde die Konsultation vom ÖRK und von der Konferenz Europäischer Kir- chen (KEK) als Teil eines breiten ökumenischen Konsultationsprozesses zu sozialen und ökologischen Herausforderungen der wirtschaftlichen Globalisie- rung, der von der 9. Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre im Jahr 2006 initiiert worden war.

Zum Abschluss der Konsultation wurde der „Budapester Aufruf für Klima- gerechtigkeit“ verabschiedet, der politische und soziale Dimensionen von Kli- magerechtigkeit betont und auf den strukturellen Zusammenhang der unter- schiedlichen globalen Krisen – von der Finanz- bis hin zur Klimakrise – hin- weist. Angesichts dieser Krisen hebt der Aufruf hervor, dass ein umfassender Wandel des Konsumverhaltens und der Produktionsweisen in den Industrie- ländern erforderlich sei. Damit stellt er auch die Frage nach den Grenzen wirt- schaftlichen Wachstums. Zugleich erwartet der Aufruf von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsländern, dass sie eine Führungsrolle beim Einsatz für Klimagerechtigkeit einnehmen.

Der Verabschiedung des „Budapester Aufrufes“ gingen Diskussionen vor- aus, die deutlich machten, dass Kirchen in den alten Mitgliedsländern in man- cherlei Hinsicht andere Vorstellungen haben als Kirchen in den ehemals kom- munistischen Ländern Mittel- und Osteuropas. So haben letztere nicht selten noch immer ein distanziertes Verhältnis zum Staat und vertrauen eher auf nichtstaatliche als auf staatliche Maßnahmen zur Verwirklichung von Klima- gerechtigkeit. Auch widersprechen sie einer Gegenüberstellung „des“ Nor- dens und „des“ Südens mit dem Hinweis auf die besondere Situation im Osten Europas.

Dieses europäische Ost-West-Gefälle spiegelt sich im Aufruf ebenso wider wie einige Vorstellungen von Teilnehmenden aus Lateinamerika, Afrika und

Budapester Aufruf: Keine Klimagerechtigkeit

ohne soziale Gerechtigkeit 1

KASA-Partnerkonsultation 2010 in Kapstadt 4 Geschichten vom Überleben in Südafrika 5 Unternehmensverantwortung I: Die Entschä- digungsklage südafrikanischer Apartheidopfer 6 Unternehmensverantwortung II:

Freiwilligkeit heißt nicht Unverbindlichkeit 8 Ökovision: Verantwortlich investieren in Elektronikfirmen und Mikrokredite? 9 Europäisch-chinesisches Begegnungs-

programm zum Klimaschutz 10

Jahrbuch Gerechtigkeit IV: Vorrang für die

soziale Integration Europas 12

UN-Millenniumsziele: Fortführung einer

schädlichen Illusion 14

Aus der laufenden Arbeit

Jahrbuch Gerechtigkeit 16

Aktion fair spielt 17

Beschaffung in Kirche und Diakonie 19 Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika 20

Aktion

Rechte für Menschen –

Regeln für Unternehmen 21

Werkstatt intern

Mitgliederversammlung 22

PraktikantInnen 22

Neuerscheinungen 23

Werkstatt-Projekte 24

Budapester Aufruf

Keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit

Ein neues ökumenisches Dokument europäischer Kirchen

Inhaltsverzeichnis

Klaus Heidel

FÜR MITGLIEDER & FREUNDE · NUMMER 52 · DEZEMBER 2010

Foto: Chin By Ang

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Dokumentiert

Der Budapester Aufruf für Klimagerechtigkeit

Auszug; nicht-autorisierte Übersetzung von Klaus Heidel

I. Die Große Herausforderung verlangt den Großen Wandel

Die Welt steht vor akuten Heraus- forderungen. Die globalen Auswir- kungen des Klimawandels sind die größte Bedrohung der Zukunft unse- res Planeten. Die Gleichzeitigkeit von Klimawandel, Grenzen fossiler Brennstoffe, Klimaflüchtlingen, Nah- rungskrise, Wasserkrise, Energie- krise, Biodiversitätskrise und der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009, die die Schuldenkrise für Personen und Staaten vertiefte, könnte ein Indikator dafür sein, dass das gesamte in Industrieländern vor- herrschende System von Produktion, Konsum, Gewinnmaximierung, Ar- mut und Umweltzerstörung in eine tiefe und offene Transformationskrise gerät. Die Gleichzeitigkeit dieser Kri- sen verlangt unverzügliches Handeln.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, sind umfassende und radi- kale Veränderungen erforderlich.

Diese Veränderungen müssen vor Ort, regional, national und weltweit erfolgen. Klimagerechtigkeit muss das Leitprinzip dieser Veränderungen sein. Klimagerechtigkeit muss herge- stellt werden zwischen Menschen, Ländern und Generationen, aber auch zwischen Menschen und aller Kreatur und der gesamten Erde. Kli- magerechtigkeit verlangt nach sozia- ler Gerechtigkeit. Klimagerechtigkeit schließt die Verwirklichung des Rech- tes auf Entwicklung ein, vor allem in schwächeren Volkswirtschaften. Kli- magerechtigkeit verlangt die Ent- wicklung erneuerbarer Energien und einer „Ökonomie des Genug“, die ge- tragen wird von einer Ethik der Selbstbeschränkung. Klimagerechtig- keit ist eine Bedingung für die Über- windung von Armut und die Überwin- dung von Armut ist eine Bedingung für Klimagerechtigkeit. Klimagerech- tigkeit erfordert das Primat demokra- tischer Politik über die Wirtschaft und die Einbettung von Marktwirt- schaften in soziale und kulturelle

Kontexte (bei einer Weiterentwick- lung der sozialen Marktwirtschaft).

Deshalb sind ganzheitliche Antwor- ten auf die Herausforderungen nötig – von jeder Person, von der Wirt- schaft, von Staaten und international.

Die Zeit für fragmentierte und tech- nokratische Lösungen ist vorüber.

Wir brauchen den Großen Wandel.

Deshalb rufen die Delegierten der Budapester Konsultation „Armut, Reichtum und Ökologie in Europa“

die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und ihre Organe und Mit- gliedskirchen dazu auf, bei europäi- schen Regierungen und Parlamenten innerhalb und außerhalb der EU und bei EU-Institutionen die folgenden dringenden Anliegen vorzutragen:

●Klimagerechtigkeit und damit so- wohl soziale wie ökologische Werte sollen zentrale Zielvorstellungen der Politik sein. In Industrieländern soll Wirtschaftswachstum nicht länger als Ziel an sich verstanden werden.

● Die europäischen Länder und die EU sollen in Entwicklungsländern grünes Wachstum politisch und finan- ziell fördern, um die Entwicklung er- neuerbarer Energien zu ermöglichen.

● Steuersysteme müssen so refor- miert werden, dass sie gerechte, par- tizipatorische und nachhaltige Gesell- schaften und Gemeinden unterstüt- zen und weltweit Gerechtigkeit för- dern.

● Eine Finanztransaktionssteuer muss eingeführt werden – falls nötig, zunächst unilateral in der EU.

● Preise von Waren und Dienstleis- tungen sollen die wirklichen sozialen und ökologischen Kosten und Nutzen zeigen.

● „Grüne Investitionsbanken“, die grüne Investitionen finanzieren, sol- len gefördert werden.

●Kohle- und Kernkraftwerke sollen durch erneuerbare Energien sobald möglich ersetzt werden, hierbei soll-

ten reichere europäische Länder är- meren helfen.

● Eine Umverteilung von Reichtum und Einkommen als ein Schlüsselele- ment ökologisch nachhaltiger Gesell- schaften ist erforderlich.

● Eine Umverteilung von Reichtum und das Teilen von Technologien zwi- schen reichen Ländern und armen Ländern, die vom Klimawandel be- troffen sind, sind wichtige Bausteine von Klimagerechtigkeit. Sie müssen die weitere Unterstützung für Maß- nahmen zur Beschränkung des Kli- mawandels und zur Anpassung an dessen Folgen begleiten.

● Die EU sollte sich zu ambitionierte- ren Reduktionszielen für Treibhaus- gasemissionen verpflichten, unab- hängig von der Politik anderer großer Volkswirtschaften.

● Der Markt muss von der öffent- lichen Sphäre und der wirklichen

„Kern-Ökonomie“ – nämlich unserer Fähigkeit, Sorge zu tragen, zu lehren, zu lernen, mitzufühlen und in Solida- rität zu leben – beeinflusst und be- grenzt werden.

● Die Demokratie sollte so gestärkt werden, dass langfristige Perspekti- ven die politischen Entscheidungen prägen und Menschen, die von Ent- scheidungen betroffen sind, das Sa- gen haben. Volkswirtschaften auf der Grundlage erneuerbarer Energien entwickeln neue Beschäftigungsfor- men. Dies erfordert Bildungssysteme, die Menschen befähigen, in diesen Volkswirtschaften teilzunehmen und zu ihnen beizutragen.

● Menschen in Armut und sozialer Ausgrenzung unter Einschluss margi- nalisierter Migrantinnen und Migran- ten sollen an der Definition, Entwick- lung und Umsetzung aller Maßnah- men beteiligt werden, die sie betref- fen, getreu dem Motto „Nichts für uns ohne uns ist für uns.“

Der Große Wandel wird nicht ein- fach sein. Aber er ist möglich. Wir

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können erste Schritte gehen. Wir ha- ben die Technologien, wir haben das Wissen, wir haben die erforderlichen Ressourcen. Wir brauchen nur den Willen, um zu tun, was wir tun sollten.

II. Gottes Verheißungen ermutigen uns, anzufangen

Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf

wohnt. (Psalm 24, 1) Wenn wir uns mit Armut, Reich- tum und Ökologie auseinandersetzen, sollten wir dies tun auf der Grundlage des Auftrages der Kirche in der Ge- sellschaft und zugleich im Einklang mit der Schöpfung […].

Kirchen haben in ihren unter- schiedlichen Kontexten gemeinsame aber differenzierte Verantwortungen.

Sie brauchen das ökumenische Ge- spräch, um diese Verantwortungen zu definieren und um sich gegenseitig zu stärken, damit sie gemäß ihrer Ver- antwortung handeln.

Die Gemeinschaft innerhalb der weltweiten ökumenischen Bewegung hilft Kirchen, Zeichen der Hoffnung zu entdecken. Dies wurde bestätigt durch das viel versprechende Ergeb- nis des ersten Abschnittes des Dialo- ges der Konferenz Europäischer Kir- chen (KEK) und des Lateinamerika- nischen Rates der Kirchen (CLAI) über Herausforderungen und Chan- cen der Globalisierung.

Die weltweite ökumenische Be- wegung hilft Kirchen zu verstehen, in welchem Maße ihre Arbeit und ihr Zeugnis für Klimagerechtigkeit eine Angelegenheit des Glaubens ist.

Es gibt ermutigende Beispiele eu- ropäischer Kirchen, die bereits viele Anstrengungen unternehmen, um zu Klimagerechtigkeit beizutragen. Aber noch ist ein langer Weg zu gehen.

● Deshalb rufen wir, die Delegierten für die Budapester Konsultation „Ar- mut, Reichtum und Ökologie in Euro- pa“, europäische Kirchen und euro-

päische kirchliche und diakonische Organisationen dazu auf:

● bereit zu sein, unter Nutzung ihres Einflusses und ihrer Stellung deutlich Position zu beziehen und, falls erfor- derlich, Risiken einzugehen, wenn es zu Konflikten kommt bei der Befol- gung von Gottes vorrangiger Option für die Armen.

● bei ihren Kontakten zu Regierun- gen und in ihren Beziehungen zu offi- ziellen Institutionen, Unternehmen und Kirchengliedern von der Erklä- rung des ÖRK zu ökologischer Ge- rechtigkeit und ökologischer Schuld Gebrauch zu machen.

● mit ihren strategischen und prakti- schen Handlungsansätzen die enge Beziehung zwischen dem Kampf ge- gen Armut und dem Kampf für Klima- gerechtigkeit zu bestätigen.

● die Folgen ihrer Politiken und des Lebensstiles ihrer Mitglieder für das Klima und für gefährdete und arme Menschen zu bedenken.

● zu den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen des Öku- menischen Rates der Kirchen beizu- tragen, so dass er eine führende Rolle im weltweiten Kampf für Klimage- rechtigkeit einnehmen kann. Diese muss in enger Zusammenarbeit und Koordination des ÖRK mit regionalen ökumenischen Organisationen – in Europa mit der KEK – entwickelt werden […].

● entschieden den Aufruf der Gene- ralversammlung der Weltgemein-

schaft Reformierter Kirchen (WCRC) in Grands Rapids 2010 zu unterstüt- zen, „in Zusammenarbeit mit dem ÖRK und anderen ökumenischen Gliederungen, Netzwerken und Orga- nisationen eine globale ökumenische Konferenz vorzubereiten, die ein Rahmenwerk und Kriterien für eine neue internationale Finanz- und Wirt- schaftsarchitektur vorschlagen soll, die gegründet ist auf den Grundsät- zen von wirtschaftlicher, sozialer und Klimagerechtigkeit.

● Pioniere und Beispiele zu sein auf dem Weg zu Genügsamkeit, indem sie praktische Programme zur Reduzie- rung von CO2-Emmissionen wie zum Beispiel Umweltzertifikate für Kir- chengemeinden auflegen, Kenntnisse und Solidarität stärken, Beispiele für alternative Werte und ihre Befolgung als Alternativen zum Konsumdenken geben und sich um ein Leben im Ein- klang mit dem „Prinzip des Genug“

bemühen.

Schließlich rufen die Delegierten für die Budapester Konsultation „Ar- mut, Reichtum und Ökologie in Euro- pa“ den Ökumenischen Rat der Kir- chen auf:

● Der Ökumenische Rat der Kirchen soll Klimagerechtigkeit und die Über- windung von Armut so wie die Bezie- hung beider mit Priorität auf die Ta- gesordnung seiner 10. Vollversamm- lung in Südkorea im Jahre 2013 set- zen.

Es gibt gewiß auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muß.

Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft

soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt.

(Dietrich Bonhoeffer, Nach zehn Jahren, 1942 [in: Widerstand und Erge- bung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, 1994])

Denn ich, ich kenne meine Pläne, die ich für euch habe – Spruch des Herrn –,

Pläne des Heils und nicht des Unheils;

denn ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben.

(Jeremia 29,11 [Einheitsübersetzung])

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KASA-Partnerkonsultation 2010 in Kapstadt

Simone Knapp

Vielleicht lag es an der Kulisse des Tafelbergs oder am frischen Wind, vielleicht aber auch an den Teilneh- menden, der Organisation. Sicher ist, dass die zweite KASA-Partnerkonsul- tation, die dieses Jahr in Kapstadt stattfand, ein voller Erfolg war. Drei Tage intensive Diskussion mit 20 Teil- nehmenden aus 15 verschiedenen Or- ganisationen – fast alle Partner der KASA waren der Einladung gefolgt.

Ziel war einerseits, die Debatten aus dem Vorjahr über die Fußball-Welt- meisterschaft und über Alternativen angesichts neoliberaler Globalisierung wieder aufzunehmen, weiterzuentwi-

ckeln und so die Zusammenarbeit zwi- schen KASA und ihren Partnern zu qualifizieren. Andererseits sollte die Partnerkonsultation der Diskussion im Süden eine Plattform bieten, Vernet- zung ermöglichen und neue gemeinsa- me Prozesse und Projekte anstoßen.

„We can resist, we can organise, we can build“

KASA hatte bereits 2008 die Part- nerorganisationen auf das Thema

“Weltmeisterschaft“ angesprochen.

Sowohl damals als auch auf der letzt- jährigen Partnerkonsultation in Jo-

hannesburg kam zumindest von den kirchlichen KASA-Partnern kaum ei- ne Reaktion. Inzwischen hat sich auf- grund der intensiven Arbeit von KA- SA zur WM das Partnerspektrum er- weitert: Streetnet und der Labour Re- search Service kamen dazu. Auch die gemeinsam konzipierte Kampagne von Khulumani und der deutschen Apartheid-Schulden-Kampagne hat dazu beigetragen, dass eine positive Bilanz möglich war und die Debatte um die Bewerbung Durbans für die Olympischen Spiele 2020 ganz anders diskutiert wurde. Die NGOs aus Dur- ban wurden aufgefordert, das Thema

Nomusa Sokhele (CLP), Nomasontho Magwaza (ESSET), Madalitso Mtine (PACSA) Kabelo Selema (SACBC) und Timothy Kondo (ANSA)

Asien. Aufgrund dieses Kompromiss - charakters könnte der „Budapester Aufruf“ Perspektiven für einen neuen globalen ökumenischen Konsens zu Fragen der Globalisierung eröffnen:

An die Stelle der früheren unfrucht- baren Auseinandersetzungen – die häufig schematisch und unzulässig vereinfachend als Streit zwischen

„den“ Kirchen „des“ Nordens und de- nen „des“ Südens gedeutet wurden – könnte jetzt der gemeinsame und als vordringlich erachtete konkrete Ein- satz für Klimagerechtigkeit treten.

Ein solcher Konsens wird dadurch er- leichtert, dass der „Budapester Auf- ruf“ betont, dass Klimagerechtigkeit ohne Bekämpfung der Armut und Be-

kämpfung der Armut ohne Klimage- rechtigkeit nicht möglich sind und dass Klimagerechtigkeit für die Ent- wicklungsländer das Recht auf Ent- wicklung einschließt.

Schon in den ersten Wochen nach der Verabschiedung des „Budapester Aufrufes für Klimagerechtigkeit“

zeichnet sich ab, dass dieser Aufruf die europäische ökumenische Debat- te erkennbar beeinflussen wird. Da- mit scheint es sich als richtig erwie- sen zu haben, die Budapester Konsul- tation handlungsorientiert zuzuspit- zen und sie zielgerichteter zu gestal- ten als die bisherigen Regionalkonsul- tationen im Rahmen des ökumeni-

schen Prozesses „Armut, Reichtum und Ökologie“ (Dar Es Salaam 2007, Guatemala City 2008 und Chiang Mai 2009). Klaus Heidel hatte sich als Vertreter der EKD maßgeblich an der Vorbereitung der Budapester Konsul- tation beteiligt, von ihm stammte auch der erste Entwurf des „Buda- pester Aufrufes“. Auf diese Weise ist also das neue ökumenische Doku- ment unmittelbar verknüpft mit der Werkstatt Ökonomie.

Klaus Heidel

Zum Thema Klimagerechtigkeit siehe auch den Bei- trag zum Jahrbuch Gerechtigkeit V auf Seite 16.

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beim Durban Social Forum zu disku- tieren und Vorschläge für eine ge- meinsame Weiterarbeit zu machen.

„We need to come out of our silos and work together”

Viele der am Tisch versammelten Organisationen kannten sich, arbei- ten mehr oder weniger intensiv zu- sammen. Doch bereits im letzten Jahr wurde betont, dass ein solches Treffen einen enormen Mehrwert für die gemeinsame Arbeit darstellt und dass es ohne KASA nicht dazu ge- kommen wäre. So arbeiten zwar EJN und ESSET bereits zusammen zum Thema informeller Straßenhändler, Streetnet kam aber erst durch KASA in den Blick. Und wie so oft sind gera- de die Gespräche am Rande für die Vernetzungsarbeit unersetzlich.

Eine weitere sichtbare Vernet- zung begann direkt nach der Tagung:

Die Teilnehmerliste dient als neuer E-Mail-Verteiler, um auf Ergänzungen zu dem bereits Diskutierten hinzu- weisen oder Informationen auszutau- schen.

„We need to go out of our little corner and go for regional level“

Die intensive Beschäftigung mit Sambia und Simbabwe war auch für die südafrikanischen TeilnehmerIn- nen interessant. Die Erkenntnis, wie nahe die historischen Gegebenheiten und die derzeitigen Situationen bei- einander liegen, ging einher mit der Reflexion über die Zustände im eige- nen Land. Die Konsequenz war klar:

Im eigenen Interesse müssen sich be-

sonders die südafrikanischen NGOs auch auf regionaler Ebene stark ma- chen und sich für die Nachbarländer einsetzen – auch deshalb, weil die südafrikanische Wirtschaft in Län- dern wie Simbabwe und Sambia im- mer stärker an Boden gewinnt und ih- re Bedeutung als neoliberale Hege- monialmacht ausbaut.

„Poverty addressing Wealth“

Die Diskussion um die Frage nach Alternativen angesichts neoliberaler Globalisierung wurde sehr intensiv geführt. Dabei wurde deutlich, dass

Gaby Bikomo ( Streetnet), Michael Pinaar (Sekwele), Raphael Phiri (JCTR) und Mandla Hadebe (EJN)

Marjorie Jobson und Brian Mphahlele (Khulumani Support Group)

Geschichten vom Überleben in Südafrika

Simone Knapp

Nelson Mandela hat am 8. Mai 1996 am Sharpeville-Denkmal die neue südafrikanische Verfas-sung unterschrieben, denn dieser Ort hat für die Geschichte Südafrikas eine ganz besondere Bedeutung. Das Mas- saker von 1960, das 69 Menschenle- ben kostete, hat sich tief in das Ge- dächtnis der Mehrheit der Menschen in Südafrika eingebrannt. Zum ersten Mal hatte die Staatsgewalt so massiv zurückgeschlagen, indem sie eine friedliche Demonstration gewaltvoll beendete und damit auch weltweit Empörung ausgelöst. Der darauf fol- gende Ausnahmezustand, die Verhaf-

tungswelle und die Bannung von ANC und PAC hatte die Gründung des mili- tärischen Armes des bis dahin gewalt- losen Widerstandes zur Folge.

Die südafrikanische Opferorgani- sation Khulumani Support Group hat die Geschichten von fünf Menschen, die bis heute in Sharpeville wohnen und damals Teil der Ereignisse wa- ren, dokumentiert. KASA hat sie ins Deutsche übersetzt und veröffent- licht. Bei unserer Dienstreise im Oktober 2010 haben wir die Erzähle- rInnen besucht und ihnen die fertige Broschüre gezeigt.

wir einerseits viele Alternativen ha- ben, wir sie uns wieder bewusst ma- chen müssen, dass wir aber auch gleichzeitig die Perspektive ändern sollten. Nicht die Armut ist das Pro- blem, sondern die Verteilung des Wohlstandes auf wenige – sowohl be- zogen auf Länder als auch auf Indivi- duen. Ein Ergebnis war, die Idee ei- ner gemeinsamen Konferenz auszuar- beiten und in Angriff zu nehmen und dabei die bereits bestehende theore- tische, universitäre Diskussion mit der Diskussion der Basis zu verbin- den und daraus konkrete Aktionen abzuleiten.

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Unternehmensverantwortung auf dem Prüfstand

Die Entschädigungsklage südafrikanischer Apartheidopfer gegen Daimler und Rheinmetall

Kurz vor der Tagung, die unter dem Titel „Unternehmensverantwor- tung auf dem Prüfstand. Die Entschä- digungsklage südafrikanischer Apar- theidopfer gegen Daimler und Rhein- metall“ im September 2010 in Bonn stattfand,1kam die schlechte Nach- richt aus New York: Eine Klage gegen Shell, die wie die Apartheidklage un- ter dem Alien Tort Claims Act (AT- CA) eingereicht worden war, ist abge- lehnt worden. Da das US-amerikani- sche Rechtssystem auf Präzedenzfäl- len beruht, kann sich dies durchaus negativ auf die Klage der Khulumani Support Group gegen fünf internatio- nale Unternehmen wegen Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzun- gen auswirken oder den ATCA kom- plett zu Fall bringen, so die Einschät- zung von Miriam Saage-Maaß vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Im April 2009 noch hatte die zu- ständige Richterin Scheindlin die ver- änderte Klage zugelassen. Die Ver- dachtsmomente seien bei den fünf angeklagten Unternehmen Daimler, Rheinmetall, IBM, Ford und GM hin- reichend konkret. Sie bezog sich da- bei auf die Entscheidung aus den Nürnberger Nachfolgeprozessen ge- gen den Unternehmer Bruno Tesche, der das Giftgas Zykon B in die Kon- zentrationslager geliefert hatte.

Gegen diese Entscheidung legten einige der beklagten Firmen, darun- ter Daimler, Berufung ein. Daimler wendet sich grundsätzlich gegen die Möglichkeit, Unternehmen für Men- schenrechte haftbar zu machen. Um es mit den Worten des US-amerikani- schen Anwalts Michale Hausfeld zu sagen: „What they are really saying is that they should not be responsible to

anyone, for anything, at anytime, any- where.”

Das Berufungsgericht in den USA entschied im Dezember 2009, dass ei- ne grundsätzliche Klärung, ob das Völkergewohnheitsrecht die Haftung von Unternehmen anerkennen kann, erfolgen solle. Inzwischen hatte sich allerdings die politische Situation im Umfeld verändert. Der neue südafri- kanische Justizminister unter Präsi- dent Jacob Zuma, Jeff Radebe, signa- lisierte dem US-Gericht seine Unter- stützung und bot an, gegebenenfalls eine Schlichtung zu moderieren. Die neue US-Administration unter Präsi- dent Obama lehnte offiziell die Beru- fung ab. Nur die deutsche Regierung blieb bei ihrer grundsätzlich ableh- nenden Haltung gegenüber der Klage und ihrer Unterstützung für die deut- schen Unternehmen.

Für sie war dabei entscheidend, dass die Broschüre Teil unserer Kam- pagne zur Unterstützung der Ent- schädigungsklage ist und wir nicht

auf ihre Kosten und mit ihren Ge- schichten Geld verdienen. So oft schon wurden sie getäuscht, haben ihre Geschichten bereitwillig erzählt und als Gegenleistung nichts als leere Versprechungen bekommen. Sie blie- ben zurück mit ihren materiellen Nö- ten und ihren Traumata.

„Durch das Geschichtenerzählen heilen wir. Aber mit unserer Ge- schichte macht jemand anderes Pro- fit. Und wir, während wir heilen, was essen wir?“ formuliert Reid Mokoena, der auch bei unserem Treffen seiner Wut Ausdruck verleiht. Wut auf ein ungelebtes Leben, auf die andauern- de Ungerechtigkeit, auf die Aus- sichtslosigkeit.

Doch die Frauen, MaPhetane und Mary Mantsho, weisen ihn zurecht.

Sie haben verstanden, dass nur eine gemeinsame Anstrengung, wie sie die Apartheid-Klage in den USA bedeu- tet, ihnen langfristig eine Perspektive geben kann. In dieser Klage werden internationale Unternehmen wie Da- imler und Rheinmetall wegen Beihilfe

zu schweren Menschenrechtsverlet- zungen angeklagt. Sollte Khulumani die Klage gewinnen, müssten die Unternehmen Entschädigungen zah- len, die den einzelnen Opfern und den bisher benachteiligten Gemein- den zugutekommen würden.

MaPethane und Mary Manthso wissen auch, wie wichtig Solidarität ist, denn die haben sie bei Khulumani erfahren, und sie sehen uns dabei als Teil dieser Solidarität.

Am Schluss stehen wir gemein- sam vor dem Denkmal, vor den Stelen der Getöteten, dem Brunnen, der die Gewehre der Polizisten symbolisiert und sehen die Polizeistation auf der anderen Straßenseite, von der alles ausgegangen war.

Reid und MaPhetane sitzen auf dem Stein, der an die Unterzeichnung der Verfassung erinnert. Uns ist er zum Symbol für die Bedeutung der Solidarität und für die Verantwortung geworden, die wir damit übernom- men haben.

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Im Januar 2010 dann war die erste Anhörung vor dem US-Berufungsge- richt, um die neue Sachlage zu prü- fen. Eine Entscheidung wurde bis spätestens zur Jahresmitte erwartet – viele hofften auf eine Entscheidung noch vor dem Anpfiff der Fußball- weltmeisterschaft. Doch stattdessen kam die Ablehnung der Klage Kiobel vs. Royal Dutch Petroleum (Shell) mit der Begründung des zuständigen Richters Cabranes: „…their activities fall outside the jurisdiction of interna- tional law“. Die sehr umstrittene Ent- scheidung des Richters macht wieder deutlich, wie schwach das derzeit ein- zige Instrument ist, um internationale Unternehmen (als juristische Perso- nen) wegen Menschenrechtsverlet- zungen zur Rechenschaft zu ziehen.

Umso wichtiger ist die Diskussion um eine verlässliche Möglichkeit, Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen, jenseits jeder freiwilligen Selbstverpflichtung. Umso wichtiger ist die Weiterentwicklung des Völker- rechts. „Bei Menschenrechtsverlet- zungen wurde eine Grenze über- schritten, die Absurdität des Global Compact wird deutlich und die Not- wendigkeit, die CSR-Debatte aufzu- brechen, ebenso“, resümierte Miriam Saage-Maaß.

Wie geschehen könnte, zeigte Jo- hanna Kusch von Germanwatch an- hand der Diskussion um die Möglich- keiten und Grenzen freiwilliger Selbstverpflichtungen, zum Beispiel im Rahmen des Global Compact der Vereinten Nationen. Mit der Kampag-

ne „Rechte für Menschen – Regeln für Unternehmen“ sollen die politischen Entscheidungsträger der EU aufge- fordert werden, Gesetze zu erlassen, mit denen Unternehmen für die welt- weiten negativen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit haftbar gemacht werden können. Darüber hinaus sol- len die durch europäische Unterneh- men Geschädigten in der EU ein Kla- gerecht erhalten, auch wenn sie keine EU-Bürger sind.

Die mehr als 40 Teilnehmenden waren sich am Ende einig, dass es durchaus einige Möglichkeiten gera- de für NGOs gibt, sich mit Rechtsmit- teln gegen Menschenrechtsverletzun- gen zur Wehr zu setzen. So muss ge- klärt werden, inwieweit eine Klage auch in Deutschland gegen Unter- nehmen wie Daimler und Rheinmetall in Bezug auf die Apartheidverstri-

Auf dem Podium: Johanna Kusch , Miriam Saage-Maaß und Dieter Simon

ckung noch denkbar ist. Aber nicht nur die Rolle der Unternehmen, auch die der Bundesregierung sowohl wäh- rend der Apartheidzeit in Bezug auf die Firmen als auch ihre derzeitige Haltung sollte skandalisiert und gege- benenfalls rechlicht geprüft werden.

Marjorie Jobson von Khulumani fasste es folgendermaßen zusammen:

„Der Fall hat jetzt schon Rechtsge- schichte geschrieben. Wir werden auch weiterhin dafür mobilisieren und uns dafür aussprechen2, dass Unternehmen zur Rechenschaft ge- zogen werden.“

Simone Knapp

1. Die Tagung fand vom 24. bis 25. September 2010 in Bonn statt; Veranstalter waren neben KASA KOSA, medico international und SODI.

2. „Khulumani“ bedeutet „speak out“.

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ÖKO-TEST: Was können Spielzeuganbieter in Deutschland tun, um die Situation in chinesis- chen Fabriken zu verbessern?

Kleinert: Die Einhaltung von Ar- beitsstandards in den Fabriken kann durch die Einkaufspolitik der Abneh- mer erleichtert oder erschwert wer- den. Bei sehr kurzfristigen Bestellun- gen und häufigen oder sehr späten Änderungen eines Auftrags lassen sich Überstunden nur schwer vermei- den. Und wer seinen Lieferanten un- ter Preisdruck setzt, braucht sich über niedrige Löhne nicht zu wun- dern. Umgekehrt ist die Geschäfts- führung einer chinesischen Fabrik eher bereit, in Maßnahmen zur Ver- besserung der Sicherheit zu investie- ren oder althergebrachte Manage- mentmethoden zu überdenken, wenn sich das mit einer langfristig angeleg- ten Lieferbeziehung verbindet.

ÖKO-TEST: Was halten Sie vom ICTI Date Certain Program, der Selbstverpflichtung von Spielzeu- ganbietern, nur noch bei zer- tizierten Fabriken Ware zu bestellen?

Kleinert: Es ist gut, wenn sich Spielzeuganbieter freiwillig zu ei nem solchen Schritt verpflichten. Nur:

Freiwilligkeit darf nicht mit Unver- bindlichkeit verwechselt werden. Wer sich freiwillig zu etwas verpflichtet, sollte sich verbindlich daran halten.

Eine Selbstverpflichtung, deren Ein- haltung nicht kontrolliert wird und über die keine Rechenschaft abgelegt werden muss, ist billig, sie ist un- glaubwürdig und sie erscheint als ein Versuch, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. So lange die IC- TI CARE Foundation die Selbstver- pflichtungen nicht kontrolliert, sollte sie das Date Certain-Programm aus- setzen.

ÖKO-TEST: Welche Rolle spielen Sublieferanten in der Spielzeug- produktion und was leistet der IC- TI CARE-Prozess hier?

Kleinert: Eines ist klar: Wenn eine Fabrik nach dem ICTI-Kodex kontrol- liert wird, muss bekannt sein, ob die Produktion komplett im Haus statt- findet oder nicht. Schon der Ver- dacht, dass eine Musterfabrik zertifi- ziert wird, während ein großer Teil der Produktion in einem versteckten Sweatshop unter menschenunwürdi- gen Bedingungen weiterläuft, würde zu Recht Zweifel an der Wirksamkeit des ICTI CARE-Prozesses schüren.

Die ICTI CARE Foundation hat ange- kündigt, noch in diesem Jahr ein Kon- zept vorzulegen, wie sie das Problem lösen will. Bisher kann sie aber nicht sicherstellen, dass alle Glieder der Lieferkette kontrolliert werden.

„Eine Selbstverpflichtung, über die keine Rechenschaft abgelegt werden muss, ist billig, unglaub- würdig und ein Versuch, der Öf- fentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. So lange die ICTI CARE Foundation die Selbstverpflich- tungen nicht kontrolliert, sollte sie das Date Certain-Programm aussetzen.“

ÖKO-TEST: Inwieweit bestimmt das Konsumverhalten der Verbrau - cher die Situation in den chinesis- chen Fabriken?

Kleinert: Gelegentlich verweisen Unternehmen auf den Verbraucher und seine Verantwortung. In der Re- gel ist das für mich der leicht durch- schaubare Versuch, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Die Ver- braucher können sich nur insoweit verantwortlich verhalten, wie sie zu den relevanten Informationen Zugang haben. Und da sind es dann oft diesel- ben Unternehmen, die mauern. Oft wissen wir als Verbraucher ja nicht einmal, woher ein Produkt kommt, geschweige denn, von welchem Liefe- ranten. Also: Der Verbraucher hat nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit, etwas über die sozialen oder auch ökologischen Bedingungen in Erfah- rung zu bringen, unter denen ein Pro- dukt hergestellt wurde.

ÖKO-TEST: Ist der Preis eines Spielzeugs eine Orientierung für einen verantwortungsvollen Einkauf?

Kleinert: Der häufige Vorwurf der um sich greifenden Schnäppchenjä- ger-Mentalität taugt nicht als Hand- lungsanleitung: Wer sagt uns denn, dass ein teureres Produkt unter bes- seren Bedingungen hergestellt wurde als ein billigeres? Aber umgekehrt stimmt es natürlich schon, dass die starke Fixierung auf den Preis auch für die Unternehmen ein Marktum- feld schafft, das sie ihrerseits unter einen entsprechenden Handlungs- zwang setzt. Auch wenn es schon sehr abgegriffen sein mag: Wir sollten der Qualität wieder mehr Bedeutung beimessen, und die hat ihren Preis.

ÖKO-TEST: Sind Produkte Ma- de in Germany die bessere Wahl?

Kleinert: Wir haben im Rahmen der Aktion fair spielt von Anfang ei- nes deutlich gemacht: Es geht uns um die Arbeitsbedingungen in der Spiel- zeugindustrie, wo auch immer auf der Welt. Dass der ICTI CARE-Prozess zunächst in China aufgebaut wurde, macht Sinn, denn von dort kommen schätzungsweise 80 Prozent der welt- weit gehandelten Spielwaren. Und dagegen spricht überhaupt nichts, so- lange sie unter sozial und ökologisch vertretbaren Bedingungen herge- stellt wurden und den gesetzlichen Anforderungen an die Produktqua- lität entsprechen.

Das Interview erscheint im Dezember-Heft von ÖKO- TEST, die Langfassung auf der Website von ÖKO-TEST.

Unternehmensverantwortung

Freiwilligkeit heißt nicht Unverbindlichkeit

Interview der Zeitschrift Öko-Test mit Uwe Kleinert

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[…] Bei seinen Entscheidungen über einzelne Werteachtet der An- lageausschuss vor allem darauf, dass die Unternehmen tatsächlich positive Beiträge zu einer nachhaltigen Ent- wicklung leisten. Für die Bewertung werden sowohl Produkte und Dienst- leistungen von Firmen näher betrach- tet als auch die von ihnen verwende- ten Verfahren und Technologien. Die Anlagephilosophie des ÖKOVISION geht damit deutlich über den so ge- nannten „Best in Class“-Ansatz hin- aus, der lediglich danach fragt, ob ein Unternehmen innerhalb seiner Bran- che graduell weniger problematisch ist als seine Wettbewerber.

Die Kriterien, die zu einer positi- ven Bewertung führen, werden durch klar definierte Negativ-Kriterien er- gänzt. Für bestimmte Produkt- und Stoffkategorien, Technologien und Verfahren sowie Verhaltensweisen von Unternehmen führen diese Krite- rien zu einer Abwertung oder – wie im Fall der Atomenergie oder der Chlorchemie – zu einem generellen Ausschluss.

Über die Diskussion von Einzel- werten hinaus widmete sich der Aus- schuss inhaltlichen Fragen, die für die Beurteilung von Unternehmen und die Interpretation der Fondskri- terien von Belang sind.

So wurde im Jahr 2009 die Elektro- und Elektronikindustrie einer kritischen Überprüfung unter- zogen, wobei drei Problembereiche im Vordergrund standen: Erstens stammen einige der in der Elektro- nikproduktion verwendeten Rohstof- feaus problematischen Quellen.

Unternehmen der Branche müssen deshalb für die Beratung im Anlage- ausschuss Informationen über die

Herkunft ihrer Rohstoffe vorlegen.

Zweitens ist auch in der Elektroin- dustrie ein zunehmender Trend zur Auslagerung der Produktion an Kontraktfertiger insbesondere in Fer- nost zu beobachten. Es muss sicher- gestellt werden, dass in diesen Be- trieben die Arbeitsbedingungenso- wohl den nationalen Gesetzen als auch international vereinbarten Min- deststandards entsprechen. Deshalb müssen Kontraktfertiger und ihre Sublieferanten in die Unternehmens- bewertung einbezogen werden. Fir- men können vor diesem Hintergrund nur dann in das Universum des ÖKO- VISION aufgenommen werden, wenn sie dem Anlageausschuss Informatio- nen zur Verfügung stellen, die eine fundierte Beurteilung der Arbeitsbe- dingungen in ihrer Lieferkette erlau- ben. Drittens schließlich wird Elektronikmüllzu einem großen Teil auch und gerade in Länder des globa- len Südens exportiert und dort meist nicht fachgerecht recycelt oder ent- sorgt. Unternehmen, die in das Anla- geuniversum des ÖKOVISION aufge- nommen werden, dürfen ihren Müll nicht in Entwicklungsländer ausfüh- ren und müssen nachweisen, dass sie mit anerkannten Recyclingunterneh- men zusammenarbeiten.

Der Anlageausschuss beschloss vor dem Hintergrund der Diskussion unter anderem, Appleund Nokia trotz vergleichsweise weit gehender CSR-Anstrengungen beider Unterneh- men aus dem Universum auszuschlie- ßen. Dabei kamen Vorbehalte gegenü- ber einem Geschäftsmodell zum Tra- gen, das nicht nur die Produktion selbst, sondern auch die Verantwor- tung für die damit verbundenen wirt- schaftlichen, ökologischen und sozia- len Risiken konsequent in die Liefer- kette auslagert. Ähnlich wie in der

Textilindustrie sieht der Anlageaus- schuss darüber hinaus auch in der Elektronikbranche das Problem, dass ökologische Fortschritte bei den ein- zelnen Produkten durch die massive Expansion der Produktion im Zuge ei- nes modegetriebenen Vermarktungs- modells zunichte gemacht werden.

Außerdem beschäftigte sich der Anlageausschuss mit der Frage, ob er es für vertretbar hält, dass ÖKOVI- SION in Mikrofinanz-Fondsinves- tiert. Mikrofinanz-Fonds investieren ihrerseits in verzinsliche Wertpapie- re, die Mikrofinanz-Instituten als Re- finanzierungsinstrumente dienen. Als Mikrofinanz-Institute werden (in ei- ner recht weiten Definition) Organi- sationen bezeichnet, die Finanz- dienstleistungen für Arme anbieten, unter anderem Mikrokredite. Diese gelten bisher pauschal als ökologisch und sozial nachhaltig; deshalb mach- ten bereits 2005 SRI-Anlagen fast die Hälfte der Refinanzierungen aus.

[…] Die rasche Expansion des Ge- schäfts mit Mikrokrediten in den letz- ten Jahren hat aber auch zu einer Ausdifferenzierung zwischen primär sozialpolitisch motivierten Mikrokre- diten einerseits und vor allem kom- merziell orientierten andererseits ge- führt, so dass eine pauschale Beurtei- lung inzwischen unmöglich ist. Mikro- kredite sollten deshalb nicht nur nach dem Kreditbetrag, sondern in erster Linie nach ihrer sozialen Qualität de- finiert werden: Befähigen sie die Ar- men, sich selbst aus der Armut zu be- freien?

Auch wenn der Anlageausschuss nicht zu einer abschließenden Beur- teilung kam, ist doch festzuhalten: Es kann nicht davon ausgegangen wer- den, dass Mikrofinanz-Fonds grund- sätzlich positiv zu beurteilen sind;

deshalb ist es notwendig, entspre- chende Kriterien zu entwickeln. Ab- gesehen davon kam der Anlageaus- schuss zu der Einschätzung, dass sich Mikrofinanz-Institute nach dem im Grunde positiv bewerteten Grameen- Modell des Friedensnobelpreisträ- gers Muhammad Yunus im Wesent- lichen regional refinanzieren und auf die globalisierten Kapitalmärkte nicht angewiesen sind.

Uwe Kleinert

Ökovision

Verantwortlich investieren in

Elektronikfirmen und Mikrokredite?

Seit den Anfängen des ökologischen Aktienfonds ÖKOVISION – seinerzeit noch unter der Ägide der Ökobank – arbeitet Uwe Kleinert im unabhängi- gen Anlageausschuss des Fonds mit. Auch für 2009 schrieb er den Jahres- bericht des Ausschusses, den wir im Folgenden leicht gekürzt dokumen- tieren.

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Manchmal sind es Nebensächlich- keiten, die ein bezeichnendes Licht auf Verhältnisse werfen. Chin By Ang, die vom Februar bis April 2010 ein Praktikum bei der Werkstatt Ökono- mie gemacht hatte, und ich waren seit drei Tagen mit elf Mitarbeitenden chinesischer Umweltorganisationen in Berlin unterwegs. Wir hatten span- nende Begegnungen mit Nichtregie- rungsorganisationen und Mitgliedern des Deutschen Bundestages hinter uns. Hatten ein kleines touristisches Programm absolviert – die Sammlun- gen des Deutschen Historischen Mu- seums waren bei unseren chinesi- schen Gästen auf großes Interesse gestoßen – und viele gute Gespräche geführt – und jetzt diese Kritik: Es sei ja alles ganz schön, meinten einige unserer Gäste, aber doch alles ein we- nig chaotisch. Ich hakte nach: chao- tisch? Wieso? Ja, bekam ich zur Ant- wort, ich hätte ja schon einige Male im Blick auf Freizeitgestaltung und Restaurantbesuche Alternativen vor- geschlagen. Sie verstünden nicht, weshalb ich nicht einfach sagen wür- de, was gemacht werden solle. Ich war erstaunt – waren doch unsere Gäste vor allem junge und in jedem Falle engagierte und temperament- volle offene Mitarbeitende chinesi- scher Umweltorganisationen, was oh- ne Zweifel für ihren Mut sprach. Dis- kussionsfreudig waren sie auch. Und dennoch geprägt von der Erwartung, dass ein älterer Führer die Richtung vorgibt … Manchmal zeigen sich kul- turelle Unterschiede nicht sofort … Großes Interesse an deutschen Klimaschutzaktivitäten …

Allzu oft aber sollten unsere Gäste aus China keinen Anlass zur Diskus- sion von Programmalternativen ha- ben. Denn die elftägige Rundreise und die abschließende dreitägige internationale Fachkonferenz waren übervoll mit Begegnungen und Ge- sprächen. Dies war ja auch die Ab-

sicht des europäisch-chinesischen zi- vilgesellschaftlichen Begegnungs- und Austauschprogramms „Nach dem Scheitern von Kopenhagen:

Wege zur Nachhaltigkeit und zu Volkswirtschaften mit niedrigen Treibhausgasemissionen in Euro- pa und China“, das die Werkstatt Ökonomie vom 17. Juni bis 1. Juli 2010 im Auftrag des europäischen Netzwerkes EU-China Civil Society Forumdurchführte. In elf Tagen konnten in Berlin, Bonn, Köln und Düsseldorf bei 17 Begegnungen Ge- spräche mit Mitarbeitenden von 21 zi- vilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen, mit Mitgliedern des Deutschen Bundestages und mit Mitarbeitenden der Bundesministe- rien für Umwelt, Naturschutz und Re- aktorsicherheit und für wirtschaftli- che Zusammenarbeit und Entwick- lung geführt werden.

Das Spektrum der besuchten Or- ganisationen war breit – vom Ver- kehrsclub für Deutschland (VCD) über Verbraucherorganisationen bis hin zu konfliktfreudigen Umweltiniti- ativen. Denn eines der Ziele des Be- gegnungsprogrammes war es, unse- ren chinesischen Gästen einen Über- blick über die vielfältigen und durch- aus unterschiedlichen Aktivitäten in Deutschland zum Klimaschutz zu ge- ben. Eher theoretisch-analytische Diskussionen waren darunter – oder sehr praxisbezogene Ansätze. Letzte- re begeisterten unsere Gäste am meisten – ob es die VCD Auto-Um- weltliste, die VCD-Kampagne fürs Radfahren (das Bild eines jungen Ma- nagers, der mit Anzug und Krawatte ins Büro rast, machte großen Ein- druck) oder die Energieberatung der Verbraucherzentrale Nordrhein- Westfalen war: Je praxisbezogener die Arbeit, desto mehr Interesse brachten ihr unsere Gäste aus China entgegen. Dies ging so weit, dass sie eine künftige Kooperation mit Ver- braucherorganisationen bei Klima-

schutzmaßnahmen wünschten … In diesem Sinne bezeichneten einige der chinesischen Gäste den Besuch eines Passiv-Bürogebäudes in Köln als Hö- hepunkt – gänzlich fasziniert von der ausgeklügelten klimafreundlichen Technik.

… aber nur begrenztes Interesse an der Arbeit der chinesischen Umweltorganisationen

In dieser Hinsicht war also das Be- gegnungs- und Austauschprogramm zum Klimaschutz und zu dessen sozi- alen und wirtschaftlichen Vorausset- zungen überaus erfolgreich. Weniger gelungen war aber der Versuch, zu ei- nem wechselseitigen Austausch von Mitarbeitenden deutscher und chine- sischer Klimaschutzinitiativen auf gleicher Augenhöhe zu kommen.

Zwar waren die im Vorfeld der Be- suchsreise angefragten deutschen Organisationen sehr rasch, unkompli- ziert und gerne zu Treffen mit den chinesischen Gästen bereit, doch die meisten dieser Treffen wurden von den deutschen Teilnehmenden be- herrscht. Begeistert erzählten sie von ihrer Arbeit und freuten sich erkenn- bar über das Interesse der chinesi- schen Gäste. Umgekehrt aber zeigten sie häufig nur ein verhaltenes Interes- se an der Arbeit der chinesischen Ak- tivistinnen und Aktivisten.

Das war erstaunlich, repräsentier- ten doch unsere überwiegend jungen Gäste – die Hälfte von ihnen noch nicht einmal 30 – die rasch wachsen- de chinesische Umweltbewegung, die in Deutschland kaum bekannt ist. Ei- ne Journalistin (des Wirtschaftsjour- nals Caijing) und drei Journalisten (von China Development Briefund Chinadialogue) waren dabei, eine Professorin, die das Global Environ- mental Institutein Beijing leitet, der Koordinator des chinesischen Ju- gendklimanetzwerkes (China Youth

EU-China Civil Society Forum

Europäisch-chinesisches Begegnungsprogramm zum Klimaschutz

Klaus Heidel

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Climate Action Network), der junge Direktor einer regionalen Basisorga- nisation (Green Anhui)oder die Di- rektorin eines Netzwerkes gegen den Missbrauch von Pestiziden (Pestici- de Eco-Alternatives Center). Sie alle konnten spannende Geschichten über die mutige Arbeit der jungen chinesischen Umweltbewegung er- zählen, die sich zunehmend für den Klimaschutz engagiert. Überhaupt ist in China – ganz im Gegensatz zu der bei uns vorherrschenden Ansicht – der Klimawandel ein hochaktuelles Thema.

Immerhin bot dann die zweiein- halbtägige internationale Konferenz zum Abschluss des Begegnungspro- grammes eine gute Möglichkeit zum Austausch. Auffällig war auch bei der Konferenz, dass sich die chinesischen Gäste mehr für praktische Fragen als für theoretische Analysen interessier- ten. Der (für mich sehr spannende) Vortrag der britischen Volkswirtin Dr.

Victoria Johnson von der New Econo- mics Foundationüber die Notwen- digkeit einer Postwachstums-Gesell-

schaft mit sehr niedrigen Treibhaus- gas-Emissionen wurde zwar mit wohlwollendem Interesse angehört, führte aber nicht zu Debatten über Entwicklungspfade und darüber, ob China Wirtschaftswachstum brauche.

Umgekehrt nutzten die chinesischen Gäste die Arbeitsgruppe über einen klimaverträglichen nachhaltigen Le- bensstil für einen lebhaften Aus- tausch mit Mitarbeitenden von Ver- braucherorganisationen.

… und die Lehren: Grenzen und Möglichkeiten europäisch-chinesi- scher Kooperationen

Insgesamt ermutigte das Aus- tausch- und Begegnungsprogramm dazu, den Austausch europäischer und chinesischer zivilgesellschaft- licher Organisationen, die sich für Kli- maschutz und Klimagerechtigkeit einsetzen, auszuweiten und gar eine Vernetzung anzustreben. Allerdings sind dabei einige Einsichten zu be- rücksichtigen, die (auch) aus dem Austausch- und Begegnungspro- gramm gewonnen werden können:

● Der gegenseitige Informationsbe- darf ist beträchtlich und erfordert ein ausführliches Austauschprogramm.

Die Zusammenarbeit europäischer und chinesischer zivilgesellschaft- licher Organisationen im Blick auf den Klimaschutz steht erst am An- fang.

● Die Mitarbeitenden chinesischer Umweltorganisationen äußerten ihr deutliches Interesse, mehr über die Arbeit europäischer Umweltorganisa- tionen zu erfahren, da sie bisher vor allem Kontakte zu US-amerikani- schen, kaum aber zu europäischen Umweltorganisationen gehabt hätten.

Dies empfänden sie als Defizit, da sie den Eindruck gewonnen hätten, dass es lohnend sei, von europäischen (und vor allem von deutschen) Um- welt- und Klimaschutzaktivitäten zu lernen.

● Fragen des Klimaschutzes sind für viele chinesische zivilgesellschaftli- che Umweltorganisationen prioritär.

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Die Europäische Union hat sich durch ihre Osterweiterung in den Jahren 2004 und 2007 von Grund auf verändert: Bei keiner Erweiterungs- runde zuvor sind so viele Länder der Gemeinschaft beigetreten, deren Wirtschaftskraft und wohlfahrtstaatli- ches Niveau so weit unter dem bishe- rigen EU-Durchschnitt lagen wie dies bei den neuen mittel- und osteuro - päischen Mitgliedsländern der Fall ist, wenn wir von Slowenien absehen.

Dieses gewaltige wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen den alten und neuen EU-Mitgliedsländern führt dazu, dass heute die Europäische Union kein einheitlicher Wirtschafts- und Sozialraum mehr ist. Gleichzeitig aber gelten einheitliche Wettbe- werbsregeln, denen von der EU und ihren Mitgliedsländern weitgehend Vorrang vor den Bestimmungen der nationalen Wirtschafts- und Sozial- ordnungen eingeräumt wurden. Da- durch ist eine neue europäische Ar- beitsteilung entstanden, die die natio- nalen Arbeitsverfassungen und Sozi- alsysteme unter Druck setzt. Hierauf verweist das Jahrbuch Gerechtigkeit IV, das von 35 Kirchen, kirchlichen Werken, Diensten und Organisatio- nen herausgegeben wird und im März 2010 erschienen ist.

Die neue europäische Arbeitsteilung

Ausdruck der neuen europäischen Arbeitsteilung sind erstens Verlage- rungen von Arbeitsplätzen aus den alten in die neuen EU-Mitgliedsländer, mit denen Unternehmen die niedrige- ren Arbeitsstandards in den neuen EU-Mitgliedsländern ausnutzen. Zwei- tens entsenden Unternehmen aus den neuen EU-Mitgliedsländern Arbeits- kräfte in die alten Mitgliedsländer der EU zu heimischen Bedingungen, wo- durch sie Wettbewerbsvorteile haben, garantiert durch die Niederlassungs- freiheit. Drittens kommt es zu einer

zweifachen Ost-West-Arbeitsmigra- tion: von den neuen hin zu den alten EU-Mitgliedsländern und von osteuro- päischen Ländern außerhalb der EU in die mittel- und osteuropäischen EU- Mitgliedsländer. Alle drei Entwicklun- gen bedrohen Arbeitsstandards und Sozialniveaus in den alten EU-Mit- gliedsländern.

Hierbei führte das starke soziale und wirtschaftliche Gefälle zwischen den alten und neuen EU-Mitglieds- ländern nur deshalb zur Herausbil- dung einer neuen europäischen Ar- beitsteilung zu Lasten von Sozialord- nungen, weil die Mitgliedsländer und die Organe der EU die Osterweite- rung nicht mit neuen integrationspo- litischen Initiativen verbunden hat- ten, wie zum Beispiel einer Stärkung der nationalen Sozialsysteme und Ar- beitsverfassungen so wie der Schaf- fung europäischer Rahmenrichtlinien zur Absicherung sozialer Standards.

Solche Initiativen wären aber erfor- derlich gewesen, weil die rechtliche Ausgestaltung der EU vor der Oster- weiterung nicht auf einen Wirt- schafts- und Sozialraum mit erheb- lichen Niveauunterschieden ausge- legt war. Ausgehend von einer Ge- meinschaft von Staaten mit ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Ni - veaus, räumt die Rechtsordnung der (alten) EU der wirtschaftlichen Inte- gration durch die vier so genannten

„Grundfreiheiten“ (freier Verkehr für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen) Vorrang ein, für ihre Durchsetzung sind heute allein die Organe der EU zuständig. Die Sozial- und Arbeitsverfassungen aber ver- blieben weit gehend in der Zuständig- keit der EU-Mitgliedsländer. Dies be- deutet, dass die zentralen sozialstaat- lichen Kompetenzen der Mitglieds- länder der EU ihre Grenzen an den Konkretisierungen der europäischen Wettbewerbspolitik durch die Organe der EU finden.

Eine Konsequenz dieser asymme- trischen Gestaltung der Rechtsord- nung der EU ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes: Da er sich als Hüter der europäischen Verträge versteht, sieht er sich veran- lasst, den Kern dieser Verträge durchzusetzen – und dies sind nun einmal die „Grundfreiheiten“ und das Wettbewerbsrecht neben den Be- stimmungen über die Wirtschafts- und Währungsunion. Daher hat der europäische Gerichtshof in jüngster Zeit in mehreren Urteilen den Vor- rang der vier Grundfreiheiten vor Be- stimmungen nationaler Arbeits- und Sozialverfassungen festgestellt. In diesem Sinne wurde dem Land Niedersachsen vom Gerichtshof untersagt, die öffentliche Vergabe ei- nes Auftrages von der Einhaltung ta- rifvertraglich vereinbarter Mindest- löhne abhängig zu machen, denn die europäische Dienstleistungsfreiheit dürfe nicht durch Schutzbestimmun- gen eingeschränkt werden, die über Mindeststandards hinaus gingen.

Vor diesem Hintergrund fordern die Herausgeber des Jahrbuches Ge- rechtigkeit IV zu neuen integrations- politischen Initiativen auf: Gerade weil die EU den Kern einer Verwirkli- chung der großen Vision vom „Ge- meinsamen Haus Europa“ bilden könnte, muss alles unternommen werden, um die soziale und wirt- schaftliche Spaltung der EU zu über- winden. Wie dringlich das ist und wel- che Ausmaße die Spaltung der EU hat, zeigt das Jahrbuch Gerechtigkeit IV mit 25 Aufsätzen und zahlreichen Schaubildern und Karten. So heißt es in einer Stellungnahme des Ökumeni- schen Rates der Kirchen in Ungarn:

„Aufgrund der wirtschaftlichen Ver- änderungen nach dem EU-Beitritt und der Explosion der Preise (für Energie, Dienstleistungen und Güter zur Deckung des Bedarfs für den Le- bensunterhalt), diktiert von der und Jahrbuch Gerechtigkeit IV

Vorrang für die soziale Integration Europas

Kirchen fordern zur Überwindung der neuen europäischen Spaltung von Ost und West auf

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➜ entfesselt durch die Eigengesetzlich- keit des Marktes, spürt die ungari- sche Bevölkerung heute nicht nur nichts von den Segnungen der verhei- ßenen ‚Wohlstandsgesellschaft’, sie erfährt nicht einmal den Schutz des Staates.“

Jahrbuch Gerechtigkeit „geht nach Europa“

Angesichts der sozialen und wirt- schaftlichen Ost-West-Spaltung der EU kann Armutsbekämpfung in der EU nur gelingen, wenn die soziale In- tegration gestärkt und hierzu das europäische Primär- und Sekundärrecht und das Insti- tutionengefüge der EU weiter entwickelt werden. Dies er- fordert die Mobilisierung öf- fentlicher und damit zivilge- sellschaftlicher Unterstüt- zung in allen EU-Mitglieds- ländern, dies umso mehr, weil sich gerade in den neuen EU- Mitgliedsländern Enttäu- schungen über den EU-Be- tritt und eine EU-Müdigkeit breit zu machen drohen. Da es aber zur europäischen Ei- nigung keine Alternative ge- ben darf – dies lehrt bereits ein Blick in die von Kriegen geprägte europäische Ge- schichte – ist dies eine ge- fährliche Entwicklung.

Vor diesem Hintergrund rufen die Herausgeber des Jahrbuches Gerechtigkeit IV die europäischen Kirchen da- zu auf, sich mit Entschieden- heit für die Stärkung der sozialen In- tegration der EU einzusetzen. Eine Voraussetzung hierfür ist eine Inten- sivierung des europäischen ökumeni- schen Gespräches über die Ausge- staltung der europäischen Sozialord- nung. Dieses Gespräch ist nicht ein- fach und steht in mancher Hinsicht noch am Anfang, haben doch die Kir- chen in den alten und neuen EU-Mit- gliedsländern häufig sehr unter- schiedliche Vorstellungen über die Rolle des Staates und über soziale Ordnungen. Noch sitzt bei vielen Kir-

chen in den ehemals kommunisti- schen Ländern das Misstrauen gegen den Staat tief, das hatte auch die eu- ropäische Konsultation zur Vorberei- tung des Jahrbuches Gerechtigkeit IV in Wien im Februar 2009 gezeigt.

Deshalb haben die Herausgeber des Jahrbuches Gerechtigkeit IV – zu ihnen zählen mit der Kommission Kir- che und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und der Katholischen Sozialakademie Öster- reichs erstmals zwei kirchliche Orga- nisationen außerhalb Deutschlands –

den Versuch unternommen, sich in das europäische ökumenische Ge- spräch einzumischen. So wurden eine Konferenz der Konferenz Europäi- scher Kirchen und des neuen CALL- Netzwerkes (Church Action on La- bour and Life) zum Thema „A Call for Change. Towards a Just, Sustainable and Smart European Economy“ vom 28. bis 30. April 2010 in Brüssel vom Kirchlichen Herausgeberkreis Jahr- buch Gerechtigkeit mitgetragen und das Jahrbuch bei dieser Konferenz zumindest kurz vorgestellt.

Wesentlich größer war die Rolle, die das Jahrbuch Gerechtigkeit IV bei der Konsultation des Ökumenischen Rates der Kirchen und der Konferenz Europäischer Kirchen „Armut, Reich- tum und Ökologie in Europa“ vom 8.

bis 12. November 2010 in Budapest spielte. Bei dieser Konsultation, die einen wichtigen Schritt hin zur Vor- bereitung der 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Südkorea 2013 darstellt, gehörte die englische Kurzfassung des Jahr- buches Gerechtigkeit IV zu den offi- ziellen Tagungsdokumenten. Die

Kernthesen des Jahrbuches stellte Klaus Heidel im Plenum vor, und die Arbeitsgruppe zu Armut und Reichtum in Europa diskutierte Thesen des Jahrbu- ches.

Dass die Anregungen des Jahrbuches Gerechtigkeit auch außerhalb Deutschlands aufge- griffen werden, wird auch daran deutlich, dass die ungarischen Kirchen in ihre Dokumentation, die sie aus Anlass der ungari- schen EU-Ratspräsidentschaft 2011 vorlegen, eine ungarische Übersetzung des Kirchlichen Diskussionsbeitrages – des von den Herausgebern des Jahrbu- ches gemeinsam verantworteten zentralen Textes also – aufneh- men.

Auch in Deutschland war das Jahrbuch Gegenstand mancher kirchlicher Konferenzen, so be- schäftigte sich die Jahrestagung des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt mit den Kernthesen des Jahrbuches. Dass allerdings das The- ma Europa trotz dieses Interesses zurzeit keine Konjunktur hat, zeigen die erschreckend niedrigen Verkaufs- zahlen des Jahrbuches Gerechtigkeit IV, die bisher über 1.200 Exemplare nicht hinausgekommen sind…

Klaus Heidel

Zum Jahrbuch Gerechtigkeit siehe auch die Beiträge auf Seite 16.

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Am 21. September fand der Mil- lenniumsgipfel der Vereinten Natio- nen statt. Er wurde von einer erkenn- baren Schuldzuweisung zwischen Ge- ber- und Nehmerländern geprägt. Wie das oft der Fall ist, war auch diese Schuldzuweisung ein Zeichen des Scheiterns. In der Tat fällt die Bilanz der MDGs sehr mager aus. Dies war vorhersehbar, meinen viele Kritiker.

Die Millenniumserklärung und die Millenniumsziele

Unter dem Dach der Vereinten Nationen einigte sich die internatio- nale Gemeinschaft im Jahr 2000 auf konkrete gemeinsame Entwicklungs- ziele. Auf dem so genannten Millenni- umsgipfel zogen „die Staats- und Re- gierungschefs der Welt Bilanz über den ungleichen Stand der mensch- lichen Entwicklung auf der Welt und bekannten sich zu ihrer gemein- schaftlichen Verantwortung, weltweit die Grundsätze der Menschenwürde und der Gleichberechtigung zu wah- ren“ (UN-Entwicklungsprogramm 2002). Sie erklärten ihre Unterstüt- zung für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte und formulierten darüber hinaus acht Ziele für Ent- wicklung sowie zur Beseitigung der Armut, die bis zum Jahr 2015 erreicht sein sollten. Inzwischen sind zehn Jahre verstrichen und die Bilanz sieht ernüchternd aus. Sind die Millennium Development Goals (MDGs) noch zu erreichen und unter welchen Bedin- gungen?

Umsetzung und Bedeutung des Millenniumsprojektes

In seinem Vortrag auf der ersten Bonner Konferenz für Entwicklungs- politik vom 4. bis 6. November 2007 stellte Tajudeen Abdul-Raheem, UN- MDG-Beauftragter für Afrika, die Fra-

ge, was denn das Besondere an den MDGs sei. Es sei nichts Ungewöhnli- ches, fuhr er fort, wenn eine Regie- rung ihre Bevölkerung gut ernährt, Gesundheitsversorgung für alle und besonders für Kinder und Mütter so- wie Schulbildung gewährleistet oder für Geschlechtergerechtigkeit und Einhaltung von Umweltstandards eintritt. Wenn eine Regierung diese elementaren Bedürfnisse nicht erfül- len könne oder zumindest die Erfül- lung dieser Bedürfnisse nicht auf der Tagesordnung stehe, habe sie keine Daseinsberechtigung. Ressourcenrei- che Länder wie Angola und Nigeria, fuhr er fort, sollten mehr erreichen, als die minimal gestreckten Millenni- umsziele vorgeben.

Ein Blick auf den Stand zehn Jah- re nach Verabschiedung der MDGs zeigt in vielen Ländern, besonders in Afrika, dass, so elementar diese Auf- gaben auch sind, viele Regierungen weit davon entfernt sind, sie wahrzu- nehmen, geschweige denn zu erfül- len. Diese Erkenntnis zeigt die Wich- tigkeit der MDGs im entwicklungspo- litischen Diskurs. Nicht umsonst ha- ben sich die MDGs als dominantes Referenzsystem für die entwicklungs- politische Diskussion und Programm- atik etabliert. Ihre Ziele mögen be- scheiden erscheinen, aber an ihnen kann die Arbeit von nationalen Regie- rungen, Zivilgesellschaften und inter- nationalen entwicklungspolitischen Organisationen gemessen werden.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, einen Blick auf die Be- deutung der MDGs für „Eine-Welt- Gruppen“ in Deutschland zu werfen.

Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass die Reaktionen auf das Millenni- umsprojekt bei Basisgruppen sehr unterschiedlich und immer abhängig vom Grad ihrer Politisierung waren

und sind. Während viele Gruppen sich durch das Millenniumsprojekt in ihrem grundbedürfnisbasierten An- satz bestätigt fühlen, da sie auf den Gebieten, die die Millenniumsziele betreffen (Überwindung von Hunger, Bildung, Gesundheit, Geschlechter- gerechtigkeit, Aufbau von Partner- schaften) seit mehreren Jahren aktiv sind, fragten sich viele, warum denn Politiker versuchten, etwa durch das Aktionsprogramm 2015 der Bundes- regierung und durch Länderprogram- me zur Finanzierung von MDG- Kam- pagnen, die Millenniumsziele für die Arbeit der „Eine-Welt-Gruppen“

schmackhaft zu machen. Noch kriti- scher war die Reaktion der Gruppen, die dem Millenniumsprojekt skep- tisch gegenüber standen und ihre Aufgabe höchstens darin sahen, die verantwortlichen Politiker immer wieder an die formulierten Ziele als ihre Selbstverpflichtung und Aufgabe zu erinnern, wobei sie an die Reali- sierbarkeit des Projektes nicht glaub- ten. Die Bilanz nach zehn Jahren gibt ihnen Recht.

Vorprogammiertes Scheitern Obwohl die MDG- Ziele minimalis- tisch sind, war ihr Scheitern vorpro- grammiert.1Die Bilanz nach zehn Jahren sieht beschämend aus. Trotz großer regionaler Unterschiede steht fest, dass bei Konstanthaltung aktuel- ler Trends kein einziges Land alle Zie- le erreichen wird. Interessant ist, dass wenn aktuell von Erfolgen die Rede ist, diese hauptsächlich auf Chi- na und Indien zurückzuführen sind, die den Empfehlungen internationa- ler Entwicklungsagenturen sehr skeptisch gegenüber stehen. Dies ist ein Hinweis auf die Wichtigkeit der nationalen Unabhängigkeit2in der Wirtschaftspolitik als Weg zum Erfolg in einer globalisierten Wirtschaft.

Dieser Artikel ist Dr. Tajudeen Abdul-Raheem gewidmet. Er war bis zu seinem tödlichen Unfall im Mai 2009 Koor- dinator der UN-Millenniumskampagne für Afrika. Als Generalsekretär des Global Pan African Movement hat er den Panafrikanismus sehr stark geprägt und hat viele Menschen mit seinen Ideen inspiriert. Möge er bei unseren Vorfahren Frieden finden.

UN-Millenniumsziele:

Fortführung einer schädlichen Illusion?

Boniface Mabanza

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Von Anfang an war die Finanzie- rung der Maßnahmen nicht gesichert, so dass die Glaubwürdigkeit des Pro- jektes von Beginn an auf dem Spiel stand. Die Notwendigkeit, die Finan- zierung der Millenniumsziele von den freiwilligen und schwankenden öf- fentlichen Entwicklungshilfezahlun- gen auf neue Finanzierungsquellen wie internationale Steuern (Transak- tionssteuern, Steuern auf Flugti- ckets) zu übertragen, wurde zwar er- kannt, aber nur ungenügend umge- setzt. Bei aller Notwendigkeit der Er- schließung neuer Finanzierungsquel- len für die Millenniumsziele muss be- tont werden, dass die Problematik der Massenarmut nicht auf die Mobili- sierung finanzieller Ressourcen zum Kurieren von Armutssymptomen re- duziert werden darf.

Viel wichtiger sind Fragen nach strukturellen Ursachen der Armut auf nationaler wie globaler Ebene, die et- wa lauten: Durch welche Mechanis- men werden die Armen innerhalb ih- rer Länder vom vorhandenen Wohl- stand ausgeschlossen? Ermöglichen die herrschenden Strukturen im Welthandel den armen Ländern, das zu erreichen, wofür eigentlich Poten- tiale vorhanden sind? Die Antwort auf diese Fragen liegt nicht in der Erhö- hung der Entwicklungshilfe. Die Kon- zentration auf Entwicklungshilfe und Mobilisierung von mehr Finanzmit- teln hat eine verschleiernde Funk- tion. Sie soll vergessen lassen, dass die Armutsbekämpfung und deren Ursachenbekämpfung zu wenig im Mittelpunkt internationaler Anstren- gungen stehen. Stattdessen dominie- ren die wirtschaftlichen und politi- schen Interessen der Geber und der Eliten in den armen Ländern. Parti- kulare und kurzfristige Interessen verhindern eine wirksame Ausein- andersetzung über die Notwendigkeit einer friedensorientierten globalen Politik.

Geht die Illusion weiter?

Die Millennium Development Go- als sind nicht mit einer Partner- schaftsrhetorik, sondern mit einer Wirtschaftspolitik zugunsten der Ar- men zu realisieren: „Der erfolgreiche Kampf gegen Armut ist nicht mit Ver- sprechungen wie der Halbierung der Armut zu gewinnen (...). Erst wenn

die Welthandelspolitik die ärmeren Länder nicht einfach als Märkte für die Reichen betrachtet, sondern als gleichberechtigte Partner akzeptiert, denen man für eine bestimmte Zeit Entwicklungsvorteile einräumen muss, erst dann wird der Welthandel nicht nur zu mehr Wachstum, son- dern auch zu mehr Gerechtigkeit bei- tragen (...). Darüber hinaus muss je- de Entwicklungsstrategie daran ge- messen werden, wie sie die ärmeren Bevölkerungsschichten beteiligt und was sie ihnen bringt.“3

Die Politik des Nordens und der Eliten in den betroffenen Ländern lei- det an einem Mangel an Glaubwürdig- keit: Es fehlt an Kohärenz, wenn viele Leitlinien der Politik in eklatantem Widerspruch zum Erreichen der UN- Millenniumsziele stehen. Als Beispie- le können Trips-Abkommen, die das Recht auf Gesundheit, und Fischerei- Abkommen, die die Ernährungssou- veränität in vielen Regionen gefähr- den, genannt werden. Außerdem zer- stören Liberalisierungsmaßnahmen die Existenzgrundlagen von Klein- produzenten, indem sie zu deren Ver- drängung von lokalen Märkten füh- ren. Auch zu erwähnen sind Ent- schuldungsmaßnahmen auf Kosten von Bildung und Gesundheit. Die be- hauptete neue Sensibilität der neuen Konditionalitäten für die Entschul- dung ist nur ein Lippenbekenntnis.

Nach wie vor verhindern Sparmaß- nahmen im Rahmen der Entschul- dung die Fortschritte in zentralen Be-

reichen wie Bildung, Gesundheit und sogar Ernährung – und damit die Er- reichung der Millenniumsziele. In diesem Bereich sind tatsächlich inno- vative Perspektiven genauso notwen- dig wie eine grundlegende Reform, die die Handelspolitik in Einklang mit Selbstbestimmung und sozialem Fortschritt bringt, eine wesentliche Bedingung für das Erreichen der Mil- lenniumsziele ist.

Erforderlich sind auch Bemühun- gen, ökonomische Globalisierungs- prozesse in sozial und ökologisch ver- träglicher Weise zu steuern und auf nationaler Ebene grundlegende ge- sellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen. Ebenso muss die In- strumentalisierung der Millenium- sziele für opportunistische Zwecke überwunden werden: „Unter dem Deckmantel des MDG-Diskurses hat sich inzwischen ein neoliberaler Kon- sens verfestigt, der Handelsliberali- sierung und Privatsektorbeteiligung als die zentralen Instrumente der Ar- mutsbekämpfung begreift – ganz im Interesse der Global Player (…). Die Millenniumsziele zwingen den Län- dern ökonomische Maßnahmen auf, die bereits überall dort, wo sie als Mittel zur Armutsbekämpfung umge- setzt wurden, gescheitert sind. Es geht also nur um Kosmetik oder um die Bekämpfung von Symptomen, die ein Wirtschaftssystem erzeugt hat, das strukturell Armut schafft.“4

Ohne Überwindung solcher Wider- sprüche ist das Festhalten am Millen- niumsprojekt die Fortsetzung einer schädlichen Illusion.

1. Eric Toussaint, Millenniumsziele – die schädliche Illusion, in: Le Monde diplomatique (Hg.), Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt, Berlin 2006, S. 104-105 2. Joshua Cooper Ramo formuliert in seinem Werk

„The Beijing Consensus“ drei Grundregeln für die Länder des Südens: Innovationen fördern; nicht nur an die Steigerung des Bruttosozialprodukts denken, sondern auch an die Verbesserung der Lebensqualität, das heißt: eine gewisse Form von Gleichheit anstreben als Voraussetzung für Ordnung und sozialen Frieden; nationale Unab- hängigkeit wahren und Selbstbestimmung, ver- bunden mit der Weigerung, anderen Ländern (vor allem den Westmächten) die Vorherrschaft zu überlassen.

3. W. Kessler, Weltbeben. Auswege aus der Globali- sierungsfalle, S. 166

4. E. Toussaint, Millenniumsziele – die schädliche Il- lusion, in: Le Monde diplomatique, Atlas der Glo- balisierung, Berlin 2006, S. 105

Boniface Mabanza

Referenzen

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